Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Dieser Winter | Als ich durchs Dorf ging, dachte ich: Dieser Winter ist nicht so schlimm wie die letzten Winter.

Es ist nun schon Mitte Februar, und es scheint, als fehlten diesem Winter die endlosen Tage der Trübnis, das sehnsüchtige Warten auf die ersten Winterlinge, auf die Schneeglöckchen und die Krokusse. Denn ohne, dass ich sie bereits ersehnt habe, sind sie plötzlich da, sogar gleichzeitig: Während am kleinen Sandbach die Schneeglöckchen wie ein Teppich daliegen, bekommen ein paar Meter weiter, im Straßengraben vor der Bahnschranke, schon Krokusse Besuch von Bienen.

Wenn ich sage, dieser Winter sei kürzer als andere Winter, meine ich mit diesem Winter meinen Winter, nicht Ihren Winter und auch nicht den Winter meiner Freunde oder Nachbarn; der mag anders sein. Mein Winter legt eine außerordentliche Geschwindigkeit an den Tag, hat kaum Längen und erstaunlich viele Freuden.

Vielleicht liegt es an den bislang recht umtriebigen Tagen, an den Reisen nach Köln und Karlsruhe, nach Berlin und Niedersachsen – und daran, dass ich zwischen und nach diesen Reisen das Zuhausesein genieße, auch wenn es draußen regnet und der Matsch im Garten steht.

Vielleicht liegt es auch daran, dass es außerordentlich warm ist; daran, dass sich kein kalter, regennasser Wind in die Kleidung drängt, dass er nicht eishagelkalt ins Gesicht prickelt, sondern dass ich zuletzt mit dem Rad in die Stadt fuhr, um Besorgungen zu erledigen, als sei es bereits Mai.


Niedersachsen | A propos Niedersachsen, dort war ich diese Woche – in einem Hotel weitab jedes Bahnhofs. Die schnellste Anfahrt mit dem Zug hätte 4 Stunden 30 gedauert; die letzten dreißig Minuten zu Fuß. Mit dem Auto war ich in eineinhalb Stunden dort, allerdings gestaltete es sich stimmungsvoll. Im Dämmerlicht des niedergehenden Tages führte mich die Navigation über Wirtschaftswege, auf Höfe und vor Weidezäune, während Schneegriesel einsetzte und das Fernlicht des Wagens Hasen jagte. Nach zwei gescheiterten Versuchen, zum Hotel durchzudringen, eine Pferdeweide vor der Motorhaube, schaute ich manuell auf die Karte, suchte mir einen Weg und navigierte selbst. Ich rumpelte über Kopfsteinpflaster an einem Kirchhof vorbei, vorbei an einem Fußballfeld und durch Tannenwald, in dem vergilbte Schilder mir mitteilten, dass ich nun richtig sei, und den Weg zum Hotel wiesen. Ein Reh stand am Wegesrand, ich umfuhr Schlaglöcher. „So beginnen Kriminalromane“, dachte ich. Kurz, nachdem wieder ein Hase den Weg gequert hatte, sah ich Licht durch die Bäume schimmern: das Hotel, die Fenster erleuchtet, auf dem Parkplatz funzelige Laternen. Ich rechnete fest damit, dass am kommenden Morgen einer der Gäste tot sei und es nur einer der übrigen gewesen sein konnte, einschließlich mir selbst. Doch, soweit ich weiß, überlebten alle die Nacht, und es tauchte kein Hercule Poirot auf.


Marktplatz | Der Marktplatz an einem Februarabend. K2, K3 und ich genehmigten uns ein Eis aus der neuen Eisdiele, schleckten es vor der Buchhandlung und betrachteten das Treiben, während wir darauf wartenen, hineingehen zu können. Aber das geht eben nicht mit einem Eis.

Die neue Eisdiele führt nicht nur Vanille und Schokolade, Stracciatella und Nuss, sondern auch Milchschnitteneis, Käsekucheneis und manchmal auch Waldmeister. Die Sorten sind stets andere; das Angebot wandelt sich nach Lust des Betreibers. Waldmeister ist eine Offenbarung; leider gab es die Sorte bislang nur einmal, kurz nach Eröffnung im September – und doch betrete ich die Eisdiele jedesmal in der Hoffnung, dass heute der Tag ist, an dem es wieder Waldmeister gibt.


Gelesen | Rónán Hession: Leonard und Paul, übersetzt von Andrea O’Brien. Es ist die Geschichte von Leonard und Paul, introvertierte Männer mit Beharrungsvermögen im Hotel Mama. Während Leonard immerhin einem Beruf nachgeht – er ist Ghostwriter für Kinderenzyklopädien -, verdingt sich Paul lediglich zwei Tage pro Monat als Aushilfspostbote. Das Buch wird beworben mit dem Worten: „Eine hinreißend charmante Lektüre, die nachdrücklich vor Augen führt, wie bereichernd es sein kann, sich auf den Nebenstraßen des Lebens zu bewegen.“ Auf den ersten Kilometern ist die Geschichte tatsächlich charmant; es macht Freude, Paul und Leonard kennenzulernen. Da allerdings auf den Nebenstraßen des Lebens wenig Verkehr ist, wird es nach der Hälfte der Strecke dramaturgisch dünn.


Familienfeier mit Bingo | Irgendwann später, wenn ich im Seniorenheim Zur Goldenen Abendsonne im Gemeinschaftsraum sitze, werde ich vorbereitet sein – vobrereitet auf Bingo-Abende.

Dann werde ich mein Bingo-Gehirn einschalten: den wohligen Zustand zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen dem aufwühlenden Hoffen auf die letzte passende Zahl, die nötig ist für einen triumphalen „Bingo!“-Ruf, und dem unbeschwerten Fallenlassen in die Situation, die allenfalls drei Gehirnzellen benötigt, um bewältigt zu werden.

Bingo-Karte mit einigen markierten Zahlen

Ich mag solche Aktivitäten, die einerseits kaum Geistesleistung benötigen, andererseits aber doch so viel Aufmerksamkeit fordern, dass ich an nichts andere denken kann. Außer an: N31. B25. G57. Neben Bingo gehört auch Puzzeln dazu; beim Puzzeln werden meine Hirnwellen lange, ruhige Schwünge. Dann denke ich nur Dinge wie: „Ein rotes Teil mit gelber Spitze. Das muss doch irgendwo sein. Ein rotes Teil … ah, da! … Nee, doch nicht.“

Bingo hat zwei Seiten: die des Teilnehmenden und die der Lottofee. Die Älteren von uns erinnern sich noch an Karin Tietze-Ludwig, die Dame mit dem goldenen Haar, die von den Wirtschaftswunderjahren bis zum Ende des Jahrtausends vor einer Maschine stand, die Kugeln rührte und dramatisch langsam ausspuckte – Kugeln, auf denen Zahlen standen, die Karin Tietze-Ludwig dann verlas, samstäglich zwischen sportschau und tagesschau.

Nachdem alle Kinder dran waren, durfte ich auch einmal die Maschine drehen und die Zahlen verlesen. Ich fühlte mich sehr karintietzeludwigig – und gleichzeitig gut vorbereitet für die Goldene Abendsonne.


Schweine | „Dum spiro spero“, sagte einst Cicero: Solange ich atme, hoffe ich. Und so hoffen sie, die Schweine, jeden Tag – auf Gemüse und Erbsenflocken, auf noch eine Erbsenflocke und auf Löwenzahn, der alsbald wieder ihr Lebens verschönern wird.


Gelesen | Letzte Male, erste Male

Gelesen | Müssen Jugendliche besser lesen lernen? – Eine kritische Bemerkung zu einer populären Forderung

Die entscheidende Frage ist, wie ein gutes Leben ohne die Lektüre schriftlicher Texte aussehen kann; wie gute Bildung gestaltet werden kann, wenn Jugendliche zuhause teilweise nicht mehr lesen; wie wir Werte verhandeln können, wenn wichtige Debatten auf audio-visuellen Plattformen stattfinden und nicht mittels gedruckter Texte geführt werden.

Vielleicht müssen also Jugendliche gar nicht mehr oder besser lesen, sondern wir müssen Wege finden, damit umzugehen, dass einige es nicht tun und trotzdem gebildete, gute Menschen sind.

Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, dass es eine Welt ohne das gedruckte Wort geben soll: ohne die Bücher mit ihren Geschichten, deren Bilder nicht von anderen gefilmt wurden, sondern im eigenen Kopf entstehen; ohne die Reportagen und Features, die Dossiertexte und Magazingeschichten, die uns einen Blick in die Welt Anderer anbieten, eine Welt, in die wir uns Wort für Wort vortasten – und dadurch nicht nur konsumieren, sondern selbst durchdenken. Außerdem:

Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist die Voraussetzung für die Analyse von komplexen Problemen und für einen Strom von Ideen und kritischem Denken. Sie ermöglicht eine sachlich fundierte öffentliche Debatte und eine sinnvolle kollektive Entscheidungsfindung. Je besser Individuen im Lesen geschult sind, umso besser können sie öffentliche Angelegenheiten kontrollieren und zu einer wirklich demokratischen Regierung beitragen.

José Moraís vom belgischen Center for Reasearch in Cognition and Neurosciences, in einem Beitrag der Max-Planck-Gesellschaft

Und sonst | Im Garten schlägt das Vogelfutter aus.

Vogelfutterstation vor einer Bretterwand, daneben ein Insektenhotel. Aus dem Futter wachsen grüne Stängel.

Fahrbericht | Seit drei Monaten wohnt nun Fred bei mir, der Tesla. Ein Model Y, Ergebnis eines längeren Entscheidungsprozesses. Fred und ich – die Kinder haben ihn so getauft, man kann ihm in seiner App einen Namen geben -, wir haben viel Freude miteinander. Manchmal leiden wir aber auch aneinander.

Die Freude: schönes Fahrgefühl, tolle Beschleunigung, Kameras gegen den toten Winkel, viel Platz für lange Beine, Sitzkomfort, Tesla Connect mit Spotify, Youtube und Podcasts, Stauraum hinten im Kofferraum und vorne unter der „Motorhaube“ und überall Supercharger zum Stromtanken.

Das Superchargen habe ich vor Kurzem das erste Mal ausprobiert und war geflasht. Ich habe Fred gesagt, wo ich hinfahren möchte, er baute einen Tankstopp ein und lotste mich zum Charger. Der wusste, dass ich ich bin – ich brauchte nur den Stromrüssel anschließen, schon lief es. Nach knapp zwölf Minuten war auch schon alles vorbei. Ich tankte 23 Kilowattstunden, das reichte für den Rest der Strecke. Die Kinder schauten währenddessen Youtube. Komfortabler als Benzin tanken (und ohne stinkende Hände).

Mit dieser Erfahrung frage ich mich: Warum bauen wir das nicht flächendeckend? Warum baut das Elon für seine Elon-Autos, aber nicht der Staat als Subventionsgeber für seine Bürger und Bürgerinnen? Wenn mehr Leute dieses Erlebnis haben dürften: Diese ganze Reichweitendiskussion wäre kein Thema mehr.

Manchmal leiden wir aber auch aneinander, Fred und ich. Denn Fred überschätzt seine Fähigkeiten als Autopilot. Wenn er mit Tempomat fährt und weitere Assistenzsysteme ins Spiel kommen, ist er bisweilen fehleranfällig. Manchmal bremst er beispielsweise unvermittelt, weil er denkt, er müsste Abstand halten. Etwa auf der Autobahn, wenn ich mit Tempomat auf der rechten Spur fahre und jemand in einer bestimmten Entfernung auf die Beschleunigungsspur einbiegt. Fred denkt dann: „Alarm! Kollision!“

In einer der vielen Ruhrgebietsbaustellen erreichte unser gemeinsames Autopilotenleid seinen Höhepunkt: auf der Straße weiße Streifen, daneben gelbe Streifen, ein inneres Armageddon für Fred und seinen Spurhalteassistenten. Als ich dann noch auf Baustellenbarken zufuhr (Abstandsautomatik!), um in einem sachten Links-Rechts-Schwung in die Baustelle einzufahren, piepte er nicht nur wie ein Irrer, sein Display begann auch, blau zu pulsieren. Bis er ganz still wurde. „Jetzt hat er sich aufgegeben“, dachte ich, „jetzt betet er nur noch stumm zu Elon.“

Ich habe nun alles an Autopilot, was geht, abgeschaltet. Seitdem geht es Fred und mir besser.


Fahrradtour im Februar | Die Klimakatastrophe treibt Blüten: Der Reiseleiter und ich fuhren die erste Fahrradtour der Saison – im Februar. Fünfzig Kilometer durchs Münsterland, ohne Mütze und Handschuhe, mit warmen Füßen. Verrückt!

Münsterländer Landhaus, Backstein mit blauen Fensterläden. Davor ein Maibaum und Bäume - und ein Fahrrad.

Das Rad kommt frisch aus der Werkstatt. Im Spätherbst war es zunächst in Werkstatt Eins: Die Schaltung hakelte, der Umwerfer warf die Kette vorne nicht mehr vom kleinsten aufs mittlere Ritzel. Die Werkstatt behob es – allerdings mit dem Feature, dass der Umwerfer die Kette zwar aufs mittlere, aber nicht mehr aufs größte Ritzel hob. Ich verschwitzte zu reklamieren und wandte mich ein paar Wochen später an Werkstatt Zwei. Sie machte darauf aufmerksam, dass – zusätzlich zum Fehler beim Umwerfer – der Bremszug zu kurz sei. Das stimmte: Seit ich den Lenker höher gestellt hatte, war der Bremszug auf Spannung. Ich beauftragte, den Bremszug gleich mit auszutauschen.

Als ich das Rad dann abholen sollte, machte ich – Lernkurve nach dem Erlebnis mit Werkstatt Eins – eine Probefahrt. Das unterwältigende Ergebnis: Die Schaltung schaltete immer noch nicht, zusätzlich bremste das Rad nun auch nicht. Ich lief vier Kilometer zu Fuß nach Hause. Beim zweiten Abholversuch bremste das Rad, aber Schaltung: weiterhin Fehlanzeige. Diesmal blieb ich so lange dort, bis die Sache behoben war. Der Werkstatt war das alles sehr unangenehm, und sie tat ihr Bestes. Wir sind nun Freunde, und ich bin glücklich.


Gesehen | Anatomie eines Falls. Habe mich gut unterhalten gefühlt. Tolle Schauspielleistung, spannende Kameraarbeit, gutes Drehbuch. Und das Popcorn im Kino war auch lecker.

Gesehen | The Crown. Ein würdiges Ende der Serie.


Schweine | Erbsenflockenerwartungen:

Meerschweine, die sich der Kamera entgegen strecken: Meerschwein Eins liegt dabei fast auf Meerschwein Zwei

Und sonst | Während ich in einem Hotelzimmer in Niedersachsen liege und „Hör mal, wer da hämmert“ schaue, lese ich, dass Taran Noah Smith, der den Sohn Mark spielt, jetzt Marinetechniker bei SpaceX ist.

Berlin Hauptbahnhof | Diese Woche stehe ich im Berliner Hauptbahnhof. Draußen regnet es, es ist kopfschmerzfrüh, ein zu warmer Februartag. Gestern Abend hat es noch geschneegrieselt, heute sind es schon wieder acht Grad. Ich habe mir einen Saft gekauft, für ein Brötchen ist es noch zu früh. In einer halben Stunde fährt mein Zug.

Der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung stellt sich neben mich, fragt mich nach Geld. Ich greife nach dem Portmonee, aber ich habe nur eine Hand frei. „Ich kann deinen Becher halten“, sagt er. Ich gebe ihm den Saftbecher und danach zwei Euro. Er ist 25, vielleicht 30 Jahre alt. Sein Blick ist weich, sein Haar dunkel, der Bart vielleicht fünf Tage alt.

„Kommst du von hier?“, fragt er und reicht mir den Saft zurück. Ich sage, dass ich gleich nach Hause fahre, ins Münsterland. Er komme aus Stuttgart, sagt er. Vor einigen Wochen sei er hergekommen, weil in Berlin alles besser sein solle. „Und?“, frage ich, „ist es das?“ Nein, antwortet er, überhaupt nicht. Aber Stuttgart sei auch nicht gut.

Er fragt, ob ich mit hoch zum Gleis komme. Dort könne er rauchen. Es ist das Gleis, auf dem ich abfahren werde. Wir gehen hoch und suchen uns einen Platz am Ende der Überdachung. Weiter vorne, sagt er, stehe immer eine Frau, die auch Zeitungen verkaufe. Es sei besser, weiter durchzugehen, sonst gebe es Ärger.

Er zündet sich eine Zigarette an. „Rauchst du auch?“, fragte er und hält mir eine Zigarette hin. Ich verneine. „Gut so“, meint er. „Ist doof und kostet Geld.“ Er werde von den Menschen oft gefragt, warum er nicht arbeite. Manchmal schrien sie es ihm als Befehl zu: „Geh arbeiten!“ – „Was antwortest du dann?“, frage ich ihn. Er zuckt mit den Schultern. Er habe gearbeitet, auf dem Bau. Aber er habe kein Geld bekommen und Angst gehabt vor den Serben. „Das waren schlimme Menschen.“ Zweimal habe er auf einer Baustelle gearbeitet, aber immer habe er das Geld nur unregelmäßig bekommen, manchmal gar nicht, und er habe sich gefürchtet. Jetzt lebe er in einem Zelt. Einmal, sagt er, habe ein Mann es sehen wollen, das Zelt. „Er hat mir nicht geglaubt. Er dachte, ich betrüge.“ Da habe er den Mann zu seinem Zelt geführt, er habe es sich angesehen und ihm zwanzig Euro geschenkt. „Das war nett. Aber es war ein komischer Mann.“

Ich frage ihn, ob er Freunde habe. „Nein“, sagt er. „Du?“ Ich bejahe. „Das ist gut“, sagt er. Zwischen den Worten stehen wir da und schauen, wie Züge einfahren, wie Menschen aussteigen, wie sie einsteigen, wie sie fort fahren und verschwinden. Ich frage ihn, ob er demnächst woanders hin möchte. Er zuckt mit den Schultern. „Manchmal kriegst du Hilfe hier“, sagt er und nennt eine Straße. „Dort kannst du hingehen.“ Er werde wohl noch bleiben. Denn wohin sonst? Fünfzehn Euro habe er gestern eingenommen, das reiche für Essen und seine Zeitungen und manchmal für eine neue Schachtel Zigaretten. Aber es sei mühsam.

Am Ende fragte er nach meinem Kontakt, fragt, ob er ihn auf dem Handy einspeichern dürfe. „Nein“, sagte ich, „das möchte ich nicht.“ Er nickt. Dann hält er mir die Ghettofaust hin. „Ich muss jetzt los“, sagt er. Ich stupse dagegen. und sage: „Alles Gute.“ – „Dir auch“, sagt er. Dann verschwindet er die Rolltreppe hinab.


Gelesen | Kathrine Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Ein kleines und doch ganz großes Buch, 80 Seiten, veröffentlicht erstmals im Jahre 1938. Ein Briefroman, der die Freundschaft zwischen zwei Geschäftsleuten in den Monaten um Hitlers Machtübernahme schildert, der Eine ein deutscher Geschäftsmann, der Andere ein emigrierter Jude. Kein Satz zu viel, keiner zu wenig, mit intelligentem Twist.


Wannsee | Den Bahnhof Wannsee mag ich sehr – und auch dieses Foto mit den zwei gelangweilten Tauben:

Weg zu den Gleisen im Bahnhof Wannsee, darüber eine Taube auf einer Uhr und eine auf einem Sims.

Große Freude erlebte ich, als ich den Tunnel zu den Gleisen entlang ging. Unverhofft begegnete mir der Designer und Illustrator Christoph Niemann, dessen Arbeit ich gern mag:

Niemann-Mosaik im Bahnhof Wannsee

Partytante | Anfang Februar steht immer ein wichtiger Termin an: Geburtstag des kleinen Patenmädchens. Wobei: So klein ist es mittlerweile nicht mehr, aber im Vergleich zum großen Patenmädchen, das bereits eine Patenfrau ist, doch.

Das kleine Patenmädchen wurde Neun, ein gewichtiges Alter. Dritte Klasse, bald steht die Kommunion an. Das Bücherlesen eröffnet neue Welten, danach kommt zügig das letzte Jahr in der Grundschule – das sind große Entwicklungen.


Work-Life-Achtsamkeitsbumms | Morgenspaziergang im Münsterland. Werde ich demnächst öfter tun, das war erfrischend. Ich habe mir in den nächsten Wochen Zeiten im Kalender reserviert, so dass mir niemand Termine reinschieben kann.


Generationen | Ein Kunde wünscht ein Seminar zu Thema „Generationenübergreifend zusammenarbeiten“. Es gebe Konflikte zwischen den Jungen und den Alten im Unternehmen. Er nannte Beispiele. Ich war neugierig und sagte zu.

Ich bin ja der Meinung, dass es keine Generationen gibt. Natürlich existieren sie im familiären Sinne als Oma, Sohn und Enkel, aber nicht im Sinne, dass Geburtsjahre bestimmte persönliche Einstellungen prägen, auch wenn es selbst ernannte Trendforscher gibt, die Gegenteiliges behaupten.

Der Soziologe Martin Schröder, Professor an der Universität des Saarlandes, hat sich der Frage gewidmet und bestätigt, was ich anekdotisch erlebe: Es gibt keine Generationen. Was es allerdings gibt, sind zwei Effekte: einen Alterseffekt und einen Periodeneffekt. Man kann Einstellungen von Menschen mit ihrem Alter erklären: Zunehmendes Erfahrungswissen prägt Einstellungen. Ein Beispiel sind Frauen, die in jungen Jahren noch der Ansicht sind, dass Frauenrechte überflüssig sind, und mit zunehmenden Erfahrungen im Berufsleben ihre Meinung ändern. Oder man kann Einstellungen von Menschen mit dem Zeitpunkt erklären, mit dem sie befragt wurden: Wir alle denken heute anders als früher – als zum Beispiel 1930, 1950 oder 1985.

Ich werde nun ein schönes Seminar machen, in dem wir über Generationen, Alter und Zeitgeist sprechen. Ich werde fragen, inwiefern es praktisch ist, Wünsche an Arbeitgeber damit abzuwehren, dass wir sie auf Jahrgänge projizieren – und was eine Alternative sein kann. Ich bringe Übungen mit, in denen die Teilnehmer:innen Konfliktgespräche führen und Lösungsräume zu schaffen. Ich freue mich schon sehr.


Schlauer werden | Meine Coachingausbildung an der Fernuni schreitet voran, und ich bin immer noch begeistert. Handfeste Methoden, eine tolle Tiefe und vieles, das auch außerhalb von Eins-zu-Eins-Coachings anschlussfähig an meine Arbeit ist.

Beim letzten Präsenzwochenende lag der Schwerpunkt auf Veränderung. Da war ich natürlich gespannt wie ein Flitzebogen, und ich wurde nicht enttäuscht. Nur eine Erkenntnis sei hier genannt: Ich habe bislang – aus meiner Erfahrung heraus – immer von „Takt und Rythmus“ gesprochen, die Veränderung braucht. Nicht alles passt zu jeder Zeit, stattdessen ist es wichtig, Momente abzuwarten, in denen Menschen bereit sind für Veränderung. In der Uni habe ich jetzt gelernt, dass diese Momente „Kairos“ heißen, und Kairos eines der acht generischen Prinzipien der Synergetik ist, die Ordnungs- und Chaosphänomene in offenen dynamischen Systemen beschreibt.

Kairos bedeutet „Passung in der Zeit“: Veränderung verläuft nicht linear, sondern sprunghaft in Form von Kipppunkten. Die Kipppunkte sind Momente maximaler Instabilität: Das Alte ist nicht mehr passend und hilfreich, über längere Zeit hat sich eine Spannung aufgebaut. Wollen wir nun Veränderung anstoßen, brauchen wir Destabilisierung im Kontext von Stabilität: sichere Rahmenbedingungen und gleichzeitig Irritation.

Ich habe Methoden gelernt, an diesen Kipppunkten zu arbeiten. Das war gut.


Schweine | Der Dicke und das Pionierschwein:

Meerschweine: Der Dicke schaut in die Kamera, das Pionierschwein wendet sich grad nach hinten, mit einer Paprika im Maul

Und sonst | Meine ehemalige Kollegin und nun Professorin Annika Sehl hat im Zukunftsrat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mitgearbeitet und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Vorschläge zu seiner Reform vorgelegt, die ich allesamt vernünftig finde.

Na sowas | Es ist immer noch Januar, kaum zu glauben.


Haltung bewahren | Am Wochenende war ich auf dem Markplatz hier im Ort, anlässlich einer Kundgebung für Demokratie und Vielfalt. Mein Jahresvorsatz ist ja, Haltung zu bewahren. Wenn mir dafür eine Demo serviert wird, quasi verzehrfertig, gehe ich dort natürlich hin.

Der Halterner Marktplatz voll mit Demonstrant:innen.

Angemeldet waren 500 Teilnehmer:innen. Es kamen 5.000 – für unsere Kleinstadt eine erfreuliche Quote, etwa ein Sechstel der Bevölkerung. Die Redner:innen hielten sich knapp: Klare Worte, kurze Sätze, das war gut. Der inhaltlich beste Beitrag kam vom evangelischen Pfarrer, war mit Wumms vorgetragen und inhaltlich auf den Punkt.

Ich bemerkte eine gewissen Erfahrungsschatz in der Anti-Akw-Generation, was die Fertigung von Bannern angeht: Während die junge Generation in bester Absicht und stets bemüht mit Pappkarton und Holzleisten an den Start ging, zeigten sich die Älteren mit soliden Besenstielen, boten hochwertige textile Aufbereitung und gut lesbare, gut zitierfähige Schriftzüge. Hier können wir voneinander lernen.

Herr Buddenbohm berichtet mit gewohntem Unterhaltungswert von verwandten Ereignissen in Norddeutschland.


Handball | Ich hatte große Freude an der Handball-EM. Zum Halbfinale besuchte mich die Torfrau (die dereinst auf einem französischen Landschloss ihre Ehe feierte, Sie erinnern sich vielleicht). Sie brachte Zimtschnecken mit, „damit wir die Dänen wenigstens so vernaschen“. Die Zimtschnecken waren wunderbar lecker und zimtig. Die Torfrau deutete an, dass sie zu achtzig Prozent aus Guterbutter bestünden; ich verweigerte mich weiteren Informationen.


Broterwerb erklären | Am Wochenende war ich an der Schule der Bonuskinder zu Gast. Die Schule veranstaltet einmal im Jahr eine Berufemesse, auf der Eltern (und Bonuseltern) ihren Beruf vorstellen.

Stand auf der Berufemesse in der Schule: An der Wand ein Plakat mit den bislang ausgeübten Berufen, davor ein Tisch mit Lego

Der Aufruf der Schule, dort mitzuwirken, war von dem Wunsch begleitet, dass auch weniger gradlinige Lebensläufe teilnehmen. „Da könntest du mitmachen“, hatte der Reiseleiter daraufhin gemeint. Also tat ich es – weniger, um Schüler:innen speziell für den Beruf der Unternehmensberaterin zu begeistern, sondern mehr, um zu zeigen, dass man einen Beruf lernen und einen anderen ausüben kann (und noch einen und noch einen); und auch, dass es Berufe gibt, zu denen man auf verschiedenen Wegen kommt. Ich erlebe nämlich Schulabgänger:innen unter großem Druck, einerseits nicht zu wissen, welchen Weg sie einschlagen wollen, und andererseits voller Sorge, sich mit der Wahl einer Ausbildung oder eines Studium fürs Leben festzulegen.

Damit die Jugendlichen etwas mit nach Hause nehmen konnten, habe ich ein Flyererstellt. In einem Interview erkläre ich in einfachen Worten, was ich arbeite (Credits gehen raus an K2, die die Fragen gestellt hat).

Auf der Messe besichtigten mich mehrere Gruppen. Ich hatte jeweils zehn Minuten Zeit, meinen Beruf zu zeigen. Die 14-Jährigen bauten aus Lego Ideen, was ihre Schule besser machen würde. Die Top Drei:

  • eine Außenerweiterung der Schulcafeteria für Sommertage
  • ein Raum, in dem man sich zurückziehen kann, wenn es einem nicht gut geht
  • Sitzsäcke, weil der Hintern nach 90 Minuten Unterricht so weh tut, dass man sich gar nicht mehr konzentrieren kann

Wir überlegten danach, wie man die Ideen testen könnte, ohne zunächst groß zu investieren (minimum viable product), und wie man messen könnte, ob die Idee funktioniert und genutzt wird (Proof of Concept). So erfuhren die Kids im eigenen Erfahrungshorizont, was ich – neben anderem – in Unternehmen tue.

Ich bin übrigens ziemlich angetan von den Ideen, die alle binnen fünf Minuten entstanden. Die dahinter liegenden Bedürfnisse sind klar artikuliert.


Gelesen | Junge Frauen werden liberaler, junge Männer konservativer. Die Gründe dafür finden sich im Papier von Axel Honneth vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Es ist aus dem Jahr 2011, also deutlich älter als die neuesten Beobachtungen, aber dennoch lesenswert. Honneth argumentiert, dass Männer stärkerer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt seien, seit Frauen vermehrt daran teilnähmen. Dadurch seien männliche Privilegien wie Bildungsabschlüsse, Karriereperspektiven und durch Sexismus geprägte Arbeitskulturen unter Druck geraten; körperliche Arbeit werde zunehmend abgewertet. Die verlorene Anerkennung in der Wirtschaftssphäre können Männer aber nicht mit Anerkennung im Privaten kompensieren: Ihre Rolle als Familienernährer sei infrage gestellt, sogar die Rolle des Vaters gelte nicht mehr, wenn Frauen gleichgeschlechtlich Kinder aufziehen können. All dies manifestiere sich in Versuchen, …

[…] die eigene Unsichtbarkeit in Augenblicken einer obszönen Präsenz in den Medien abzustreifen, verkörpern sich in Gegenkulturen des Respekts, in denen eigensinnige, gesellschaftlich abgekoppelte Anerkennungsregeln herrschen.

Verwilderungen des sozialen Konflikts: Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Broterwerb |  Die Tage gestalten sich arbeitsreich, wenngleich nicht arbeitsreicher als sonst. Es ist eher die Themenvielfalt, die anspruchsvoll ist. Ich möchte mich jedoch keinesfalls beschwerden. Die Auftragslage 2024 entwickelt sich bereits jetzt, in der Jugend des noch neuen Jahres, ausgesprochen erfreulich – nicht nur quantitativ, sondern auch, was die Art der Herausforderungen angeht: tolle, interessante Projekte, super Kunden, mit denen es große Freude macht zusammenzuarbeiten.

Ich versuche dieses Jahr ein bisschen achtsamer mit mir zu sein. Gerade im zweiten Halbjahr 2023 bin ich viel gereist. Der Alltag war zwischendurch arg verdichtet. Das möchte ich in diesem Jahr besser machen. Ich muss schließlich noch fünfundzwanzig Jahre arbeiten und möchte gerne gesund bleiben.

(Falls mir vor Ablauf der fünfundzwanzig Jahre jemand eine Tätigkeit als Privatier anbieten möchte, etwa durch Übertragung nennenswerter Vermögenswerte und einer kleinen Finca, bin ich natürlich offen. Ich würde auch weiterbloggen.)


Wer den Schaden hat | Im letzten Blogbeitrag habe ich einen Fehler eingebaut. Ich erhielt deshalb wiederholt und natürlich vollkommen berechtigt die Information, dass Karlsruhe nicht in der Südpfalz liegt – in Kommentaren unter dem Blogartikel, auf Social Media und mündlich am Küchentisch: Ich wohne nämlich mit einem Geographen zusammen. Was ich mir anhören konnte! Ich bitte freundlich, von weiteren Zuschriften abzusehen. Ich in geläutert.


Gelesen und gehört | Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit von Paula Schlier. Die demokratische Journalistin Schlier berichtet in ihrem autobiographischen Text von 1926, wie sie sich drei Jahre zuvor als Schreibkraft in den Völkischen Beobachter, das Propagandablatt der Nationalsozialisten, einschleust. Sie erzählt vom Hitler-Putsch ebenso wie von den Sitten in der Redaktion. Schlier konnte damals unbehelligt beim Völkischen Beobachter recherchieren, weil sie nur als „Tippmamsell“ wahrgenommen wurde; es bedurfte keiner weiteren Tarnung, als eine Frau zu sein. Der Bayerische Rundfunkt hat Paula Schlier einen Podcast gewidmet: Paula sucht Paula.

Gelesen | Bahn-Angestellte erzählen ihre Motive zu streiken


Schweine | Der Freundeskreis Rohkost bei der Abendspeisung:

Serviceblog | Vielleicht kennen Sie das: Sie nutzen Foodblogs oder Chefkoch, und das eigentliche Rezept ist zwischen Werbung und Textprosa versteckt. Lifehack, übermittelt von Herrn Giardino: Wenn man „cooked.wiki/“ vor die URL des Rezepts stellt und einen Moment wartet, bekommt man das nackte Rezept, also die Zutaten und die Zubereitung ohne Klimbim. Sehr prima.


Broterwerb | Auswärtsspiel in Karlsruhe und Ettlingen: Beratung und Moderation in zwei Unternehmen, Begleiten von Veränderungen.

Brücke über die Alb, rechts und links Altstadthäuser. Im Vordergrund eine bischöfliche Steinfigur.

In dem Zusammenhang wieder ein Bahnabenteuer. Schon vor Abreise in Haltern war die Zugbindung aufgehoben, „Technische Störung an einem Bahnübergang“. Das ist eine der selteneren Begründungen, aber warum nicht? Es ist doch schön, Abwechslung zu haben. Ich fuhr dann allerdings doch auf der gebuchten Verbindung: Dank eines bärenstarken Gepäcklaufs erreichte ich den laut Bahn-App unerreichbaren Anschluss in Essen doch. Notiz an mich selbst: Meine Kondition ist nicht so schlecht wie gedacht, könnte aber dennoch besser sein.

Morgen Rückfahrt mit Nervenkitzel. #Schnee-Emoji #Eis-Emoji

Das Wetter hier war seltsam. Heute Morgen ein bisschen Glatteis, aber nur hier und da auf Gehwegen, weit entfernt von dem, was möglich gewesen wäre. Dann Regen. Als ich am Abend ausrückte und zum Essen ging, windete es und es fielen Eisstücke von den Bäumen. Als ich zwei Stunden später aus dem Restaurant kam, war es plötzlich fünf Grad wärmer und ich brauchte weder Mütze noch Handschuhe.


Werbeblock | Gemeinsam mit meiner Kollegin Andrea Schmitt lade ich zu einem Tag ein, der mehr Gelassenheit in den Alltag bringt: Leichter leben – Strategien für mehr Fokus und Entlastung. Das Ziel: nicht zwischen den vielen Aufgaben und den unterschiedlichen Menschen, die an uns ziehen, zerrieben werden. Das Angebot richtet sich an alle, die sich einen Tag für sich gönnen und sich nachhaltig für ihren anspruchsvolle Alltag wappnen möchten.

An dieser Stelle auch nochmal ein Hinweis auf mein Angebot speziell für Mütter. Wir haben inzwischen zwölf Anmeldungen aus ganz Deutschland und freuen uns wie Bolle auf die Teilnehmerinnen. Wer sich anschließen möchte, ist weiterhin herzlich willkommen! Wer an diesem Tag nicht kann, ist bei „Leichter leben“ auch gut aufgehoben.


Leibesübung, passiv | Handball-EM im Hotelzimmer:

Foto vom Hotelbett aus: Im Vordergrund ein alkoholfreies Weizenbier in einer Hand, im Hintergrund ein Fernseher an der Wand mit Handball

Eingabe bei der Verwertungsgesellschaft | Ich habe meine Blogtexte bei der VG Wort gemeldet. Stichtag ist ja immer der 31. Januar. Das wäre dann auch erledigt.


Demokratie | Ich habe außerdem eine E-Mail an meinen zuständigen Bundestagsabgeordneten (SPD) geschrieben, dass ich auf ihn als meinen demokratischen Vertreter im Bundestag zähle, damit wir auch in Zukunft in einem menschenfreundlichen, demokratischen Deutschland leben dürfen. Überdies schrieb ich, dass ich ein AfD-Verbotsverfahren für durchaus angebracht halte und mir seine Unterstützung und Initative im Kampf gegen Rechts wünsche.

Dazu ein erhellendes Interview mit dem Politologen Claus Leggewie. Er empfiehlt, ein Verbotsverfahren einzuleiten. Allerdings würde solch ein Verfahren Jahre in Anspruch nehmen und deshalb zunächst keine Auswirkungen haben. Vielmehr sei eine Massenmobilisierung gegen die AfD und eine Nichtbeschäftigung mit ihr und ihren Themen angeraten. Essenz des Interviews:

Ein reinrassiges Deutschland wird die Dürre und die Überflutungen nicht aufheben. […] Wir haben Wichtigeres zu tun als uns permanent auf die Themen der AfD einzulassen und uns von dieser Partei treiben zu lassen.

Die aktuelle Rolle der etablierten Parteien – mit Ausnahme der Grünen – sieht Leggewie kritisch: Sie, so sagt er, griffen die Themen, die die AfD setzt, immer wieder auf. Er empfiehlt eine eigene, zukunftsgerichtete Themensetzung und einen Schulterschluss gegen Rechts. Ich habe Zweifel, dass Letzeres gelingt. Die aktuelle CDU sehe ich nah an der AfD, die FDP ebenfalls – beide in den Startlöchern für eine Koalition. Die SPD steht da und wundert sich.


Gelesen | Frau Kaltmamsell hat ins Ausland geschaut und beim britischen Guardian einen übergreifenden Blick auf die europäischen Bauernproteste erharscht.

Gelesen | Herr Buddenbohm findet schöne Worte für trübe Tage. Die Vokabel „schneegepolstert“ werde ich in meinen Wortschatz aufnehmen.


Schweine | Wegen Reisetätigkeit nur ein Archivschwein, in der Sache aber aktuell: Der Dicke liegt gerne.

Meerschwein liegt faul im Stroh und reckt den Kopf vor

Auswärtsspiel in Köln | Die vergangene Woche verbrachte ich in Köln. Am Dienstag reiste ich – Bahnstreik-bedingt einen Tag eher – an, am Freitag wieder ab. Der Anlass: drei Tage Seminar für Volontärinnen und Volontäre des Westdeutschen Rundfunks. Thema: agile Projekt- und Redaktionsarbeit.

Die orangene Maus in der Kölner Innenstadt, dahinter ein Bürogebäude

Die Teilnehmer:innen haben Scrum, Kanban, Design Thinking im Schnelldurchlauf kennengelernt, für ein erstes Grundverständnis und als Basis für eine Vertiefung im weiteren Berufslebes. Das Seminar war experimentell angelegt: Jede Methodik erlebten die Teilnehmer:innen zunächst in einer Simulation. Ich hatten einen ganzen Koffer voller Materalien mit, um Pizza zu backen und Backprozesse in einen guten Fluss zu bringen, Prototypen zu bauen und gemeinsame Lernerfahrungen hervorzubringen.


Lösung aller Probleme | Nach meinem Einsatz beim WDR entdeckte ich die Lösung für alle Bahnprobleme. Ich schob mich und meinen Koffer zum Kölner Hauptbahnhof, entdeckte einen ICE, der in den nächsten fünf Minuten nach Norden fahren würde und stieg ein. In Duisburg rascher Umstieg nach Haltern, der Anschluss kam pünktlich. In Rekordzeit war ich zuhause, so komfortabel und pünktlich wie lange nicht und besser als ohne Bahnstreik. Die Lösung ist also: Kaum Kunden und nur wenige Züge, und schon fluppt alles.


Gelesen | Jarka Kubsova: Bergland. Die Autorin erzählt die Geschichte eines Südtiroler Bergbauernhofs anhand dreier Generationen – kompakt auf 288 Seiten. Ein schöner Roman, den ich gern gelesen habe: gut lesbar, aber nicht zu schlicht, trotz Kürze mit Tiefe und nah an den Charakteren.

Gelesen | Psychologische Erklärungen fürs Nichtstun: Warum viele die Klimakrise scheinbar kaltlässt

Gelesen | Blick zurück ins Jahr 2021, zur EU-Agrarreform. Aus dem Text geht sehr gut die Position des Deutschen Bauernverbandes hervor. Spoiler: Dem Verband geht es nicht um Nachhaltigkeit und Biodiversität.


Ausflug in den Einzelhandel | Am Samstag habe ich mich in der Apotheke kurzfristig gegen Grippe impfen lassen. Die ist ja jetzt im Anmarsch, und vor Weihnachten gab es in dieser Angelegenheit Terminkollisionen. Auf dem Weg zur Apotheke bemerkte ich, dass beim Schuh im Sterben lag: Das Leder löste sich unrettbar vom Leisten. Da ich nicht allzu viele Schuhe besitze und eine Frau der Tat bin, lief ich nach der Impfung in den nächsten Schuhladen. Denn nächste Woche fahre ich nach Baden-Würtemberg, und dazu brauche ich braune Chelsea Boots. Chelsea Boots sind, wie ich finde, modische Allrounder in der nasskalten Jahreszeit – gerade wenn man mit schmalem Gepäck reist.

Ich betrat einen kleinen Laden in unserer kleinen Innenstadt, die Gesamtfläche kleiner als meine Ein-Zimmer-Studibude 1997. Senf-beige und ein freundliches Steingrau dominieren die Räumlichkeit. Die Schuhmode wendet sich an Mittsiebziger, die gerne bequem laufen. Mich überkommt ein Vliestapetengefühl.

Nach meinen Wünschen gefragt, sage ich, dass ich neue Schuhe brauche, die wie die alten sind. Der Ladenbesitzer greift in ein Regal und holt zwischen hunderten Senioren-Aktiv-Schuhen einen zeitlosen, braunen Chelsea-Boot hervor, dann noch einen und noch einen. Ich probiere die Paare an und gehen zwischen den Regalen spazieren. Wir plaudern über länger und breiter werdende Füße und herausnehmbare Sohlen („Als ich das Schuhhandwerk gelernt habe, waren die ja noch verklebt!“). Ich liege zwischen zwei Größen, bekomme Beratung und könnte am Ende alle drei Schuhe kaufen, sie passen alle. Ich kaufe ein Paar, bekomme ein Imprägnierspray kostenlos dazu und bin sehr glücklich.


Schweine | Für die Schweine war es frisch in der vergangenen Woche. Als tiefste Temperatur maßen wir minus zehn Grad. Ich war zart in Sorge und rechnete jeden Morgen damit, dass wir die Drei bretthart vorfinden. Doch die Viecher erweisen sich als außerordentlich zäh.

Zwei Meerschweine

Die Außenhaltung brachte Arbeitsaufwand mit sich: Alles gefror, sowohl das Wasser in der Trinkschale als auch das gereichte Gemüse als auch der Urin der Schweine. Damit sie nicht auf ihrem eigenen gefrorenen Urin liegen müssen, haben wir viel Stroh eingelegt und häufiger gesäubert. Die Trinkschale gefror binnen weniger Stunden vollständig durch; wir wechselten entsprechend. Das Gemüse gab’s öfter in kleinen Portionen. Im Stall haben wir außerdem eine Lage Styropor verbaut, gegen Fußkälte.

Schön, dass wir da sind | Es schneit. In großen, weichen Flocken. In kleinen, harten Grieseln. Es schneit von rechts nach links und von oben nach unten, in einzelnen Flocken und in Wolken. Der Wind treibt den Schnee ins Gesicht, in die Augen, von oben in die Jacke. Er lässt die Straßenschilder zittern und klappern, sie vibrieren im Sturm, wüten in ihren Fundamenten. Der Wind drückt den Schnee gegen Fenster und in Hauseingänge, er türmt ihn vor Türen auf. Eiszapfen wachsen; sie wachsen schräg von den Fensterbänken. Auch sie sind auf der Flucht vor dem Wind. Eine Dachlawine stürzt hinab. Mit einem dumpfen Poltern landet sie auf dem Pflaster. Eine Frau springt beiseite, schaut mich an, lacht und sagt etwas auf Dänisch.

Es ist der stärkste Schneesturm seit fast dreißig Jahren in Dänemark, und wir sind dabei. Der Schnee bleibt an der Hose und der Jacke kleben; von hinten sehen wir aus wie immer, von vorne bedeckt uns ein weißes Brett. Ich trage eine Mütze, über der Mütze die Kapuze meines Hoodies, darüber die Kapuze der Jacke. Bis zur Nasenspitze ist alles zugezogen.

Wir kämpfen uns aus Trøjborg hinab in die Stadt. Wir schauen mal, wie weit wir kommen, haben wir gesagt, uns wir kommen ganz gut voran. Es fährt kein Bus, es fährt keine Straßenbahn, aber es fahren auch keine Autos. Kaum jemand wagt sich hinaus, nur wir. Wir fühlen uns wie Ernest Shackleton bei unserer Eroberung des Kirkegårdsvej hinein in die Altstadt.

Die Cafés, Restaurants und kleinen Läden, sie alle bleiben heute geschlossen. „Lukket på grund af snestorm“, steht auf handgekritzelten Schildern an den Türen. Nur Supermärkte und staatliche Museen haben geöffnet. Also stapfen wir zum Kunstmuseum ARoS. Bevor wir das Museum betreten, schlagen wir das Schneebrett von uns ab; in kleinen Platten fällt es in die Drehtür. Wir schütteln uns. Eine Frau lacht und und sagt: „Velkommen til ARoS! Dejligt at du er her!“ Schön, dass Ihr da seid! – das finden wir auch.

Auf dem Rückweg frischt der Sturm weiter auf, treibt Eisstücke in unsere Gesichter, schiebt uns über Kreuzungen und die Steigung am Friedhof hinauf.

Die ganze Nacht über pfeift der Wind ums Haus, wirbelt Schnee in alle Ecken, türmt ihn vor den Fenstern auf, auf den Autos und Mülltonnen, deckt Bänke und Fahrräder zu. Erst, als wir am Morgen unsere Köpfe in die Winterluft stecken, haben Sturm und Schnee nachgelassen. Alles ist weiß und leise.


Lakritz und Knäckebrot | Am Tag zuvor sind wir angekommen, mit Umstiegen in Münster, Hamburg, Flensburg und Fredericia. Ohne Verspätung oder anderes Unbill, alles lief glatt. In der dänischen Bahn gab es Kaffee und Lakritz. Auf dem Rückweg werden wir auch Frühstück serviert bekommen, ein Brötchen mit Marmelade und zwei Scheiben Käse auf einem Teller, auf Wunsch auch Knäckebrot. Insgesamt wird es bei den acht Umstiegen keine Probleme geben. Lediglich auf auf dem Rückweg haben wir eine Stunde Verspätung – eine Stunde auf zwanzig Stunden Fahrt, das ist in Ordnung.


Der Junge | Das ARoS Kunstmuseum, in das der Sturm uns hineinweht, hat einen Regenbogen auf dem Dach. Bei schönem Wetter kann man über die ganze Stadt gucken und sie in allen Farben sehen. Heute drückt sich der Wind durch die Ritzen. Der Schnee klebt schwer am Glas. Aber dennoch lassen sich die Strukturen der Stadt erkennen: das alte Aarhus, die Quartiere, die Kirchen.

Panoramaaufnahme: Zentral der Regenbogengang, rechts und links Blick hinunter in die Stadt

In den Stockwerken darunter: der Boy von Ron Mueck, der mir unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigt, je nachdem, wo ich stehe; die Bilder dänischer Maler, Werke von Dalì, Installationen zu Natur und Umwelt. Und ein Café. Wir werden in den kommenden Tagen feststellen, dass kaffe og kage, Kaffee und Kuchen, hier in Dänemark mehr sind als ein Getränk und eine Speise: Sie sind eine Lebenskunst.


Tausche Stroh gegen Schaf | Unsere Wohnung hat kein WLAN – also: Eigentlich schon, aber nicht, während wir dort sind. Der Fernseher läuft auch über Internet, will heißen: Er läuft aktuell nicht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, während sich draußen der Schnee türmt. Im Regal steht ein Karton „Siedler von Catan“, dänische Version; wir können die Regeln auch ohne Sprache und spielen drei Partien.


Eisbaden | Zwei Tage später sitzen wir in einem Café am Havnebadet, dem Freibad im Hafenbecken, in dem das Wasser gerade zu Eis gefriert. Dünne, noch nicht weiße, noch transparent gepuderte Platten schwimmen auf der Oberfläche, durchzogen von Rissen. Wir kommen von draußen, vor uns steht kaffe og kage. Es hat inzwischen minus sechs Grad dort draußen, im Windchill auch weniger, minus zehn, minus elf. Unsere Wangen sind gerötet, wir sind grad am Meer entlang spaziert, die Promenade auf Ø entlang, dem Stadtteil im alten Hafengebiet, dessen Namen aus nur einem Buchstaben besteht. Wir haben Architektur geguckt: den Isbjerget, den Eisberg, und das 142 Meter hohe Lighthouse, für dessen Verankerung sie achtundzwanzig Betonpfähle siebzig Meter tief in die Erde gerammt haben.

Plötzlich, wir schauen von unserem Gebäck auf, stehen draußen Zwei in Badekleidung. Dampf steigt von ihren Körpern auf. Sie legen sich nieder in den Schnee, wälzen sich von dem Rücken auf den Bauch wie Seehunde, bewerfen sich mit Schneebällen. Der Reiseleiter beißt in seine Zimschnecke und brummt „Forrüffte!“ Vielleicht meint er „Verrückte“, aber er hat den Mund voller Kanelsnegle; man kann ihn nicht gut verstehen.

Später sehen wir: Das Freibad hat geöffnet, kostenlos. Wir könnten, wenn wir wollten.

Freibad im Hafenbecken mit gefrierendem Wasser

Filmtheater | Einmal gehen wir abends ins Kino oder besser gesagt: in ein Filmtheater. Es hat wieder geöffnet nach dem Schneesturm, und ein zweiter Siedler-Abend wäre zu fade, ganz ohne Erweiterungen.

Kino-Foyer mit Retro-Lampen und einer blau schimmernden Uhr, einem alten Filmplakat und Sofa und Stühlen

Das Foyer empfängt uns mit der Vergangenheit, der Kinosaal selbst hat nur vier Reihen. Es läuft Napoleon, den wir ohnehin noch sehen wollen, Englisch mit dänischen Untertiteln. Sprache erweist sich allerdings als nicht wichtig in diesem Film: Es wird hauptsächlich gemetzelt, und wenn nicht gemetzelt wird, wird geschnackselt. Wir können gut folgen.


Street Food | An drei von vier Abenden essen wir in der Street-Food-Halle an der Rutebilstation, dem Busbahnhof. Ein Industriehalle, darin Seecontainer, vor den Seecontainern Biertischgarnituren, garniert mit ein paar Eimern Farbe, Lichtern, Girlanden und etwas Street Art. Empfehlung: der große indische Teller mit Paneer Tikka Masala, Samosas, Mango Chutney und zweierlei Brot – und als Dessert ein Crêpes mit Vanillezucker.


Die Summe der kleinen Dinge | In der Street-Food-Halle gibt es eine Kinderecke. Im Bahnhof von Fredericia gibt es einen Wartesaal mit Sofas und Pflanzen – und mit einer Kinderecke. Die Bibliothek von Aarhus, Dokk1, hat Parkplätze für Kinderwagen; die ganze erste Etage ist Kindern gewidmet. Sie können Lego bauen, haben einen Toberaum, einen Kinderspielplatz, Rampen zum Rennen, Eisenbahnen zum Spielen, ihre Steckenpferde haben Ställe, es gibt Konsolen zum Zocken und einen Maker Space für Jugendliche.

Die Mülleimer haben eine extra Ablage für Pfandflaschen, serienmäßig, um es Pfandsammlern einfacher zu machen.

Pfandregal am Mülleimer

In der Stadt stehen viele Bänke, lange Bänke zum Verweilen und Draufliegen. Der öffentliche Raum gehört – ebenso wie die Bibliothek – den Menschen.

Die meisten Museen, Cafés und Restaurants haben Unisex-Toiletten.

Noch während des Schneesturms wurden die Radwege geräumt. Während der gesamten vier Tage, die wir dort waren, waren viele Radwege frei. Auch Gehwege – zum Beispiel auf dem Friedhof – wurden geräumt. Die Straßen fanden kaum Berücksichtigung. Sie wurden von den Autos freigefahren – oder auch nicht.

Geräumter Radweg

Wir benötigten kein Bargeld. Wir haben auch kein Geld abgehoben, besaßen also keine Dänischen Kronen in Scheinen oder Münzen. Bargeldzahlung war nirgendwo vorgesehen; bisweilen gab es nicht einmal Bargeldkassen. Wir konnten (und mussten) immer und überall mit Karte bezahlen.

Altstadt mit Lichter-Schneeflocken und erleuchteten Geschhäften

Aarhus hat Wikinger-Ampelmännchen.

Als am Freitagnachmittag die Busse wieder fahren, sind alle Menschen glücklich. Es ist ein Abenteuer, über die Schneehaufen zu steigen, die die Haltestellen von den Fahrbahnen trennen: ein Haufen vor dem Radweg, ein weiterer vor dem Bus, beide oberschenkelhoch – es ist nicht einfach hineinzugelangen. Doch man hilft sich. Überhaupt sind alle guter Laune.


Gender-Gaga | Wir besuchen auch das Gender Museum Denmark, ein Wunsch des Reiseleiters. Ehemals das Frauenmuseum, widmet es sich nun allen Geschlechtern. Man spürt noch den ehemaligen Schwerpunkt, denn es geht vor allem um Frauen, um Frauen im Verhältnis zu Männern und nur ganz am Rande um Transmenschen und andere Geschlechter.

Interessant ist, dass Dänemark im Gleichstellungsindex gar nicht mal so gut dasteht: Was die wirtschaftliche Gleichstellung und Bildungsgerechtigkeit angeht ja, nicht aber in Bezug auf die politische Teilhabe. Auch hier sind Frauen unterrepräsentiert. Die Daten für viele Länder kann man im Global Gender Gap Report nachlesen.

Kaffe og kage im Gendermuseum:

Antikes Café-Ambiente, auf dem Tisch eine Kerze, ein Milchkaffee und Kuchen, außerdem eine Limonade


Gelesen | Ich hatte etwas Zeit im Zug und las Texte rund um die Proteste der Bauern. Oder sind es eher Proteste von Rechtsradikalen, die sich der Bauerndemonstrationen bemächtigen? Der Bauernverband scheint an einer Klarstellung nicht interessiert. Tatsache ist: Rechtsextreme träumen von einem Tag-X-Szenarion, dem Tag des großen Generalstreiks. Dafür kapern sie jedes sich bietende Thema, von Migration über Pandemie, Energieversorgung bis hin zur Subventionierung der Landwirtschaft, verdichten alle Themen zu „Wir gegen die Eliten“, legitimieren damit ihre Aktionen und verschieben mit jeder Aktion Grenzen – wie bei der Bedrohung der Privatperson Robert Habeck in Schlüttsiel. Das Ziel: Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und schlussendlich Machtübernahme.

Aber zurück zu den Landwirt:innen und dem, was ich las.

  • Die deutsche Landwirtschaft unterliegt seit Jahren einem starken Strukturwandel. Agrarunternehmen verdrängen kleine, familiengeführte Bauernhöfe. Mit der Übernahmen steigt die Produktivität – dank Monokulturen und Düngemittel. Laut Angaben des Umweltbundesamtes war die deutsche Landwirtschaft im Jahr 2018 unmittelbar für 7,4 Prozent der deutschen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich – unter anderem wegen des hohen Methanausstoßes aus der Viehhaltung (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Die EU fördert also große Flächen und sponsert riesige Ställe und Maschinen. Das Ziel: billige Nahrung.
  • Der Vorsitzende des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, bewirtschaftet im Nebenerwerb 350 Hektar Ackerfläche und bekommt dafür Agrarsubventionen in Höhe von rund 100.000 Euro (Wikipedia via Spiegel Online). Rukwied hält überdies acht vergütete Mandate in Aufsichts- und Verwaltungsräten, darunter bei Südzucker und dem Agrarhandelskonzern BayWa (Bauernverband).
  • EU-Förderungen, die Landwirtschaft klimafreundlicher machen sollen, laufen seit Jahren ins Leere.
  • Zum Argument „Landwirte sichern unsere Ernährung“: Mehr als die Hälfte unserer Äcker, 58 Prozent, nutzen wir zur Produktion von Tierfutter, weitere 17 Prozent für Energie. In Deutschland gehen jährlich 4,5 Millionen Tonnen Soja in den Futtertrog von Nutztieren, hinzu kommen weitere Getreide. Es braucht drei Kilogramm Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen. Deutschland produziert – auch durch die starke Nutzung von Ackerflächen – jährlich 7,3 Millionen Tonnen Fleisch. Davon gehen drei Millionen Tonnen in den Export.

Ich habe den Eindruck: Es soll das öffentliche Bild entstehen, dass es bei dem Protest rund um Dieselsubventionen und Kfz-Steuer um Hans und Helga und ihren kleinen Milchviehbetrieb in Niedersonthofen geht. Möglicherweise geht es aber auch viel darum, Pflöcke einzuschlagen für den Erhalt des Status Quo, weniger für Hans und Helga, sondern für große Flächen und riesige Ställe, für Massentierhaltung, für die Agrarunternehmen, für die Menschen in ihren Aufsichtsräten und alle, die profitieren – vor allem Konserative und Rechte. Dass es in der Bauernschaft auch andere Stimmen gibt, zeigt sich in diesem Aufruf und im Video der Jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft. Einen weiteren seriösen Einblick gibt der Kontoauszug eines angestellten Landwirts bei ZEIT Online. Mir scheint: Es ist wie immer kompliziert, Bauern sind nicht gleich Bauern, Landwirtschaft ist heterogen. Aber: Es gibt deutlichen Reformbedarf. Nur anders, als konservative Bewahrer und Großbetriebe es sich wünschen.

Ergänzung, 8. Januar: Dazu auch ein sehr lesenswerter Newsletter von Ann-Kathrin Büüsker – Warum die Bauernschaft wütend ist

Gelesen | Recherche „Jule Stinkesocke“: In 2023 kam heraus, dass eine Bloggerin und Behindertenaktivistin mit mehr als 70.000 Followern und etlichen initiieren Spendenaktionen, nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Stattdessen ist „Jule“, die seit 2014 im Internet aktiv ist, wohl ein männlicher Übungleiter, der mit behinderten Jugendlichen gearbeitet hat. Er baute über knapp zehn Jahre und mit großem Aufwand den Fake „Jule“ auf. Dass „Jule“ im Blog ausführlich behinderungsbezogene Fetischen darlegt, macht die falsche Identität noch verstörender. Die Redaktion von Imperialcrimes hat aufwändig Fakten gecheckt.

Gelesen | Zsusza Bánk: Schlafen werden wir später. Márta ist Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann, Dramaturg, und drei Kindern in der Großstadt. Ihre Freundin Johanna ist Lehrerin, lebt im Schwarzwald und arbeitet sich an einer Dissertation über Annette von Droste-Hülshoff ab. Die beiden schreiben sich Briefe – oder nein: Es sind eher Tagebucheinträge, die sie an die jeweils andere richten, Ergießungen in poetischer Sprache, immer wieder mit Einspengseln literarischer Zitate. Beide begehren, was die jeweils andere tut und hat, während sie sich selbst bemitleiden. Das ist schwer zu ertragen, vor allem vor dem Hintergrund der Sprache. Ich wollte die beiden fortwährend schütteln und sie anschreien: „Jetzt reiß dich zusammen und krieg den Hintern hoch!“ Gegen Ende der fast 700 Seiten bewegt sich dann doch was bei den Frauen, immerhin.

Gelesen | Anke Gröner, Kunsthistorikerin, zur Geschichte des Automobils. Es gibt einen interessanten Aspekt.


Und sonst | In den sozialen Medien sah ich kürzlich das Video eines Bären, wie er, zottelig vom Winterschlaf, aus seiner Höhle tapst, benommen und sichtbar unorientiert. So wird es mir am Montag gehen, wenn ich an den Schbreitisch zurückkehre. Genaugenommen wird es schon heute Abend losgehen, wenn ich mich frage, auf welche Uhrzeit ich den Wecker stellen soll.

2024 | Frohes neues Jahr Ihnen allen! Möge es voller Gesundheit, Zufriedenheit und Heiterkeit sein.


Silvester | Ich verbrachte den Jahreswechsel in Gesellschaft von fünf Erwachsenen und zehn Kindern. Die Kinder: neun Jungs und ein Mädchen. Alter: zwischen 22 Monaten und 14 Jahren. Eine denkwürdige Mischung, ich war innerlich auf alles vorbereitet: Lärm, Übermüdung, Chaos, Ausrufen des Notstands, Trotz und Tränen. Doch der Abend verlief geruhsam. Die Gastgeber, Profi-Eltern von vier Buben, fütterten die Jugend mit Pommes und Bockwurst ab. Danach widmeten sich die Kinder Brettspielen und Klemmbausteinen, nur unterbrochen von Wackelpudding – ein Abend, als wären wir in den 80ern. Wir Erwachsenen spielten mit, wenn wir Lust hatten (ein paar Partien Drecksau gehen immer, finde ich) und unterhielten uns ansonsten. Neun von zehn Kinder hielten bis Mitternacht durch. Es gab großes Anstoßen mit Sekt und Limo, ein paar wenige Knaller, und auch danach war noch kein Aufbruch. Erst um 02:30 Uhr waren wir im Bett.

Gutes Spiel für Erwachsene (für Kinder nur mäßig geeignet): Codenames. Zwei Teams spielen nach einfachen Regeln gegeneinander. Ziel: dem eigenen Team möglichst viele der 25 ausgelegten Wörter mit nur einem Begriff umschreiben, ohne auf Wörter der Konkurrenz hinzuweisen.


Rauhnächte | Zwischen den Jahren habe ich sehr emsig nichts getan. Ich schlief, bis ich aufwachte, niemals wusste ich, welcher Tag war, wir spielten Spiele und futterten Kekse, ich las 600 Seiten, es gab keinerlei Verpflichtungen. Zwei- oder dreimal zogen wir uns richtige Kleidung an und verließen das Haus, um ums Karrée zu gehen. Perfekt.


Gelesen | Mario Giordano: Terra di Sicilia, gekauft im Urlaub in Südtirol. Erster Satz des Buches:

Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wunderheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet.

Damit ist schon alles gesagt, nur darum geht es. Giordano erzählt – inspiriert von seinem eigenen Urgroßvater – die Lebensgeschichte des Barnaba Carbonaro, genannt Nino. Nino wächst im archaischen Sizilien des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf, eine Welt voller Rohheit und Aberglaube, aber auch voller Farben und Düften. Er lernt nie lesen, aber mit Zahlen kennt er sich aus. Das Leben führt ihn von Taromina nach Palermo und von dort nach München. Ein wunderbarer, voller, spielerisch erzählter Roman.


Dank | Danke an Zwei, die sich meines Wunschzettels bedient haben. Ich habe mich sehr gefreut über Zsuzsa Bánk und Abreißen, loslassen.


Und sonst | Das Wasser, es fließt nicht ab. Aus Niedersachsen nicht und vor der Haustür auch nicht. Die Lippe breitet sich weit über Felder aus und steht dort.

Vorsätze fürs neue Jahr habe ich keine, ausdrücklich nicht. Außer: Haltung bewahren, ganz unbedingt.

Keine Lust auf Jahresrückblicke, schon gar nicht mediale. Auch keine Lust auf Vorschauen. Einfach im Jetzt leben.


Schweine | Neujahrsschweine:


Gelesen | Bürgergeld: Nicht die Höhe ist der Skandal, sondern die Debatte. Von den 5,5 Millionen Menschen, die Bürgereld empfangen, arbeiten nur 1,6 Millionen tatsächlich nicht, obwohl sie könnten – und das sind noch nicht einmal dauerhaft dieselben. Mit anderen Worten: Widmen wir uns lieber dem anderen Ende des Debattenspektrums, den gut verdienenden Steuerhinterziehern.


Ausblick | Morgen geht es für ein paar Tage nach Aarhus. Der Rucksack ist gepackt, mitsamt Mütze und Handschuhen. Es soll Schnee und Wind geben.

Der Morgen vor Heiligabend | Ich erwache früh, nicht freiwillig. Aber heute ist kein Tag für die Schlummerfunktion, heute ist der 23. Dezember, ein Samstag, der Tag des letzten Frischwareneinkaufs vor drei Feiertagen.

Gestern habe ich großmütig verkündet: „Ich erledige das.“ Doch nun, im warmen Bett, fühle ich mich wie vor einem Bungee-Sprung. Eigentlich möchte ich nicht. Aber ich komme aus der Nummer nicht mehr raus. Vor meinem inneren Auge sehe ich vorwurfsvoll dreinblickende Senioren vor leeren Fonduetöpfen sitzen, im Hintergrund Lichterglanz. Nein, ein Rückzug kommt nicht infrage.

Es ist 7:45 Uhr, als ich das Haus verlasse. Um 8 Uhr öffnet der Supermarkt. An der Kreuzung ist die Ampel rot. Alle zehn Autos vor mir blinken rechts. Ich blinke auch rechts. Als militärische Kolonne biegen wir auf den Parkplatz des Supermarktes ein, der bereits zu sechzig Prozent gefüllt ist. Menschen streben auf den Eingang zu. Um den Brathähnchenwagen herum teilt sich der Kundenstrom, vor der Automatiktür fließt er wieder zusammen.

In einem synchronen Ballett parken wir, öffnen unsere die Fahrertüren, steigen aus und schlagen die Türen zu. Autos verschließen sich piepend. Mit zügigen Bewegungen ziehen wir Einkaufswagen aus den Unterständen. Wir sind viele, und wir sind entschlossen.

Als erstes das Gemüse. An Heiligabend gibt es Fondue, immer schon. Früher nur Fleisch, jetzt auch Gemüse. Ich greife nach dem Blumenkohl. Es ist ein auffallend kleiner Kopf, geradezu niedlich. Ich will ihn schon in den Wagen heben, da fällt mein Blick aufs Preisschild. Vier Neunundneunzig steht da, und darüber steht tatsächlich „Blumenkohl“, obwohl die Zahl und das Wort nicht zusammenpassen. Fünf Euro für einen Blumenkohl in der Größe eines Kinderhandballs. „Dank einem reduzierten Gewicht von unter 260 Gramm und einem Umfang von 46 bis 48 Zentimetern können Kinder sie besser fangen und werfen„, aber wir wollen ihn ja nicht werfen, sondern wir wollen davon satt werden. Ich lasse den Kohl fallen.

Ich strebe zu den Molkereiprodukten. Dort, wo sie im rechten Winkel mit den Wurstwaren zusammentreffen, sammelt sich eine Menschentraube. Als ich näherkomme, erkenne ich: Das ist das Ende der Frischfleischschlange, wobei die Fleischtheke nur als dünner Strich am Horizont zu erkennen ist. Ein Mann in rotem Pullunder, mit erhitzten Wangen und zerknittertem Einkaufszettel springt heran. „Sind Sie Fleisch oder Wurst?“, fragt er die Dame vor mir. „Ich bin Wurst“, sagt sie. Er wendet sich mir zu. „Und Sie?“ Ich muss kurz überlegen: „Ich, äh, bin Fleisch.“ – „Dann sind wir hier falsch. Kommen Sie mit!“, und raunt mir zu: „Ich kenne eine Abkürzung!“ Wir schlängeln uns um den Stand mit Hartwurst und Bifi herum, drehen einen Schlenker um die Grillsaucen und erreichen das Ende einer bis dato nicht sichtbaren zweiten Schlange. Eine Frau in einer wattierten Steppweste bildet ihren Abschluss; sie wiegt einen Camembert in der Hand, riecht an ihm und legt ihn zurück in eine Kühltheke. „Hier sind wir richtig“, sagt der Pullunder-Mann. Über uns prangt ein Schild mit einem Pfeil. Er zeigt auf uns. Über dem Pfeil steht „Fleisch“. „Habe ich gestern schon erkundet. Sieht man von hinten nicht“, sagt er, und in seiner Stimme schwingt Stolz mit.

Ich entscheide mich für Biofleisch. Als ich die Tüten entgegennehme und auf das Preisschild schaue, denke ich: Nun kann ich auch noch einen Blumenkohl kaufen. Aber auf dem Einkaufszettel stehen noch Datteln, und nach den Datteln sind meine Spendierhosen wieder enger. Jetzt nur noch Grillsaucen. Die habe ich vorhin schonmal gesehen.

Vor den Grillsaucen steht ein Mann mittleren Alters, die Haare wirr und schütter, im Gesicht ein Dreitagebart. Er ist eindeutig aus dem Bett gefallen – oder gescheucht worden. Seine Brille hatte er in die Stirnfalten geklemmt, sein Blick geht auf seine Hände, die er zu Fäusten geballt hat. Er streckt den Daumen vor, dann den Zeigefinger, den Mittelfinger, bis alle Finger ausgeklappt sind. Dann nimmt er die zweite Hand hinzu, schaut nachdenklich in die Luft, schüttelt den Kopf und beginnt noch einmal von vorne. Seine Brille fällt ihm auf den Nasenrücken, schief bleibt sie darauf liegen. Wie viele Bockwürste braucht er für wie viele Gäste? Wie viele Leute kommen überhaupt?

Die Kassen sind gut besetzt. Überhaupt: Alle Arbeitsplätze sind heute besetzt. Überall huschen dienstbare Angestellte herum, räumen Regale ein, verkaufen Wurst, Käse und Fleisch, kassieren und weisen den Weg zu Klößen, Rotkohl und Rinderfond. Junge Menschen mit Pickeln auf den Wangen schieben Wagen mit Waren, alte Menschen mit Haarkränzen verräumen – es ist, als haben sie Mann und Maus, Schüler und Rentner mobil gemacht, um diesen Tag zu überstehen.

„Danke, dass Sie heute arbeiten“, sage ich der Kassiererin, als ich einpacke. Sie antwortet: „Das ist doch mein Job.“ – „Aber manchmal ist er schwieriger als an anderen Tagen.“ – „Das stimmt“, sagt sie. Wir wünschen uns frohe Weihnachten. Ich gehe hinaus auf den Parkplatz. Es hat wieder zu regnen begonnen. „Mission completed„, schreibe ich dem Reiseleiter. Er antwortet: „Dann mache ich jetzt Frühstück.“ Weihnachten kann beginnen.


Der weitere Tag vor Heiligabend | Nach dem Einkaufen gliedert sich der Tag in diverse Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Aus Gründen der Übersicht sowie aus pädagogisch-motivatorischen Erwägungen schreibe ich sie auf eine Checkliste und hänge sie in die Küche.

Handschriftliche Checkliste am Küchenbuffet.

Die Maßnahme verfehlt ihre Wirkung nicht. In Checker-Tobi-Manier rufen die Kinder: „Gecheckt!“, wenn eine Sache erledigt ist und machen einen Haken ins Kästchen. Am Nachmittag steht der Baum, die letzten Geschenke sind besorgt, die Schweine haben einen frisch gefegten Stall, und die Schokocrossies trocknen. Wir sitzen neben dem aufgerüschten Baum und sind bereit für „Kevin allein zu Haus.“

Weihnachtsbaum, geschmückt mit goldenen und roten Kuten Kugeln und allerlei Engeltand.

Der Heiligabend | Den Abend verbringen wir mit Fondue, mit Fleisch und Datteldip, Brokkoli, Pilzen, Pak Choi und Kohlrabi, aber ohne Blumenkohl. Wir sitzen in der Küche, auf dem Tisch dampfen zwei Töpfe mit Brühe, das Licht ist gedimmt, Kerzen brennen, Weihnachtsmusik spielt. Das Wesen des Fondue ist es – ähnlich wie beim Raclette -, dass man Ewigkeiten zusammensitzt, während man der Sättigung immer ein kleines Stückchen näher kommt, bis sie plötzlich einsetzt und direkt in eine leichte Übelkeit umschlägt.

Bis dahin tunken wir unsere Spieße in die Brühe, und die Veranstaltung wäre nur halb so unterhaltsam, wenn alles am Spieß bliebe, was aufgespießt wurde.

„Ich habe meinen Brokkoli verloren!“
„Aber das ist doch gar nicht dein Spieß.“
„Ist er nicht?“
„Deiner ist gelb.“
„Nein, Gelb bin ich!“
„Wem gehört denn dann der Brokkoli?“
„Mein Fleisch ist weg.“
„Ich hole mal einen Löffel.“
„Was ist das denn hier?“
„Ach, das gehört mir!“
„Ich habe einen Pilz gefunden.“
„Wir haben Pilze?“
„Wieso hast du vier Spieße bei dir liegen? Wir haben doch jeder nur zwei.“
„Oh.“
„Noch jemand Brot?“
„Also, ich hätte jetzt schon gerne Blumenkohl!“

Später am Abend kommt die große Stunde des Reiseleiters. Seit dem Sommer nimmt er Gitarrenunterricht. Seither ziehen wir ihn damit auf, dass wir unterm Tannenbaum eine künstlerische Darbietung erwarten, das sei das Mindeste, was er nach Monaten des Übens bieten müsse. Nach Fondue und Champagner packt er also die Klampfe aus, und nicht nur das: Er verteilt auch Liedzettel und verkündet, er spiele nur, wenn wir auch sängen. Er gibt die ersten Akkorde von „Feliz Navidad“ zum Besten. Ich blicke auf den Zettel: Der Text ist überschaubar, den können wir auch nach zwei gut gefüllten Sektflöten intonieren.

Es ist unterhaltsamer als erwartet. Wir singen neben dem Takt, der Reiseleiter verhaspelt sich etwas, wir improvisieren die im Text geforderte „Dance Break“, finden wieder zueinander und sind am Ende erschöpft, aber doch zufrieden mit uns. Darauf noch ein Gläschen! Und Geschenke.


Die weiteren Weihnachtstage | Die weiteren Weihnachtstage verlaufen ebenfalls heiter. Wir verbringen sie im Sauerland und in Recklinghausen, essen Suppe und Klöße, Kuchen und Rotkohl, Herrencreme und Rouladen, vegan und unvegan. Am Zweiten Weihnachtstag rudere ich durchs Obergeschoss, um mir etwas Bewegung zu verschaffen. Draußen regnet es ununterbrochen. Gut, dass wir das Ergometer haben, sonst wäre das alles nicht zu verkraften.


Dänisch | Der Reiseleiter lernt nicht nur Gitarre, er lernt auch Dänisch. Denn im Sommer planen wir eine erneute Fahrradreise durch Dänemark, diesmal mit den Kindern. Der Reiseleiter hat die Route bereits geplant und alle Unterkünfte gebucht. Damit er seiner Funktion noch besser nachkommen kann, eignet er sich mittels einer App die Landessprache an.

Als wir am Ersten Weihnachtstag ins Sauerland fahren, treffen wir in Olfen-Vinnum ungewöhnlich früh auf die Lippe. Sie hat ihr Bett verlassen und breitet sich über die angrenzenden Felder aus. Neben dem Lippe-See hat sich ein Fischreiher postiert und wittert auf Mäuse und Molche, Frösche und Fische.

Hochwasser an der Lippe

„Guck mal“, sage ich zum Reiseleiter. „Ein Reiher.“ – „De fleste hejrer lever tæt på vandet“, antwortet er sehr ernst, den Blick auf die Straße gerichtet, denn er fährt das Auto. „Die meisten Reiher leben in der Nähe von Gewässern.“

Ich denke, wir werden gut zurechtkommen in Dänemark. Vor allem, was Reiherdinge angeht.


Geguckt | Die Hunderjährigen – Was macht ein langes Leben aus? Eine Vorbereitung auf später: Ich plane ja, 106 zu werden. Die Zahl habe ich mir ausgesucht. Familiär bedingt ist hohes Alter sowohl von mütterlicher als auch auf väterlicher Seite aus möglich, alle Alten wurden richtig alt. Ein früheres Versterben als mit Ü100 weise ich deshalb strikt von mir.


Schweine | Die Schweine bekamen auch Brokkoli. Sie stehen auf Brokkoli.

Meerschwein vor Brokkolirösschen

Glühwein und Kekse | Das Leben ist nun unverkennbar weihnachtlich. Auf der Terrasse steht ein Baum, der eingestielt und verwohnzimmert werden möchte. Geschmückt wird traditionell am 23. Dezember.

Am vergangenen Wochenende habe ich Plätzchen gebacken, fünf Sorten. Das war entspannend.

Untertasse mit fünf Sorten Keksen drauf: Nusskordeln mit Schoko-Enden, Vanillekipferl, Kokosmakronen, Schoko-Crossies, Engelsaugen mit Marmelade.

Ich habe vor mich hin geknetet, Teigwürste gedreht, Kügelchen gerollt, Cornflakes zu Schokobergen zusammengeschoben und dabei Hörbuch gehört. Der Reiseleiter hatte eigene Pläne. Niemand wollte mit mir reden. Es war wunderbar.

Am Samstagabend, der Reiseleiter weilte außerhäusig, die Kinder waren bei ihrer Mutter, veranstaltete ich meine betriebliche Weihnachtsfeier. Ich stellte einen Topf mit Glühwein auf den Herd, hörte weiter Hörbuch, trank den Topf leer und fühlte mich beseelt.

Die Geschenkesache habe ich auch im Griff. Ich muss nur noch einpacken. Einpacken ist allerdings wie Basteln, und Basteln ist ein schwieriges Thema in meinem Leben.


Backstage | Die letzten Arbeitstage waren noch einmal knackig. Drei intensive Workshoptage beim Kunden, Weichen stellen für 2024. Das Unternehmen befindet sich in stetem Wandel. Ich arbeite dort sehr partnerschaftlich mit internen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Es macht große Freude, gemeinsam zu gestalten.

An einem der Tage war ich noch für einen anderen Kunden unterwegs, ein Führungskräftetraining. Es kommt nicht oft vor, dass ich aus dem Hotelzimmer arbeite. Aber manchmal ergibt es sich so. So sieht dann das Setting aus:

Schreibtisch im Hotel unter einem Fernseher, darauf ein Laptop auf einem Ständer und ein Licht für Videokonferenzen.

Ich habe einen Bildschirmhintergrund in meinem Corporate Design. Das Bett hat also niemand gesehen. Für den Kunden war alles wie immer. Am Abend zuvor absolvierte ich auch meine Weiterbildung an der Fernuni Hagen so.

Ein Gruß geht raus ans Hotel: Drei Stunden auf dem Höckerchen sind übel. Ein Stuhl wäre toll gewesen.


Schlauer werden | A propos Weiterbildung: Die ist super. Ich bin glücklich, mich dafür entschieden zu haben, und bin sehr zufrieden mit der Qualität der Lehre. Systemisches Coaching auf Universitätsniveau, mit promovierten Psycholog:innen, sehr praxisnah, mit wissenschaftlicher Tiefe. Ich habe schon viel gelernt, das ich bereits anwende. Die Ausbildung ist ihr Geld, rund 7.600 Euro, auf jeden Fall wert. Meine Kund:innen werden gut profitieren.

Es ist allerdings auch genauso zeitintensiv, wie es super ist. Unzählige Dienstagabende, dazu Freitage und Samstage digital von daheim, vier Wochenende in Präsenz, 25 Coachingstunden mit Reflexionsbögen, ein fünfseitiger Supervisionsbericht, 25 Stunden kollegiale Intervision, Entwicklungsgespräche und eine Gesamtreflexion – das ist neben dem Job eine Menge Holz. Aber es macht jedesmal Spaß, weil es mich auch jedesmal weiterbringt. Gestern hatten wir die ersten beiden Intervisionsstunden, also kollegialer Austausch in einer kleinen Gruppe Lernender. Meine Intervisionsgruppe besteht aus vier Menschen aus verschiedenen Branchen, erfahrene Leute, die klug und aufgeräumt sind. Wir sind bereits sehr vertraut miteinander. Ich bin mit viel Energie aus dem Abend gegangen.

Das Schöne ist: Ich stehe erst am Anfang. In 2024 kommt noch so viel! Das wird toll.


Juchee! | Es gab ein Geburtstagsereignis. Es ist inzwischen schon etwas her, aber es soll nicht unerwähnt bleiben.

Kuchen mit einer 14 und Legosteinen aus Fondant, außerdem mit 14 brennenden Kerzen.

Der Kuchen ist nicht von mir, der ist von der Oma. Lob und Ehre gehen also dorthin. Die Legosteine haben sie den letzten Nerv gekostet. Ich bitte um besondere Würdigung.


Gelesen | Ein Blick aus der Schweiz: Deutschland kippt nach rechts.

Auch wenn der Verfassungs­schutz mit seiner jüngsten Entscheidung zu Sachsen nun schon den dritten Landes­verband der AfD als gesichert rechts­extremistisch eingestuft hat: Angst vor dem Inland­geheimdienst hat die AfD nicht mehr. Ihre Kooperationen mit Neonazis, staats­feindlichen Reichs­bürgerinnen und Über­schneidungen zum rechts­terroristischen Untergrund sind gut dokumentiert, empören aber immer weniger. 

Gelesen | Alles für die Kohle: Wie ein Konzern unser Wasser abgräbt. Eine Recherche über den Kohlekonzern Leag, der in Brandenburg, einer der trockensten Regionen Deutschlands, jahrelang viermal so viel Wasser schöpfte wie genehmigt. Konsequenzen: keine. Stattdessen Schweigeklauseln mit Städten, überforderte Behörden, Männerbünde, fragwürdige Gutachter und Seen, die austrocknen.


Bemerknis | Es ist nur anekdotische Evidenz aus meinem Umfeld, aber inzwischen empören sich auch Menschen über mangelnden Fortschritt in Klimabelangen, die bislang ganz und gar nicht in Verdacht standen, linksideologischem Gedankengut anzuhängen. Es sind Menschen an Kaffeetafeln und Mittagstischen – metaphorisch umschrieben als alte weiße Männer -, die finden, man möge doch bitte „endlich Nägel mit Köpfen machen“, klimaschädliche Subventionen streichen und Inlandsflüge verteuern, außerdem ein Tempolimit einführen, denn „natürlich fahre ich gerne mal schnell, aber die Zeiten von 220 auf der Autobahn sind irgendwie vorbei“. Man findet, in die Sache müsse jetzt mal Klarheit und Verbindlichkeit rein, das „Geeiere“ geht „auf die Nerven“.


Stillstand 2024 | Derweil driftet Nordrhein-Westfalen in Richtung Stillstand. Das Jahr 2024 wird interessant. Wer sich in NRW und insbesondere im Ruhrgebiet auskennt, kann den folgenden Absatz überspringen. Für alle anderen folgen sechs Sätze Kontext, bevor es ins konkrete Thema geht.

In der Metropole Ruhr leben mehr als 5,1 Millionen Menschen und wollen sich bewegen (zum Vergleich Berlin: 3,9 Millionen). In Nord-Süd-Richtung durchkreuzen vier große Autobahnen das Ruhrgebiet: die A3, die A43 und die A1. Außerdem führt die A45 direktemang vom östlichen Ruhrgebiet, also von Dortmund, nach Frankfurt. Von Osten nach Westen sind die A2, die A 42, die A 40 und die A46 die wichtigsten Verkehrsadern. Es gibt eine Menge mehr Autobahnen, aber das sind die Verkehrsadern, die für mich am relevantesten sind. In etwa parallel fahren auch die Züge. Besonders durch den Korridor Dortmund – Essen – Duisburg führen stark frequentierte ICE-Verbindungen, unter anderem die Verbindung von Berlin-Ostbahnhof in die Schweiz, die stündlich bedient wird; dazu Regionalzüge im 20-Minuten-Takt, Intercitys und S-Bahnen. Hinzu kommt der Durchgangsverkehr – nicht nur der deutsche, sondern auch der Personen- und Güterverkehr aus den Niederlanden und Belgien.

Nehmen wir die A45, die Dortmund mit Frankfurt verbindet. Die BrüLüLü – die Brücken-Lücke Lüdenscheid, das Loch in der Autobahn – macht diese Strecke für den Fernverkehr für mehrere Jahre unbenutzbar. Die regionale Umleitung ist seit Anbeginn der Sperrung völlig am Limit, der Verkehr fährt 100 Kilometer lange Umwege über die A4 und die A3 oder fährt über Dörfer. Auf anderen Nord-Süd-Achsen sieht es nicht wirklich besser aus: Auch Brücken in Leverkusen (A1) und in Recklinghausen (A43) sind marode. Seit Langem sind hier Waagen eingerichtet, Lkws werden abgeleitet und müssen die Brücken umfahren, der Pkw-Verkehr stockt.

Seit ein paar Tagen ist nun auch die A42, eine relevante Ost-West-Achse, komplett gesperrt: Zwischen Bottrop und Essen ist eine weitere Brücke so marode, dass niemand sie mehr überqueren darf, nicht einmal mit einem Fiat Panda. Bis Frühjahr 2024 bleibt die A42 geschlossen, für Lkws auch länger, für immer. Die Wege, die Lkw-Fahrer im Ruhrgebiet nehmen können, werden immer weniger. Sie suchen sich Strecken durch Städte, fahren sich fest, und weichen auf die verbleibende A2 oder auf die A40 aus, die auch ohne den zusätzlichen Verkehr bereits verstopft sind.

Hinzu kommt der Umbau des Kreuz Kaiserbergs in Duisburg, ein Knotenpunkt mit täglich 145.000 Fahrzeugen. Der Umbau betrifft sowohl Autobahnen als auch den Schienenverkehr und legt die ganze Umgebung lahm. Will ich nach Duisburg zum Kunden, eine Strecke von 78 Kilometern, dauert das mit dem Auto eindreiviertel Stunde. Mit dem Zug dauert es noch länger.

Denn auf der Schiene ist die Lage nicht besser: Nicht nur die Schienen rund um die Baustelle in Duisburg werden regelmäßig gesperrt. Die Strecke zwischen Essen und Dortmund, also die Ost-West-Hauptachse in der 5,1-Millionen-Ruhrmetropole, ist (erstmal) für sieben Wochen gesperrt. Teile des Regionalverkehrs fallen komplett aus. (Die aufmerksame Leserin erinnert sich: Die Ost-West-Autotrasse A42 ist wegen kaputter Brücke auch tot.) Was fährt, wird nördlich über Gelsenkirchen und Herne umgeleitet – auch der gesamte Fernverkehr, der das Ruhrgebiet quert. Die Umleitungsstrecke ist allerdings auch ohne Mehrbelastung schon störanfällig; es wird spannend. Der Regionalexpres 11, der zwischen Kassel und Düsseldorf verkehrt und dabei das Ruhrgebiet quert, wird eingestellt. Allerdings nicht wegen der Baustelle, sondern wegen Personalmangels, auf unbestimmte Zeit. In Nord-Süd-Richtung ist es auch hakelig. Dort baut die Bahn zwischen Ruhrgebiet und dem Münsterland. Der Regionalbahnhof vor meiner Haustür wird deshalb bis April 2024 nicht angefahren.

Wenn ich Fahrten unternehme, die gemäß Fahrplan oder Navi länger als drei Stunden dauern, plane ich mittlerweile nur noch ganze Reisetage ein. Städte im eigenen Bundesland, in die ich eigentlich pendeln könnte, fahre ich einen Tag früher an und übernachte in Hotels. Denn egal ob mit Zug oder Pkw: Die Unwägbarkeiten sind so groß, dass alles andere unkalkulierbar ist.


Schweine | Alles wie immer, nur etwas schläfriger. Die Schweine hadern damit, dass sie Schweine und keine Murmeltiere sind. Wären sie Murmeltiere, könnten sie sich einrollen, den Regen, Wind und Sturm verschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Gras wächst und der Löwenzahn sprießt. Melancholische Sehnsucht:

Meerschweine beim Essen. Meerschwein Eins schaut puschelig in die Kamera.

Ich wünsche Ihnen allen schöne Weihnachtstage und eine gute Zeit zwischen den Jahren!



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