Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

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Eine Radreise durch Dänemark: Von Bonderup bis an die Nordspitze nach Skagen

25. 07. 2024  •  1 Kommentar

Bonderup – Uggerby | Ich erwachte mit einem seltsamen Gefühl. Lichtschein drang durchs Fenster, draußen Vogelgezwitscher und … nichts. Kein Rauschen, kein Prasseln oder Brausen – nicht einmal ein Tröpfeln. Auch kein Fieseln, kein stummes Nieseln. Sondern: Sonnenschein.

Eine Wiese mit zwei Bäumen. Eine Rose rankt an einem hölzernen Tor empor. Rechts ein Stall aus Backsteinen. Sonne, blauer Himmel.

Küche und Badezimmer rochen leicht nach nassem Hund. Überall trockneten Wäsche, Schuhe und Helme. Gleichzeitig roch es nach Kaffee und frischen Brötchen: Der Reiseleiter war schon tätig geworden.

Als wir das Haus verließen, war es, als seien die Heuschrecken über unseren Gastgeber hereingefallen. Denn wir hatten sein Angebot angenommen, gut gefrühstückt und uns Brote für die Fahrt geschmiert, schließlich gab es weit und breit – in Fahrradentfernung gemessen – keinen Supermarkt.

Die nachfolgende Fahrt nach Aalborg ging so schnell, dass wir es alle kaum glauben konnten. In zwei Stunden und vierzig Minuten glitten wir bei Sonnenschein und Rückenwind durch Korn- und Kartoffelfelder, ohne Hügel, nur geradeaus, 47 Kilometer. Es war eine Wonne.

Für dieselbe Distanz hatten wir tags zuvor das Doppelte an Zeit gebraucht, und jetzt war alles ganz leicht.

Die Klappbrücken von Aalborg begrüßten uns mit offenen Armen. Wir segelten in die Stadt hinein, frei von Regenhosen und Kükenponcho und beflügelt davon, nach Tagen der Landpartie eine große Stadt zu sehen. Wir saßen am Limfjord und schauten uns die Menschen an. Wir schoben die Räder durch die Stadt, durchwanderten Altstadtgassen und eine Drogeriekette.

Dann fuhren wir zum Bahnhof. Die Etappe wäre sonst zu lang geworden: 90 Kilometer hätten wir als Erwachsene vielleicht noch gemacht, mit den Kindern nicht. Wir versorgen uns mit Matilde-Milchshakes und Faxe Kondi und ließen uns nach Hirtshals fahren. Mit uns im Zug waren eine Menge Leute, die von Hirtshals aus nach Norwegen übersetzen; die Fähre nach Kristiansand fährt nur zweieinhalb Stunden, die Fahrt nach Bergen dauert sechzehneinhalb Stunden. Wir unterhielten uns mit einem jungen Mann, der sich zu uns in den Vierersitz gesellte; er und sein Bruder, der eine noch Schüler, der andere schon etwas älter, starteten an diesem Tag eine dreiwöchige Radreise durch Norwegen – mit Zelt und Campingkocher, seine erste Radreise überhaupt.

Von Hirtshals aus radelten wir nach Uggerby raus zu unserer Unterkunft. Unterwegs plünderten wir noch einen Supermarkt. Die Brote vom Morgen waren längst weggefuttert, und in Aalborg hatten wir nichts gegessen.

Nach dem Abendessen spazierten der Reiseleiter und ich noch durchs Dorf. Die Kinder chillten vor ihren Geräten.

Ferrtislev-Bonderup – Hirtshals über Aalborg
Radkilometer: 59
Höhenmeter: 123
Radfahrzeit: 3 Stunden 30
plus eine Stunde Zugfahrt von Aalborg nach Hirtshals


Uggerby – Skagen | Die letzte Etappe, das große Finale! Wir beluden ein letztes Mal die Räder.

Mein Taschen-in-Taschen-System hat sich herausragend bewährt. Ich musste zu keinem Zeitpunkt etwas suchen und war auch in den Unterkünften hervorragend sortiert. Auch für den großen Regen erwiesen sich die Kompressionstaschen als praktikabel. Meine Packtaschen, eine grünen Fahrradtaschen, sind gut dicht, vor allem mit zusätzlichem Überzug; Schwachstelle war das Spritzwasser von unten. Dadurch, dass die Kompressionstaschen jedoch aufrecht in den Fahrradtaschen stehen, war das kein Problem; alles blieb trocken. Der Reiseleiter hingegen steckte mehrmals bis zur Brust in seinen Packtaschen und kramte nach Badehose, Werkzeug und Schwimmbrille, unter Flüchen flogen Dinge auf die Erde.

Schon beim ersten Zieleinlauf fand ich, dass sich die Nordspitze Jütlands hervorragend als Schlusspunkt einer Reise eignet. Plötzlich wandelt sich die Landschaft, öffnet sich, Bäume und Wiesen werden zu Dünen, und es sind nur noch wenige Kilometer bis nach Skagen. Seinerzeit kamen wir von Süden, von der Ostseeseite. Diesmal kamen wir von Westen, der Nordseeseite. Der eindeutige Vorteil: Wir hatten auf der ganzen Strecke Rückenwind.

Wir erreichten die Kirche von Råbjerg; eine gute Gelegenheit, das erste Mal anzuhalten.

Ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, danach nochmal angebaut und umgebaut, mit einem hölzernen Schiff unter der Decke. Vor der Tür wie überall der Friedhof mit Grabsteinen bis zurück ins 18. Jahrhundert: Familienväter, Mütter, Seefahrer, Soldaten, Gereiste, Ausgezeichnete, Verdiente und ganz Gewöhnliche.

Nach der Kirche folgt Råbjerg Mile, Dänemarks größte Wanderdüne. Jedes Jahr bewegt sie sich fünfzehn Meter Richtung Kattegat. In 130 Jahren wird sie im Meer verschwunden sein.

Wir erklommen die vierzig Meter hohen Sandberge, was leichter erzählt ist, als es getan war. Die Düne ist steil; wir taten einen Schritt und rutschten einen halben wieder hinunter. Ein hervorragendes Herz-Kreislauf-Training, eine gute mentale Übung.

Oben stürmte es geradezu absurd. Der Wind riss an den Haaren, trieb den Sand gegen Beine, Arme und ins Gesicht. Es prickelte und prasselte, es knirschte und knisterte. Böen tragen in jeder Minute Millimeter für Millimeter ab und wehen die Körner unbeirrbar gen Osten. Ein beeindruckendes Schauspiel.

Wir blieben eine ganze Weile auf der Düne und genossen die Weite. Die Kinder übten Weitsprung und bauten Häuser, die direkt wieder verweht wurden.

Dann waren es noch zwölf Kilometer, die letzten zwölf Kilometer der Reise. Sonnenschein, Rückenwind, der Geruch von Salz und Meer.

In Skagen gab es das ebenso obligatorische wie notwendige Begrüßungssofteis.

Insgesamt sind wir 410 Kilometer durch Dänemark gefahren. Die letzte Etappe war mit 42 Kilometern die kürzeste. Die längste hatte 72 Kilometer. Die zeitlich längste war begleitet von Dauerregen und Gegenwind.

In den darauffolgenden drei Tagen blieben wir in Skagen. Wir fuhren sogar Fahrrad. Davon erzähle ich später noch – ebenso wie von den Damen und Herren mit, Zitat unserer Gastgeberin in Mitteljütland, Porsche, Polohemd und Pullover über der Schultern. Denn ausgerechnet während wir dort waren, war Hellerup-Woche.

Panoramabild: rechts Meer, links ein Weg, auf dem ein Mann geht. In der Ferne gelbe Häuser.

Uggerby – Skagen
Entfernung: 42 Kilometer
Höhenmeter: 48
Reine Fahrzeit: 2 Stunden 21


Gehört | Daniela Krien: Der Brand. Eine Geschichte, bei der im Außen wenig passiert, wohl aber im Innen. Rahel und Peter sind seit 30 Jahren verheiratet, hatten Höhen und Tiefen in ihrer Ehe. Was sich währenddessen verabschiedet hat, ist die gegenseitige Liebe. In einem Sommerurlaub begegnen sie sich wieder. Ein Buch, das Geschmackssache ist; ich mochte die Geschichte gern, ihre langsame Entwicklung und ihre ostdeutsche Perspektive.

Eine Radreise durch Dänemark: Die Wasserschlacht von Nordjütland

22. 07. 2024  •  3 Kommentare

Nykøbing Mors – Bonderup | Der Reiseleiter weckte mich zuversichtlich: Der dänische Wetterdienst habe seine gestrige Prognose korrigiert. Es werde nur ganz leicht regnen und erst ab 15 Uhr. Außerdem habe er die Etappe um zehn Kilometer gekürzt: Wir müssten nicht siebzig, sondern nur sechzig Kilometer fahren. Er strahlte.

Tatsache war jedoch, dass es regnete, als wir aus der Tür traten. Es regnete mit einem leisen Rauschen, ein Regen, der frei war von der Energie eines kurzen Schauers. Mit kraftvoller Ausdauer umarmte er das Land, während ein freundlicher Wind die Tropfen verwirbelte, so dass sie uns nass und liebevoll zudeckten.

Wir beluden die Räder, wickelten uns in Regenkleidung, Kükenponcho und Mülltüten und machten uns auf den Weg. Der Wirbelwind sorgte dafür, dass wir von allen Seiten gleichmäßig nass wurden. Es war, als führen wir Fahrrad und nähmen gleichzeitig ein Bad – ein Erlebnis, das man selten hat. Deshalb würdigten wir es mit zärtlichen Flüchen.

Nach etwa 25 Kilometern erreichten wir einen Ort. Der Ort hatte einen Spielplatz, und auf dem Spielplatz stand eine überdachte Picknickhütte. Wir aßen Zimtschnecken. Derweil veränderte sich der Regen. Er ließ seine Bindfädigkeit hinter sich; stattdessen prasselte er dick und dicht auf das Dach und auf den Reiseleiter, der einen Platten flickte. Denn den hatten wir auch.

Um die Insel Mors zu verlassen, nahmen wir die Fähre über den Feggesund. Am Fähranleger blies der Wind. Auf dem Wind hielten übermütige Schwalben die Stellung. Sie schwebten auf der wilden Luft wie ein Kolibri, nur ohne Flügelschlag, bevor es sie ein ums andere Mal fortriss aufs Meer. Sie kamen wieder, legten sich erneut auf den unsichtbaren Strom, stießen hinab bis kurz über den Asphalt, stiegen wieder auf, wurden wieder fortgerissen.

Nach der Fähre führte unser Weg nach Osten, dem Ostwind entgegen. Der Reiseleiter fuhr voran, die Kinder im Windschatten, ich hinterdrein. Wir trampelten mit würdevollem Trotz, während wir kaum geradeaus gucken konnten: Es regnete uns waagerecht in die Augen.

Die Kinder hatten sich schon mit Beginn der Fahrt in ihr Schicksal ergeben. Schweigsam und unerschütterlich trieben sie ihre Räder durch Sturm und Wind, ohne Beschwerde, ohne Gejammer. Das hier musste schlichtweg erledigt werden.

Hinter Amtoft dann plötzlich: nichts. Kein Prasseln der Regens mehr auf die Kapuzen, keine Windböen.

Wir hielten an einer Picknickbank und packten aus, was wir hatten. Doch kaum saßen wir, begann der Regen von Neuem. Erst tröpfelte er leicht, dann wurde er wild und ausgelassen. Wir suchten Schutz hinter einer Hütte, und ich entdeckte, dass mein Küken-Poncho weit genug war, um zwei durchweichte Elfjährige unter die Fittiche zu nehmen.

Als der Regen wieder sanft und bindfädig wurde, fuhren wir weiter, die Elfjährigen neu verpackt. Denn jetzt kam der kniffligste Teil der Reise: die Fahrt über einen viel befahrenen, etwa sechs Kilometer langen Damm im Vejlerne Naturreservat – der Preis dafür, dass wir zehn Kilometer abkürzen konnten. Eigentlich wäre unser Weg in einem großen Schwung über Nebenstraßen durch das Reservat gegangen.

„Du fährst am besten hinten“, meinte der Reiseleiter, „dich sieht man am besten.“ So radelte ich als großes, gelbes Warnküken am Ende des Trecks – links von der weißen Begrenzungslinie, damit die Autos mehr Abstand hielten, die Kinder rechts, im Windschatten des Reiseleiters. Ich war nicht nur Warnküken, sondern auch eine radelnde Pilone und hätte nicht wenigen Wagen den Seitenspiegel einklappen können, so eng überholten sie mich.

Nach dem Damm machten wir noch einmal Pause und teilten die letzten Zimtschnecken auf.

Bushaltestelle an der Straße. Zu sehen sind herausschauende Beine, davor Fahrräder. Es regnet.

„Es wird besser“, sagte der Reiseleiter, während wir kauten und deutete auf helle Linien am Horizont. Er behielt recht: Als wir weiterfuhren, klarte es auf und tröpfelte bald nur noch.

Dafür ging es jetzt absurd bergauf. In Norddänemark! Das muss man sich einmal vorstellen. Wir ächzten die Hügel hinauf, die Kinder schoben oder wurden geschoben. Dann endlich, auf einer Hügelkuppe das Schild: Bonderup zwei Kilometer.

Fahrrad vor genanntem Schild

In Bonderup wartete als Entschädigung eine Unterkunft voller Pralinen auf uns – und ein Gastgeber, der alles tat, um unseren Tag versöhnlich enden zu lassen. „Ich habe euch den Kühlschrank voller Essen gepackt“, sagte er und zog an der Tür, die sich schmatzend öffnete und einen halben Supermarkt offenbarte. „Hier“, er deutete auf die Waschmaschine, „könnt ihr waschen und dort“, er deutete in die übrigen Räume, „habe ich euch die Betten bezogen. Die Süßigkeiten auf den Tischen könnt ihr nehmen und das“, er hielt eine kleine Rolle hoch, „sind Tüten. Morgen früh könnt ihr euch Brote schmieren und sie mitnehmen.“ Wir wahrten die Contenance, bis er sich verabschiedet hatte, dann brachen wir in Jubel aus.

Route und Daten zur Etappe - siehe Info unter dem Bild

Nykøbing Mors – Fjerritslev-Bonderup
Entfernung: 61 Kilometer
Höhenmeter: 240
Reine Fahrzeit: 4 Stunden 42
Dauerregen und lebhafter Gegenwind

Eine Radreise durch Dänemark: Von Herning nach Humlum an den Limfjord und weiter nach Nykøbing Mors

21. 07. 2024  •  2 Kommentare

Herning – Humlum | Der Reiseleiter wacht immer früh auf. Er richtet dann erst sich und anschließend den Tag her. Die Tagherrichtung beinhaltet das Herstellen eines Frühstücks, ein wunderbarer Service. Ich liege noch im Bett, rieche Kaffee und Brötchen und denke mir: Noch ein bisschen, dann stehe ich auf.

An diesem Tag wurde der Reiseleiter Kunde seines sonst eigenen Services: Wir hatten Bed & Breakfast gebucht und lagen beide noch im Bett, als ein betörender Frühstücksduft zu uns in Obergeschoss zog. Alsdann brachte Maria auch schon frische Brötchen, Müsli, Joghurt, Milch und …. //*dramaturgische Pause … Waffeln die Treppe hinauf. Wir waren verzückt.

Wir schlugen uns die Bäuche voll. Was nicht mehr reinpasste, durften wir mitnehmen. Welch Geschenk!

Während wir frühstückten, holte der Hausherr im Garten den dänischen Wimpel vom Fahnenmast und hisste die große Nationalflagge. In der Nachbarschaft, erklärte er später, hätten an diesem Wochenende einige Menschen Geburtstag. Da sei es Tradition, die Flagge zur Gratulation zu hissen.

„Übrigens“, sagte Maria, „wenn ihr bis nach Skagen hoch wollt, solltet ihr euch auf etwas gefasst machen.“ In dieser Zeit des Jahres seien eine Menge neureiche Kopenhagener dort – Porsche, Polo-Shirt, Pullover über den Schultern, dazu Aperol Spritz. Wir nahmen das zunächst so zur Kenntnis. Ich werde in einem späteren Beitrag darauf zurückkommen.

Der Tag sollte uns an den Limfjord führen. Wir radelten durch Felder, über Landstraßen und Wirtschaftswege, bis wir Holstebro erreichten. Über das Radfahren durch Dänemark lässt sich wenig erzählen, weil schlichtweg wenig passiert. Stellen Sie sich eine wellige Landschaft aus Korn- und Kartoffelfeldern vor, ab und zu ein Waldsaum, nach einigen Kilometern fahren Sie an ein paar Bauernhöfe vorbei, ab und an kommt eine Kirche. Schwalben kreuzen den Himmel. Raubvögel schweben über den Feldern. Sie hören Ihre Reifen auf dem Asphalt, das Surren der Kette und ein leises Knacken, wenn Sie einen Gang hoch- oder runterschalten. Sie befinden sich in einem Zustand unfokussierter Konzentration; Sie sehen eine einzelne Mohnblume inmitten eines Kornfeldes, ein winziger Frosch hüpft vor Ihnen über den Asphalt. Auf dem Briefkasten eines Bauernhauses sind sieben Figuren abgebildet: Mutter, Vater und fünf Kinder. In der Ferne dunkle Wolken.

Landstraße mit breitem Radstreifen neben einem Feld

In Holstebro begann es zu regnen. Für derartige Ereignisse hatten wir Regenkleidung eingepackt: Kinder und Reiseleiter besitzen Regenjacken und -hosen, ich einen Radponcho. Der Poncho ist gelb, ich sehe in ihm aus wie ein riesiges Küken. Er hat Schlaufen für den Leib, damit er nicht hochweht, und Schlaufen für die Arme, damit er sich wie ein Zelt vom Kopf zum Lenkrad spannt und die Beine trocken hält.

Als es in Holstebro zu regnen begann, just als wir aus der Stadt hinausfuhren und an einem McDonald’s vorbeikamen, waren es bis zu unserem Etappenziel in Humlum noch 24 Kilometer. Auf 24 Kilometern Strecke kann es auf unterschiedliche Arten regnen. Am Anfang regnete es leicht von oben. Dann regnete es fest von oben. Dann regnete es heftig von vorne. Irgendwann regnete es von unten nach oben. Unerfreulicherweise windete es auch; zudem ging es bergauf. Die Hälfte der Strecke schob ich KindDrei gegen den Wind die Hügel hinauf. Irgendwann, wir warfen schon fast am Ziel, hielt sie mir ihre Hand hin und sagte: Schau mal, meine Hand sieht aus wie nach der Badewanne.

Es gibt ein Foto von uns, wie wir auf dem Campingplatz im Humlum ankommen, an unserer gemieteten Hütte. Man nennt diese Art des Wohnens wohl Glamping. Auf dem Foto ist allerdings wenig Glam zu sehen. Wir stehen gut durchgeweicht vor der Hütte, während das Wasser von uns hinab tropft, und gucken bedröppelt.

Der Reiseleiter fuhr noch einmal heldenhaft los, kaufte Abendessen und Aufbackbrötchen. Die Kinder duschten. Ich suchte die Waschmaschine, und wusch alles, was nass geworden war, einmal durch.

Der Tag endete mit Leinen voller Wäsche in einer sehr kleinen Hütte, Nudeln mit Soße und gutem Schlaf.

Herning – Humlum
Entfernung: 60 Kilometer
Höhenmeter: 242
Reine Fahrzeit: 3 Stunden 38


Ein Tag in Humlum | Die Hütte war klein, aber solange sich niemand bewegte, war sie gemütlich. Eigentlich hatten wir keine Wäscheleinen dabei – aber drei Turnbeutel, aus denen der Reiseleiter die Kordeln zog und zu einer Leine spannte.

Als wir am nächsten Tag erwachten, regnete es immer noch. Der Reiseleiter präparierte sich und den Tag, Frühstücksduft zog durch die Hütte. Wir setzten uns zwischen die Leinen und die Wäsche, frühstückten und beschlossen, danach noch einmal ins Bett zu gehen. Die Kinder bekamen das iPad, der Reiseleiter las ein Buch. Mir fielen nach zehn Seiten die Augen zu, und ich nickte noch einmal ein. Als ich erwachte, regnete es immer noch und es roch nach feuchtem Hund. Der Reiseleiter hatte begonnen, unsere Schuhe im Backofen zu trocknen.

Später am Tag klarte es für eine Stunde auf, und wir machten uns auf den Weg zum Limfjord – einmal das Wasser sehen und den Kopf lüften. Während ich anschließend zum Supermarkt fuhr, um fürs Abendessen einzukaufen, gingen der Reiseleiter und die Kinder noch einmal los, baden. Wenn kein Badewetter ist, muss man sich welches vorstellen, dann wird es auch warm.

Panorama-Aufnahme: links Meer, rechts Sand mit Steinen und ein grüner Hügel

Am Abend dann EM-Finale. Wir saßen zwischen weiterhin herabhängenden Hosen und Pullovern, mampften Chips, tranken Limo und feuerten die Spanier (Reiseleiter) und die Engländer an (die Kinder). Mir war es wurscht. Nachdem Schlusspfiff krochen wir in unsere Betten und hörten dem Regen zu, der wieder eingesetzt hatte.


Humlum – Nykøbing Mors | Ein neuer Tag, ein neuer Einsatz für den Kükenponcho. Wir fuhren los, und es regnete. Erst regnete es nur leicht von oben. Dann fuhren wir auf eine Brücke, der Wind peitschte uns die Tropfen ins Gesicht, es regnete wild in die Augen. Ein Moment, in dem man gewöhnlich schlechte Laune bekommt, aber ich hatte keine Gelegenheit, schlechte Laune zu haben, denn ich musste gegen den Wind anfahren – und überhaupt war die Situation ziemlich absurd. Ich meine: Wer fährt bitteschön bei solch einem Wetter Fahrrad?

Als ich am Tag zuvor einkaufen war, hatte ich Mülltüten gekauft, um sie mir um die Schuhe zu wickeln. Man gewinnt keinen Schönheitswettbewerb. Aber ich wollte auch nicht wieder Flossen bekommen und meine Schuhe im Backofen trocknen müssen.

Mülltüten um die Füße

So fuhr ich im wehenden Küken-Poncho, mit flatternden Mülltüten um den Füßen, über den Limfjord in Richtung Uglev.

Als wir die Fähre zur Insel Mors erreichten, nickte der Fährmann uns zu und sagte: „Shitty veijr til cykling“, scheiß Wetter fürs Fahrradfahren. Wie wahr. Und dennoch: Auf der Fähre konnte ich mir die Mülltüten von den Füßen ziehen. Es klarte auf.

Zehn Kilometer vor dem Ziel machten wir noch einmal Halt. Wir saßen auf dem Kies eines Parkplatzes – mit Zimtschnecken, Salzcrackern und Brötchen. Ein Hund kam vorbei, ein schwarzer, wohlgenährter Schnauzer. Er setzte sich zu uns und betrachtete unsere Brötchen. Wir kraulten ihn, er starrte weiter auf die Brötchen. Als wir auf unsere Räder stiegen und wegfuhren, stand er am Rande des Parkplatzes, sah uns nach und trottete dann davon.

Am Abend erreichten wir das Danhostel in Nykøbing Mors.

Die Kinder liefen sofort zum Fjord, der Reiseleiter und ich kochten.

Das war die längste Etappe unserer Reise: 72 Kilometer. Ich werde oft gefragt, wie alt die Kinder sind und wie sie das mitmachen. Die Kinder sind 11, 11 und 14 Jahre alt. Vor zwei Jahren sind wir mit ihnen knapp 50 Kilometer am Tag gefahren. Im vergangenen Jahr fuhren wir mit ihnen vom Münsterland in die Niederlande mit Etappen von 60 bis 65 Kilometern. Damals sagten sie, sie wollten das mal länger machen. Nun sind sie wieder in Jahr älter, die 72 Kilometer haben sie gut geschafft. Wir machen auf unseren Wegen zwei bis drei längere Trink- und Essenspausen, je nach Anstrengung und Umständen. Schön ist natürlich, wenn sich dort ein Spielplatz, ein See oder etwas anderes befindet, das Freude macht. Auf Flachetappen fahren sie bis zu 30 Kilometer durch.

In einer der Packtaschen befindet sich zur Hälfte Essen. Auf einer Etappe essen wir zu Fünft 20 Brötchen, außerdem eine erkleckliche Anzahl Zimtschnecken und Cracker.

Humlum – Nykøbing Mors
Entfernung: 72 Kilometer
Höhenmeter: 403
Reine Fahrzeit: 4 Stunden 53


Cliffhanger | Am Abend saßen der Reiseleiter und ich zusammen und starrten auf verschiedene Wetter-Apps. Die App des dänischen Wetterdienstes war recht zuversichtlich, sagte Regen am Morgen und Regen ab 14 Uhr voraus, dazwischen trocken. Wetter Online zeigte minütlich etwas anderes. Herr Kachelmann sagte Regen voraus – aber keine Regenfelder wie am heutigen Tag, sondern eine tiefblaue Regendecke. Etappenlänge: 71 Kilometer – und keine Möglichkeit, mit einem Zug abzukürzen.

Eine Radreise durch Dänemark: Legoland und die Fahrt von Billund nach Herning

18. 07. 2024  •  9 Kommentare

Legoland | Er war natürlich nicht zu vermeiden: der Besuch im Legoland. 2.145 Dänische Kronen kostet dieses schlanke Vergnügen für fünf Personen. Das sind in Euro und in Worten zweihundertsiebenachtzigeinhalb Stück Geld.

Entsprechend schmierten wir uns am Morgen einen Haufen Brote, packten Äpfel, Müsliriegel und Wasserflaschen ein, denn Pommes waren nicht mehr drin. Beziehungsweise: Falls sie noch drin waren, waren wir nicht mehr gewillt, sie zu bezahlen.

Mein Vergnügen bestand im Wesentlichen darin, auf die Brote aufzupassen. Mir wird schon in einem Linienbus schlecht, bei Karussells wird mir speiübel.Und selbst wenn das nicht so wäre, hätte ich keine Lust, 45 Minuten anzustehen, um einmal im Kreis zu fahren.

Einmalig unternahm ich den Versuch und stellte mich bei einem Fahrgeschäft an, einer Art „Wilden Maus“. Dieser Ritt, so dachte ich, könnte einigermaßen verträglich sein, und man muss ja auch mal etwas wagen. Beim Einsteigen stellte sich jedoch heraus, dass meine Beine zu lang für das Wägelchen waren und ich mich nicht hinsetzen konnte. Da ich die Beine nicht raushängen lassen durften, musste ich wieder aussteigen. Ich ging dann auf die Brote aufpassen.

Das klingt alles ein bisschen unbefriedigend. Das war es jedoch keineswegs. Ich hatte einen wundervollen Tag. Die Kinder rannten von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft, fuhren Achterbahn oder ließen sich von einem Roboterarm über Kopf werfen. Der Reiseleiter musste mit; das Meiste vertrug er auch ganz gut. Nur nach der Robotergeschichte war er etwas grün im Gesicht.

Und ich: las. Ich las fast ein ganzes Buch, saß da, schaute in die Gegend, beobachtete andere Menschen, aß Brote, Äpfel und Müsliriegel, ich baute Dinge aus Lego, musste mit niemandem reden und entspannte mich acht Stunden lang aufs Allerbeste.

Eine Sache tat ich allerdings: Ich fuhr Wasserbob. Ich hege eine Liebe zu Wasserbobs. Sie sind ausreichend aufregend, aber nicht so, dass mir übel wird. Beim Wasserbob im Legoland geht es am Ende steil bergab. Das war großartig und hat mir sehr gut gefallen.

Zum Schluss ein Bemerknis: Obwohl das Publikum fast ausschließlich aus Familien mit Kindern bestand, gab es keinerlei Trotzanfälle, Wutausbrüche oder elterlichen Seltsamkeiten. Eine Welt des Friedens und der guten Laune. Verrückt.


Billund – Herning | Der zweite Fahrtag in Dänemark: Nach dem Besuch im Legoland sattelten wir die Räder und fuhren von Billund nach Herning, 66 Kilometer nach Norden. Während der erste Fahrradtag eher schleppend begann, waren wir diesmal von Beginn an im Tritt: Für die ersten 27 Kilometer bis nach Brande brauchten wir nicht einmal eineinhalb Stunden.

Brande hat etwa 7.500 Einwohner und ist die Heimat des Mode-Unternehmens Bestseller. Zu Bestseller gehören die Marken Jack & Jones, Only, Vero Moda, Mamalicious, Selected und weitere – die genannten, sind die, die mir bekannt waren. Bis ich in Brande vor der Bibliothek saß, wusste ich nicht, dass es alles Marken aus einem Hause sind – und zudem noch dänische.

Die Dänen haben eine wunderbare Eigenschaft: Sie erschaffen Infrastruktur für Menschen. Sie bauen helle, offene Bibliotheken und Begegnungsräume drinnen und draußen, sie bauen Spielplätze, stellen Picknickbänke in die Gegend, haben öffentliche Toiletten und sorgen dafür, dass man sich willkommen fühlt. Man sieht den Orten an: Es ist den Dänen etwas wert, dass alle sich wohl und in ihren Bedürfnissen gesehen fühlen.

Von Brande aus fuhren wir in das Braunkohlerevier nach Søby. Ab den 1940er Jahren bis etwa 1970 wurde hier Braunkohle gewonnen – zunächst mit der Hand. Später war der Abbau mit Maschinen erlaubt. Wer mit harter Arbeit gutes Geld verdienen wollte, war hier richtig; die Möglichkeit zog viele Menschen an. Dank des Braunkohleabbaus in Søby kam Dänemark ohne Brennstoffmangel durch den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach.

Wiese mit weißen und gelben Blüten, darin verrostete Gerätschaften vom Braunkohleabbau

Das Braunkohlemuseum erzählt die Geschichte der Menschen, die von der Braunkohle leben. Sie wohnten in Hütten und Baracken; einer der Arbeiter wohnte jahrelang in einem Kleiderschrank, den er sich mitgebracht hatte. Viele Menschen bauten sich kleine Häuser und wohnten dort mit ihren Familien. Ein Kaufmann eröffnete, eine Schule wurde gegründet, ein Schlachter kam ins Dorf. Frode Petersen, der junge Mann auf dem Schwarz-Weiß-Foto, lebte bis ins Jahr 2002 in seiner Hütte. Der alte Herr neben ihm, auf der Ornamenttapete, ist Otto Rasmussen, der Milchmann und Möbelpacker des Ortes.

Vom Braunkohlemuseum aus fuhren wir weiter.

Die Landschaft zwischen Billund und Herning besteht im Wesentlichen aus Kartoffelfeldern. Die weißen Blüten reichen bis auf die Hügelkuppen, an den Waldrand, den Horizont, je nachdem, was grad da ist. Wir fuhren an Bauernhöfen vorbei. Manchmal reihten sich zwei oder drei aneinander.

Ein Kartoffelfeld

Am späten Nachmittag erreichten wir das Haus von Maria und Henry. Ihre vier Kinder sind aus dem Haus, seit Jahren schon ist im Obergeschoss kein Leben mehr. Deshalb quartieren sie dort nun Gäste ein – Gäste, die die Welt zu ihnen nach Hause bringen. Im ersten Jahr nach der Pandemie, als man wieder reisen durfte, so erzählten sie uns am Abend, hätten sie alle Hände voll zu tun gehabt. In diesem Jahr seien wir die ersten Gäste. Allerdings, sagte Maria, reise sie auch oft zu ihren Kindern und ihren Enkeln. Dann schließe sie den Kalender; möglicherweise liege es daran.

Wir bestellten uns Pizza und Fritten und schliefen danach wunderbar.

Billund – Herning.
Entfernung: 68 Kilometer
Höhenmeter: 237
Reine Fahrzeit: 3 Stunden 37

Eine Radreise durch Dänemark: Die Zugfahrt nach Fredericia und die erste Etappe von Fredericia nach Billund

14. 07. 2024  •  1 Kommentar

Haltern – Fredericia | Wir starten um kurz nach Sieben vor der Haustür: zwei Erwachsene, drei Kinder, fünf Fahrräder, zehn Packtaschen. Der Plan: vier Züge, drei Umstiege. Ziel: Fredericia in Süddänemark. Wir sind gleichzeitig schläfrig und ausgelassen, wie wir uns und die Fahrräder um kurz vor Sieben vor dem Haus aufreihen. Dann geht es los.

Wir blinzeln die Müdigkeit aus den Augen, fahren zum Vor-Ort-Bahnhof und steigen in den Regionalzug nach Münster. Im Fahrradabteil sitzt ein Mann, Kopfhörer, das T-Shirt zu kurz für den Bauch. Er singt:

Verlieb‘ dich nie, nie, nie, niemals nie
In das Mädchen hinter der Theke
Verlieb dich nie, nie, nie, niemals nie
In das Mädchen hinter der Bar
Egal wie schön sie auch ist
Egal wie durstig du bist
Es ist ihr Job, dass sie dich mag

In Münster Frühstück in der Bahnhofshalle. Es gibt Kaffee, Kakao und Croissants. Bahnhofshallen sind heute nicht mehr fürs Sitzen und Warten gemacht, fürs gemütliche Reisen, fürs Verweilen und Betrachten der Menschen. Sie sind dafür gemacht, sie zu durcheilen, mit Rucksäcken und Rollkoffern, hastig, mit einem Pappbecher in der Hand.

Wir steigen in den ICE nach Hamburg. Wer die Fahrradabteile in den Fernzügen designt hat, gehört mit Zu- und Ausstieg nicht unter 50 Haltestellen bestraft. Wir hieven uns, die Taschen, die Räder in den Zug. Es ist eng.

Fahrräder im Fahrradabteil des ICE

Ein Paar mit E-Bikes kommt hinterdrein. Wir schieben die Kinder schon auf die Sitzplätze durch, reichen die Taschen an und helfen den nach uns Kommenden. Es braucht zwei Erwachsene von kräftiger Statur, um die E-Bikes in die Aufhängung zu heben. Dann sitzen wir, spielen UNO und essen Knoppers. Ein Hauch von 1992 durchweht die Reise.

Ausstieg in Hamburg: Kinder raus, Taschen raus, ich raus, Fahrräder raus, Reiseleiter raus. Ein Rad verhakt sich in der Aufhängung, alles verkeilt sich. Es ist ein wildes, verschwitztes Gefummele, so ruppig und unter Druck wie einst beim ersten Geschlechtsverkehr. 

Der RE von Hamburg nach Flensburg: ein Saunabetrieb. Hätten wir Birkenzweige, wir würden uns damit abpeitschen. Auf dem Bahnsteig in Flensburg holen wir tief Luft. 22 Grad, eine Brise weht. Das Glück ist klein und gleichzeitig groß. 

Wir haben hier zwei Stunden Aufenthalt. Auf den Rädern fahren wir in die Stadt, finden Pommes und Eis.

Hafen mit Segelbooten, ein Steg

Wir sehen Boote, Möwen und Wasser. Dann sitzen wir im Intercity nach Fredericia. Die Fahrradabteile sind bekannt kommod, die Sessel polsterig. Ich werde augenblicklich müde, ein Schlummer ergreift mich. Wunderbar.

In Fredericia wohnen wir nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt.

Fünf bepackte Fahrräder vor dem Eingang zu einem Danhostel

Ein Zimmer im Danhostel, der dänischen Jugendherberge. Wieder das Gefühl von 1992, als wir uns zu Fünft das Zimmer beziehen. Wir, zehn Taschen, vier Betten, eine Matratze und ein Tisch – das Zimmer ist voll. Am Ende sind wir alle zu müde, um es unbequem zu finden.

Wir fahren noch kurz zum Strand, stecken einmal die Füße ins Wasser.

Im Hintergrund Strand und Wasser, im Vordergrund ein rot-weiß-gestreifter Turm und blühendes Salbei

Zur zweiten Halbzeit sind wir wieder im Danhostel: EM-Halbfinale, Spanien gegen Frankreich. Das Bild auf dem kleinen Fernseher stockt und ruckelt, das nimmt den Dribblings deutlich den Charme. Dann ist das Spiel vorbei, der Tag ist vorbei, und es braucht keine Gute-Nacht-Geschichte mehr, um einzuschlafen.


Fredericia – Billund | Der erste Radfahrtag führt uns nach Billund: 60 Kilometer durch Südjütland. Wir frühstücken und bepacken die Räder.

Das Gelände ist wellig; wir bemerken es schon nach wenigen Kilometern. Die Fahrt führt auf Hügel hinauf und in Täler hinab – nicht wirklich hoch und auch nicht wirklich tief, aber so, dass es ein stetiges Auf und Ab ist.

Ein Mann, drei Kinder von hinten, während sie durch Felder Fahrrad fahren

Nach acht Kilometern ist bereits ein Dynamo abgefallen, ein Kind musste sich nochmal umziehen, an einem Rad schleift das Schutzblech, wir mussten das erste Mal schieben, haben ungefähr fünfzehn Nacktschnecken überfahren, und der erste Reiseteilnehmer hat schon wieder Hunger. Nach fünfzehn Kilometern halten wir für die erste Rast.

Nach Zufuhr von Zimtschnecken geht es zügiger voran. Dann beginnt es zu regnen. Wir verpacken uns in unsere Regenkleidung: Der Reiseleiter und die Kinder haben Regenjacken und -hosen. Ich habe einen Radponcho, der sich groß und gelb über mich und meine Beine bis zum Lenker spannt: Ich bin ein Riesenküken. Wir sind einen Kilometer gefahren, als aus der Reisegruppe ein „Können wir anhalten, ich muss zum Klo!“ tönt. Wir fahren die nächste Kirche an. An Kirchen sind in Dänemark immer Toiletten.

Wir fahren eine Weile. Es hört zu regnen auf, wir fahren auf, wir fahren ab. Am Grab des Egtved-Mädchens machen wir eine Pause. Vom Grabhügel können wir in die Landschaft schauen. Es hat aufgeklart.

Blauer Himmel mit Schäfchenwolken, darunter Graslandschaft mit kleinen Baumgruppen

Das letzte Stück nach Billund geht über eine Landstraße. Mehr als zwölf Kilometer zieht sie sich schnurgerade durch Felder und Wälder und will kein Ende nehmen. Die Kinder verlangen nach Ankern im immer Gleichen: Jeden Kilometer sage ich an, wie weit es noch ist. So geht es gut, so kommen wir an, erreichen Billund und unser Ferienhaus.

Am Abend, auf dem Weg zum Supermarkt, besteigen wir noch das Lego-Haus. Auf verschiedenen Terrassen hat es Spielgeräte, Schaukeln und Klettermöglichkeiten.

Ein Kind läuft die terassenförmigen Stufen des Lego-Hauses hinauf

Auf dem Sofa, beim EM-Halbfinale Englands gegen die Niederlande, schlafen wir alle ein.


Gelesen | Alena Schröder: Bei euch ist es immer so unheimlich still. Ein Roman vor der Kulisse der Deutschen Wende 1989: Silvia hat gerade ein Kind bekommen. Der Vater will nichts davon wissen. Mit einem klapprigen Polo fährt sie von Berlin nach Ildingen zu ihrer Mutter, mit der sie seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Kontakt hat. Eine Reise in die Vergangenheit – und von dort aus in eine neue Gegenwart. Denn während sie in Ildingen ist, verändert sich nicht nur Deutschland, sondern auch Silvia. Ich habe die Geschichte gerne gelesen: eine Familiengeschichte, die in sich schlüssig und nicht verkitscht ist. In großen Teilen habe ich sie im Legoland gelesen. Dazu mehr beim nächsten Mal.

Zehn Bemerknisse zu einer Reise mit dem Zug nach Barcelona – ein Gastbeitrag des Reiseleiters

3. 04. 2024  •  12 Kommentare

Es folgt: Ein Gastbeitrag des Reiseleiters. Mit jedem seiner drei Kinder unternimmt er einzeln eine Reise. Dieses Jahr war K3 (11) dran. Sie fuhren mit dem Zug vom Münsterland nach Barcelona. Sein Abenteuer in zehn Bemerknissen:

1 – Weltenrettung | Nennen Sie mich naiv, aber ich glaube daran, dass mein Verhalten einen Einfluss hat – auf die Umwelt, das Klima und auf die späteren Entscheidungen meiner Kinder. Der Auftrag lautete also: Erreiche das Reiseziel möglichst nachhaltig.

Tatsächlich ist es recht einfach, mit der Bahn von Köln nach Barcelona zu kommen – wenn man davon absieht, dass man zwölf Stunden auf der Schiene ist und einen Bahnhofswechsel in Paris absolvieren muss. Und: Wenn man die Kosten ausblendet. Die sind nämlich für die Fahrt mit Eurostar und TGV fast vierstellig für zwei Personen und damit locker doppelt so hoch wie für die Alternative mit dem Flieger. Das muss man wirklich wollen!

Nachdem ich den Preis kannte und auch wieder Luft bekam, redete ich mir ein, dass es doch auch ein tolles Erlebnis sein könnte, mit Tempo 300 durch Frankreich zu düsen; dass nur auf diese Weise dem Kind die Entfernungen wirklich gewahr werden können; und dass so eine Zugreise ja auch einen gewissen geografischen Bildungseffekt haben kann.

Fazit nach der Rückkehr: Ich würde es jederzeit wieder so machen. Alles klappte ohne Verspätungen, und die Fahrt war tatsächlich ein Erlebnis.

Den TGV kannte ich bisher nur aus meinem Französisch-Schulbuch aus den 90ern und hatte ihn mir aus dieser Erinnerung heraus etwas luxuriöser vorgestellt. Das Bordbistro hatte enormes Potenzial nach oben und auch sonst war der Komfort eher mittelmäßig. Dennoch waren die Züge auf beiden Fahrten fast komplett ausgebucht – es gab also genug andere Verrückte, die meine Idee teilten (Inlandsflüge sind in Frankreich übrigens weitestgehend verboten, Grüße gehen raus an die deutsche Politik). Sicherlich eine Verbesserung gegenüber den 90ern ist das WLAN im Zug und damit einhergehend die Möglichkeit, das Kind seine Serien bingewatchen zu lassen, wenn die Landschaft gerade nicht so spannend ist.

2 – Tourie-Trubel | Ja, wir waren Teil des Problems, das ist mir klar. Aber dass die Stadt schon Ende März dermaßen überlaufen sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Französische Mittelschulen auf Klassenfahrt, Massen von asiatischen Touristen und deutsche Jugendfussballmannschaften auf Turnierreise bevölkerten die Altstadt und die Touristen-Hotspots. Man kann nachvollziehen, dass die Katalanen trotz der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus inzwischen versuchen gegenzusteuern.

3 – Wetter-Pech | Nachdem Vanessa und ich dieses Jahr schon den schlimmsten Schneesturm seit 30 Jahren erlebt haben, verfolgte mich das Wetter-Pech auch nach Barcelona. Katalonien ächzt unter einer schweren Dürre; seit Wochen zeigte die Wetter-App für die Region zwanzig Grad und Sonne an. Dennoch nahm uns Barcelona mit zwölf Grad und Regen in Empfang – wir hätten auch nach Hamburg fahren können!

Die Barceloner und Barcelonerinnen (ich habe tatsächlich nachgeschlagen, wie sie heißen) freuten sich aber bestimmt über den Regen. Somit machten auch wir das Beste daraus: Aquarium, Einkaufszentrum, Maritim-Museum – und tatsächlich kam am letzen Tag noch die Sonne heraus.

4 – Rutscherampen | #Serviceblog im Selbstversuch: Die angeschrägten Rampen zwischen Gehweg und Straße, für die die Katalanen Naturstein verwenden, können bei Regen unerwartet glatt sein. Wir waren auf dem Weg in die Altstadt und ich schlenderte lässig den Passeig de Gracia entlang, als ich die Grätsche machte und mich auf dem Trottoir wiederfand. Für den Rest der Reise absolvierte ich die Rampen in Tippelschritten.

5 – Teurer Kirchenbesuch | Natürlich wollte das Kind die Sagrada Familia sehen. Auf Anraten Bekannter buchte ich die Eintrittskarten in Voraus: 75 Euro für zwei Personen, stornierbar, mit Audioguide aufenglisch. Wo soll ich anfangen … Sicherheitskontrolle wie am Flughafen, der Audioguidelief nicht, und um uns herum 5.000 andere Touristen – uff!

Der Bau an sich ist beeindruckend. Der ganze Bums soll 2033 fertiggestellt sein. Der zentrale Turm wird dann der höchste Kirchturm der Welt sein. Ich wünsche mir, dass meine 75 Euro in einem Zierelement verbaut werden.

6 – Ruhepol Sarríà | Barcelona ist nicht nur sehr überlaufen, der Verkehr an den Hauptachsen ist trotz aufkeimenden Radverkehrs und sehr gut ausgebautem ÖPNV höllisch. Abseits der Hotspots gibt es allerdings wirklich nette und ruhige Stadtviertel, die immer noch sehr gut angebunden sind.

Gasse, Fenster mit Holzläden und kleinen Balkonen, Rote und beige Fassaden

Wir kamen in Sarríà unter, einem Quartier nördlich der Innenstadt am Fuß der Berge, die Barcelona umgeben. Kleine Sträßchen mit Cafés und Läden, an jeder Ecke nette Parks und Spielplätze – sollte ich einmal nach Barcelona ziehen, käme der Stadtteil auf jeden Fall in die engere Auswahl. Es sind auch in Barcelona die kleinen Dinge, die auffallen: An fast jeder Straßenkreuzung stehen Bänke oder fest montierte Stühle zum Ausruhen. Gerade für ältere Menschen eine tolle Sache – oder wenn man mit zwei schweren Rücksäcken bepackt auf dem Weg zur U-Bahn kurz verschnaufen möchte.

7 – Supermarkt-Overkill | Ich arbeite bei einem großen Lebensmittelhändler. Als Geograph modelliere ich Filialnetze. Bei jeder Reise schaue ich mir deshalb aus beruflichem Interesse Supermärkte vor Ort an, um mir einen Überblick über den Lebensmitteleinzelhandel zu machen.

[Anm. d. Red.: Die Tatsache, dass Supermärkte stets eine große Rolle bei unseren Reisen spielen, wirkt sich sehr positiv auf die Gebäckvorräte aus.]

Fazit für Barcelona: sehr breites Angebot mit starker Diversifizierung und geringem Institutionalisierungsgrad. An jede Ecke rein laufkundenorientierte kleine Nahversorger, inhabergeführte Obst- und Gemüsemärkte, Feinkostläden und ein paar schöne Markthallen. Eine feine Sache!

8 – Galeerenleben | Das Maritim-Museum von Barcelona ist in einer ehemaligen städtischen Werft untergebracht. In früheren Jahrhunderten wurden dort Galeeren gebaut. Mit denen haben die Spanier um die Herrschaft über das Mittelmeer gekämpft.

Das Leben auf einer Galeere, lernten wir, gestaltete sich wenig erquicklich. Die Mannschaft bestand aus Sklaven und Häftlingen, aber auch aus normalen Soldaten. In größeren Galeeren saßen fünf Mann an einem Riemen und ruderten. Der innen Sitzende musste bei jedem Schlag aufstehen und sich wieder hinsetzen. Der außen sitzende Mann musste am wenigsten tun – das waren dann die älteren und verbrauchten Männer. Wurde ein Galeere versenkt, gingen die Sklaven einfach mit unter.

Kaum ein Galeerensklave überlebte mehr als zwei Jahre auf so einem Schiff. Besonders pikant: Sklaven und Häftlinge waren angekettet und durften ihren Platz während der gesamten Fahrt nicht verlassen. Sie verrichteten alles, wirklich alles an ihrem Platz. Gischt und Wellen spülten die Fäkalien fort – im Idealfall. Ein Anpirschen an den Feind war nicht möglich: Die Galeeren stanken so bestialisch, dass man sie über Meilen riechen konnte.

Ich werde in Zukunft weniger über die Arbeit schimpfen.

9 – Tibidabo | Am letzten Tag der Reise gönnten wir uns noch etwas Spaß und besuchten den Tibidabo. Das ist ein fünfhundert Meter hoher Berg am Rande von Barcelona. Hinauf geht es mit einer Standseilbahn. Die Aussicht oben ist atemberaubend.

Neben der Aussicht gab es auf dem Berg eine fürchterlich hässliche Basilika und einen netten, kleinen Freizeitpark. Die Achterbahn stürzte direkt in den Abgrund. Die Schiffschaukel griff das Thema Seefahrt wieder auf (allerdings ohne, dass wir angekettet wurden). Tip für Ihren Besuch (#serviceblog): Früh dort sein, dann sind die Schlangen noch kurz. Die Eintrittskarten, die man am Automaten erwirbt, berechtigen nicht zur Nutzung der Attraktivitäten. Man muss sich an einer weiteren Kasse oben auf dem Berg erst ein Armband geben lassen (dieses Wissen hätte uns eine halbe Stunde Wartezeit am roten Flugzeug erspart).

10 – Familienglück im TGV | Die Rückfahrt war besonders interessant. Schon am Bahnsteig fiel eine  katalanische Großfamilie auf, die unter großer Aufregung und viel Palaver eine absurd hohe Anzahl an Gepäckstücken in den Zug hievte. Die zwei Erwachsenen und sechs Kinder kamen direkt vor uns zum Sitzen. Das war ein Spaß! Eltern und Kinder – Alter: geschätzte zwei bis sechzehn Jahre alt – unterhielten den Wagen bis weit hinter die französische Grenze. Es wurde gelacht, geschrien, getrunken (viel) und gegessen (enorm viel). Ich habe selbst drei Kinder und Verständnis, wenn es lauter wird – aber so laut! Das war eindrücklich.

Irgendwo zwischen Perpignan und Narbonne fiel die Familie in den Schlaf. Die Kleinen kuschelten sich an die Großen, die Füße des Vaters, nackt, lagen auf dem Tisch neben den Essensresten. Der Waggon hielt den Atem an. Und ich dachte mir: Das hättest du im Flugzeug so nicht erlebt. Alles richtig gemacht.

Vielen Dank für Ihr Interesse!  

Wie ich nach Lingen fuhr und mich dort selbst verteidigte. Außerdem: Zone of Interest und armenisches Kochen.

13. 03. 2024  •  9 Kommentare

Lingen | Am vergangenen Wochenende fuhr ich nach Lingen an der Ems. Sie dürfen mit Fug und Recht fragen, warum ich das tat, das ist nun wirklich nicht naheliegend. Wäre ich nicht dorthin entführt worden, wäre ich in meinem Leben niemals nach Lingen gekommen.

Der Hintergrund ist, dass ich Teil einer Reisegruppe war, die nicht wusste, wohin es ging, und auch nicht wusste, was am Zielort geschehen würde. Dieser Umstand ist kein Bug, sondern ein Feature. Die Reisegruppe ist der Dortmunder Agora Club Tangent (ACT), in dem ich Mitglied bin; der ACT ist das Seniorenheim des Ladies‘ Circle, in dem ich dereinst ebenfalls Mitglied war, aber mit meinem meinem 45. Lebensjahr turnusmäßig ausschied. Einmal im Jahr organisiert ein Mitglied des ACT einen Wochenendtrip. Die Mitreisenden erfahren nicht, wohin es geht; das Fahrtziel muss lediglich in zwei, drei Stunden zu erreichen sein. So landete ich in Lingen.

Der Vorteil, mit einem Club mittelalter Damen zu verreisen, liegt darin, dass alle fast alles schon erlebt haben: Eheschließungen, Scheidungen, Neuverliebungen, kleine Kinder, pubertierende Kinder, aus dem Haushalt ausziehende Kinder, körperliche und seelische Gebrechen, von Orthopädie bis Gynäkologie, Gerontologie (natürlich), selbst Astrologie. Jedes Lebensthema ist anschlussfähig in der Gruppe. Wunderbar.

Ein Programmpunkt war Krav Maga, Selbstverteidigung. Eine Freundin des Clubs führt in Lingen ein Fitnessstudio, bietet Personal Training und eben auch Selbstverteidigung. Wir bekamen einen zweistündigen Crash-Kurs. Das Motto von Krav Maga: Head and Nuts, Kopf und Nüsse – wenn’s hart auf hart kommt, geht’s immer gegen diese Körperteile, bei den Herren wie bei den Damen. Das war sehr lehrreich; ich stellte mich trotz meines friedfertigen Wesens als talentiert heraus. Dreißig Jahre in einer aggressiven Kontaktsportart und eine Karriere im Abwehrmittelblock scheinen für diese Sportart hilfreich zu sein.

Wir lernten auch etwas über die Stadt. Zwei Kivelinge, örtliche Junggesellen, führten uns durch Lingen. Wir erfuhren etwas übers Kievelingsdasein, über die Sektionen, in denen die unverheirateten Bürgersöhne sich organisieren, und über ihre Aktivitäten; aus den Ausführungen erinnere ich, dass viel getrunken wird, allerdings keine Limonade. Außerdem findet alle drei Jahre das Kivelingsfest in Lingen statt, ein Volkfest, bei dem ebenfalls viel getrunken wird. Dem ist zuträglich, dass Lingen eine Bier-Kultur pflegt. In der Alten Posthalterei, einem Kneipenrestaurant, wird allerlei angeboten; wir kosteten und besuchten zudem Heidis Litfass, in dem auch getrunken wird. Alles in allem verfestigte sich der Eindruck, dass die Menschen in Lingen viel Durst haben.


Heimgymnastik | Wir haben hier ein Rudergerät, das ich bisweilen benutze, und neuerdings auch ein Wahu-Board. Ein Weihnachtsgeschenk für die Kinder, das sich als gutes Traininhgsgerät auch für uns Erwachsene erweist. Der Reiseleiter und ich machen Kniebeugen auf dem wackeligen Ding und können danach zwei Tage nicht laufen. Anscheinend haben wir es nötig.


Gesehen | Zone of Interest. Verstörender Film. Unfassbar guter Film. Eine beachtliche Schauspielleistung; besonders Christian Friedel hat mich beeindruckend – noch mehr als Sandra Hüller als seine Gattin. Friedel gelingt es, Rudolf Höss, dem Ökonom der Massenvernichtung, dem Prozessingenieur der Vergasung und Verbrennung, menschliche Momente abzuringen und gleichzeitig eine Grausamkeit zu zeigen, die in keinen Moment körperlich ist. Es lässt einen erschüttert zurück. Der Sound ist beklemmend und hat den Oscar verdient. Der Film wurde mit versteckten Kameras gedreht, die Schauspieler:innen bewegten sich frei im Haus und spielten einfach, wohnten, aßen, lebten. Große Filmkunst. Unerträglich.


Schlauer werden | Ich habe ein bisschen Luft in meinem Kalender. Das ist gut. Ich nutze sie fürs Lesen. Dank meiner Fortbildung an der Fernuni habe ich wieder Blut geleckt, mich mit Wissenschaft und Fachbüchern zu beschäftigen. Ich habe mir Motivation und Handeln reingezogen, den Klassiker von Jutta und Heinz Heckhausen (Hrsg.); seit meinem Studium gibt es doch einige neue Erkenntnisse. Werde mich nun Arbeits- und Organisationspsychologie und der Psychologie der Entscheidung widmen, um auch hier wieder näher an aktuelle Forschung zu kommen.


Armenisch kochen | Diese Woche brachte ich mein armenisches Kochbuch zur Anwendung, das schon seit Weihnachten in meinem Haushalt wohnt, für das ich aber bislang keine Muße hatte.

Montag: Adjarakan Khachapuri (Teigschiffchen mit Käse und Ei). Ich ergänzte Frühlingszwiebel zum Rezept.

Teigschiffchen mit Käse und Ei

Dienstag: Vospov Aghtsan (Linsensalat) und Jingalov Hats (Brot mit Kräutern)

Vospov Aghtsan (Linsensalat) und Jingalov Hats (Brot mit Kräutern)

Beides lecker. Der Reiseleiter gab zu Protokoll, dass die Mahlzeiten sicherlich auch kaukasische Minenarbeiter sättigen.


Gesehen | 37 Grad: Burnout auf dem Bauernhof – Landwirte kämpfen gegen ihre Depression


Schweine | Um nochmal auf den Beginn zurückzukommen, die Reise nach Lingen: Ein anschlussfähiges Lebensthema war auch das Thema „Meerschweine“, das irgendwer irgendwann aufmachte, und in dem ich dann erzählte, dass Abendessen, das Dramaschwein, quasi vergoldet sei, nachdem wir es mit einer Glatze beim Tierarzt vorstellen mussten und es ein Mittel gegen Hautpilz bekam; eine Unternehmung, die uns ein Vielfaches kostete, als wir für das Schwein bezahlt hatten – eine Notschlachtung wäre finanziell angemessener gewesen. Daraufhin erzählte meine Mitreisende die Geschichte des Familienzwergkaninchens, das ebenfalls ein kleines Leiden hatte und dem Tierarzt vorgestellt wurde. Sie bat den Veterinär, dass er bei den Behandlungsoptionen bitte berücksichtige, dass dieses Tier, nun ja, eben ein Zwergkaninchen und kein Lipizanerhengst sei. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, brach ihr Sohn neben ihr in Tränen aus; er heulte, dass der Rotz das Kinn hinabfloss; unter Schluchzen sprach der Bub wütende Worten über Ethik und Moral. Daraufhin wurde das Zwergkaninchen stationär aufgenommen, erhielt ein Einzelzimmer und kam kurzerhand in die monetäre Reichweite eines Lipizaners.

Die Schweine kommen in den Genuss von Obstbaumzweigen: Im Dortmunder Garten schnitt ich Bäume. Die Zweige nahm ich mit nach Haltern. Der Reiseleiter baute den Schweinen daraus einen Tunnel. Sie erinnerten sich daraufhin daran, dass sie Nagetiere sind, und knabbern nun mit großer Hingabe die Apfel- und Kirschbaumzweige ab.

Ein Besuch in Utrecht und der Vortrag eines Wohnwendeökonoms

26. 02. 2024  •  8 Kommentare

Expedition nach Utrecht | Am Wochenende fuhr ich nach Utrecht, gemeinsam mit dem Reiseleiter. Der Reiseleiter hatte vorab einen Reiseführer studiert – mit dem Ergebnis, dass wir die Reise auf uns zukommen lassen sollten, ohne Plan. So stiegen wir also in den Zug, der uns erstaunlich schnell nach Utrecht brachte, in zweieinhalb Stunden nur. Der Reiseleiter, der zweimal wöchentlich zum Arbeitgeber nach Köln pendelt und hart unter den Widrigkeiten des Bahnfahrens leidet, meinte, dass er möglicherweise einfacher nach Utrecht als nach Köln käme und dieser Sachverhalt Erwägungen nach sich ziehen könnte, langfristig. Er verwarf den Gedanken dann aber doch wieder, vorläufig, aus Liebe zur Arbeitsstelle.

Wir kamen also an, es war Samstagmorgen, schlossen unsere Rucksäcke in ein Schließfach und marschierten los, ohne Plan, wie geplant. Wenn man in Utrecht aus dem Bahnhof tritt, steht dort ein monumentales Einkaufszentrum, das größte überdachte Ding Europas. Es ist erstaunlicherweise genauso wenig einladend wie alle Einkaufszentren und macht ebensowenig Spaß. Aber wir gingen hindurch, um in die Stadt zu kommen. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum begegnete uns das Fahrradparkhaus. Es hat zwölfeinhalbtausend Stellplätze, und wie wir sehen konnten, zumindest auf der ersten Etage, waren fast alle besetzt. Die Leute sausten hinein und hinaus. Es war erfreulich anzusehen. Wir standen eine ganze Weile dort.

Die Innenstadt ist autofrei: Gassen und Grachten, Geschäfte und Cafés, und es war erstaunlich viel los, man könnte auch von Menschenmassen sprechen. In Utrechts Altstadt biegen überall Gässchen ab, oftmals begegnet man Wasser, und es ist nicht ganz klar, wohin man nun soll, weil es überall hübsch ist. Man möchte in diese und in jene Straße abbiegen, mit der Aufmerksamkeitsspanne eines umherflatternden Schmetterlings.

Irgendwann aber kommt man zurecht und denkt: „Hier war ich schonmal“, dann erkennt man erstmals Dinge wieder und es kommt das Gefühl auf, sich irgendwie orientieren zu können.

Im Reiseführer hatten wir von einem Blumenmarkt gelesen, der immer Samstags stattfindet und von dem niemand ohne Blumenzwiebel nach Hause geht. Die Autoren hatten recht. Ich kaufte einen Haufen Blumenzwiebeln, die der Reiseleiter fortan tragen durfte.

Alsdann war es an der Zeit, ein Café zu besuchen. Wir beschlossen, erst ein Bier und dann einen Kaffee zu trinken. Damit das Bier nicht so alleine war, aßen wir ein Brötchen mit Apfel und Ziegenkäse dazu – und Kürbissuppe. Das war schmackhaft. Wir saßen dabei an einer Gracht, um nicht zu sagen: darüber. Das Haus ragte etwas übers Wasser. Manchmal fuhr ein Schiff vorbei, manchmal paddelten Kajakfahrer, wir besäuselten uns leicht, das Leben war wunderbar.

Blick auf einem Sprossenfenster auf das Ufer der Gracht

Nicht nur Blumenzwiebeln, auch Buchläden hatten eine Anziehung auf uns. Wir entdeckten, dass es in Utrechts Buchläden viele englischsprachige Bücher gibt, und zwar jene, die einem in Deutschland nicht unterkommen: Bücher aus kleineren Verlagen und solche, die jenseits des Mainstreams der Spiegel-Bestsellerliste stattfinden. Wir arbeiteten uns durch alle Buchhandlungen der Stadt, einschließlich des ältesten feminstischen Buchladens der Niederlande, und fanden in jedem der Geschäfte etwas, das der Reiseleiter tragen durfte.

Holzleiter vor einem Bücherregal

Insofern gesellten sich etliche Bücher zu den Blumenzwiebeln, weshalb es irgendwann an der Zeit war, das Hotel aufzusuchen, bevor der Reiseleiter sich zum orthopädischen Notfall entwickeln würde.

Am nächsten Tag schlossen wir unser Gepäck wieder im Bahnhof ein, dazu die Blumenzwiebeln und die Bücher und gingen ins Centraal Museum. Es verfügt über eine umfangreiche Sammlung aus Kunst, Design, Mode und Stadtgeschichte; das konnte nicht falsch sein für uns als Utrecht-Newbies. Am meisten mochte ich die Sonderausstellung mit fotorealistischen Werken, also mit Bildern, die gemalt sind, aber aussehen wie Fotos. Das gefiel mir, denn bei dieser Art der Malerei sieht man besonders gut, was abgebildet ist; das kann man nicht von jedem Kunstwerk behaupten.

Außerdem mochte ich das Atelier von Dick Bruna, dem Erfinder von Nijntje (deutsch: Miffy) und Illustrator von Buchumschlägen und Plakaten. Er lebte in Utrecht und mochte es gemütlich. Ich war sogleich versucht, mich nur noch aufs Schriftstellertum zu konzentrieren und ebenfalls solch ein Atelier zu bewohnen, nur um während des Arbeitens auch in einer Hängematte liegen zu können – wie Dick Bruna, wenn er nachdachte.

Atelier von Dick Bruna in einem Dachgeschoss: Es sieht etwas durcheinander, aber gemütlich aus.

Wir kehrten nochmal in einem Restaurant ein, diesmal in ein vietnamesisches in einer etwas abseitigen Straße; der Ausflug lohnte sich. Dann holten wir unsere Rucksäcke und Bücher und Blumenzwiebeln aus dem Schließfach und fuhren zurück nach Hause, wieder in zweieinhalb Stunden und ohne Zwischenfälle. Das war komfortabel.

Mehr über Utrechts autofreie Innenstadt bei Bloomberg (How Utrecht Became a Paradise for Cyclists) und auf einer irischen Website: How much can a city’s street change in about a decade? Before/after images from Utrecht.


Gelesen | Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Just an dem Tag, an dem Gabriele von Arnim ihren Mann verlassen möchte, erleidet dieser einen Schlaganfall – und zehn Tage später den zweiten. Er wird aus allem herauskatapultiert: aus seinem Berufsleben und seinen privaten Plänen. Seiner Frau geht es genauso. Was folgt, sind zehn gemeinsame Jahre der Pflege, der Zuwendung und Fürsorge, aber auch der Übergriffigkeit, der Hilflosigkeit und der Balance zwischen Würde und Demütigung. Eine sehr nahe Erzählung, die nicht mit dem Tod endet, sondern zwei Jahre danach.

Gelesen | Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Imre Kertész, geboren in Budapest, wurde als 14-Jähriger nach Auschwitz verschleppt, kam anschließend nach Buchenwald und in das Buchenwalder Außenlager nach Zeitz. Im Roman erzählt er seine Geschichte im Plauderton eines unbedarften Teenagers: die Fahrten im Zugwaggon, das Sortieren der Häftlinge, die Vernichtung der Mitreisenden, die Arbeit und das Leben im Lager. Schließlich wird er krank – was ihm erst fast das Leben kostet und dann sein Leben rettet. Ein Buch, das noch lange nachhallt.

Gelesen | Tagebuchbloggen: Little Ente ist weg

Gehört | Elitenforscher Michael Hartmann zu Gast bei Jung & Naiv. Ich habe erst die ersten eineinhalb von vier Stunden gehört. Aber die sind schon weiterempfehlenswert. Außerdem möchte ich eine Erkenntnis teilen: Hartmann argumentiert deutlich pro Frauenquote, ergänzt aber eine interessante Beobachtung aus der Forschung. Denn Ergebnis eine funktionierenden Frauenquote ist, dass Nicht-Akademiker:innen benachteiligt werden – oder anders gesagt: Bürgertöchter verdrängen Arbeiterkinder. Der Begriff dazu ist homosoziale Kooptation: Gleich und Gleich gesellt sich gern; Entscheider:innen bevorzugen diejenigen Kandidat:innen, die ihnen ähnlich und deshalb vertrauter sind; Aspekte sind hier beispielsweise Geschlecht, Habitus, gemeinsame Glaubenssätze, Interessen und Sozialisierungserfahrungen. Steht das Geschlecht als Variable nicht zur Verfügung, weil es eine Quote gibt, werden die anderen Merkmale dennoch – mitunter stärker – aufrecht erhalten.


Frühjahrsbereitschaft | Ich wäre jetzt übrigens bereit fürs Frühjahr, insbesondere für den Start ins Gartenjahr. Sie wissen schon: Hände in die Erde und Setzlinge einbuddeln, ein bisschen umgraben, harken und nachbessern – und freudig streicheln, was bereits aus der Erde guckt. Ich wäre auch bereit, in den Blumemmarkt zu fahren, Pflanzen zu kaufen, sie in Töpfe zu setzen und die Töpfe dann hübsch zu drappieren, etwa vor die Haustür oder auf der Terrasse. Ich wäre auch bereit, Rad zu fahren, nicht vermummt wie jetzt in Februar, sondern nur mit einem dünnen Pullover bekleidet, mit warmem Wind im Gesicht. Ich wäre bereit, die Blumenzwiebeln aus Utrecht zu setzen, in Töpfe und Beete, vors Haus und hinters Haus. Für all das wäre ich bereit, an mir soll es also nicht liegen, wenn noch Winter ist.

Immerhin bemerkte ich auf der Rückfahrt aus Utrecht, dass die Sonne nun nicht mehr am Nachmittag untergeht, sondern zu einer Tageszeit, die man fast schon Abend nennen kann. Wir fuhren heim, es war 18 Uhr, und ich konnte noch aus dem Fenster schauen. Das stimmte mich froh.


Wohnwende | In der vergangenen Woche besuchte ich einen Vortrag von Daniel Fuhrhop, einem Mann, der sich mit unsichtbarem Wohnraum beschäftigt. Er nennt sich „Wohnwendeökonom“, was einerseits eine gute Marketingnummer ist. Andererseits liefert er tatsächlich einen interessanten Beitrag zur Wohnungsnot in den Städten. So sagt er – ich gebe hier eine Managementsummary -, dass es ausreichend Wohnraum gebe und dass er nur schlecht verteilt sei: Ein Drittel der deutschen Rentnerinnen und Rentner lebe auf mehr als 100 Quadratmetern. Die Gründe sind klar: Die Kinder ziehen aus, irgendwann verstirbt der:die Partner:in, man ist allein, kann oder möchte sich aber nicht vom Eigentum trennen. Für die Wohnpolitik, so Fuhrhop, sei deshalb ein Schlüssel, Renter:innen bei einem Umzug in ein kleineres Zuhause zu motivieren und zu unterstützen – nur jene, die wollen, versteht sich, aber das seien immerhin einige: Solch ein Eigenheim kann schließlich auch eine Last sein. Die Süddeutsche Zeitung hat diesem Thema jüngst einen Artikel gewidmet: Oma soll umziehen [€].

Eine weitere Möglichkeiten für mehr Wohnraum, so Fuhrhop, sei eine Form der Untermiete; es nennt sich „Wohnen gegen Hilfe“: Student:in oder Geflüchtete:r zieht bei älterem Menschen ein, zahlt keine Miete und verrichtet dafür haushaltsnahe Tätigkeiten. In Belgien gebe es dafür professionelle Agenturen, die ein Casting und damit Sicherheit garantieren und bei Konflikten unterstützen.

Auch die Anzahl der unvermieteten Wohnungen ist nach Fuhrhops Ansicht spannend: Etliche Wohnungen in Städten seien ungenutzt, eine genaue Zahl sei oft nicht erfasst, gerade in kleineren Orten. Auch die seien unsichtbarer Wohnraum. Der Grund sind in kleineren Städten nicht Immobiliengesellschaften, die spekulieren, sondern: Die Vermieterin hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht, hat es nicht unbedingt nötig zu vermieten und lässt nun lieber leerstehen.

Insgesamt ein interessanter Vortrag. Die Zahlen für meine Wohnstadt Haltern am See zeigten das ganze Problem des Ortes: Hier gibt es etwas mehr als 10.000 Wohngebäude für 39.000 Einwohner:innen. 6.390 dieser Gebäude, also fast zwei Drittel, sind Einfamilienhäuser, 2.500 sind Zweifamilienhäuser und nur ein kläglicher Rest Mehrfamilienhäuser. Wer hier mehr als ein Kind hat und mit überschaubarem Einkommen eine Wohnung sucht, ist aufgeschmissen, die gibt es nämlich nicht. Stattdessen gibt es viele Ein-Personen-Haushalte in den mehr als 6.000 Einfamilienhäusern.


Schweine | Damit es nicht wieder zu Verwirrungen kommt: Nach dem Schweinebild ist Schluss. Bitte würdigen Sie die präzise kommunizierte Erwartungshaltung des Pionierschweins (Mitte).

Drei Schweine, von links nach rechts: Das Dramaschwein mit vorgereckten Kopf, schnüffelnd. In der Mitte das Pionierschwein, die Pfoten aus die Futterschale aufgestützt, erwartungsvoll. Rechts, in einer Weidenrolle, wohlig liegend, der Dicke.

Eine Reise in den Schneesturm von Aarhus

7. 01. 2024  •  21 Kommentare

Schön, dass wir da sind | Es schneit. In großen, weichen Flocken. In kleinen, harten Grieseln. Es schneit von rechts nach links und von oben nach unten, in einzelnen Flocken und in Wolken. Der Wind treibt den Schnee ins Gesicht, in die Augen, von oben in die Jacke. Er lässt die Straßenschilder zittern und klappern, sie vibrieren im Sturm, wüten in ihren Fundamenten. Der Wind drückt den Schnee gegen Fenster und in Hauseingänge, er türmt ihn vor Türen auf. Eiszapfen wachsen; sie wachsen schräg von den Fensterbänken. Auch sie sind auf der Flucht vor dem Wind. Eine Dachlawine stürzt hinab. Mit einem dumpfen Poltern landet sie auf dem Pflaster. Eine Frau springt beiseite, schaut mich an, lacht und sagt etwas auf Dänisch.

Es ist der stärkste Schneesturm seit fast dreißig Jahren in Dänemark, und wir sind dabei. Der Schnee bleibt an der Hose und der Jacke kleben; von hinten sehen wir aus wie immer, von vorne bedeckt uns ein weißes Brett. Ich trage eine Mütze, über der Mütze die Kapuze meines Hoodies, darüber die Kapuze der Jacke. Bis zur Nasenspitze ist alles zugezogen.

Wir kämpfen uns aus Trøjborg hinab in die Stadt. Wir schauen mal, wie weit wir kommen, haben wir gesagt, uns wir kommen ganz gut voran. Es fährt kein Bus, es fährt keine Straßenbahn, aber es fahren auch keine Autos. Kaum jemand wagt sich hinaus, nur wir. Wir fühlen uns wie Ernest Shackleton bei unserer Eroberung des Kirkegårdsvej hinein in die Altstadt.

Die Cafés, Restaurants und kleinen Läden, sie alle bleiben heute geschlossen. „Lukket på grund af snestorm“, steht auf handgekritzelten Schildern an den Türen. Nur Supermärkte und staatliche Museen haben geöffnet. Also stapfen wir zum Kunstmuseum ARoS. Bevor wir das Museum betreten, schlagen wir das Schneebrett von uns ab; in kleinen Platten fällt es in die Drehtür. Wir schütteln uns. Eine Frau lacht und und sagt: „Velkommen til ARoS! Dejligt at du er her!“ Schön, dass Ihr da seid! – das finden wir auch.

Auf dem Rückweg frischt der Sturm weiter auf, treibt Eisstücke in unsere Gesichter, schiebt uns über Kreuzungen und die Steigung am Friedhof hinauf.

Die ganze Nacht über pfeift der Wind ums Haus, wirbelt Schnee in alle Ecken, türmt ihn vor den Fenstern auf, auf den Autos und Mülltonnen, deckt Bänke und Fahrräder zu. Erst, als wir am Morgen unsere Köpfe in die Winterluft stecken, haben Sturm und Schnee nachgelassen. Alles ist weiß und leise.


Lakritz und Knäckebrot | Am Tag zuvor sind wir angekommen, mit Umstiegen in Münster, Hamburg, Flensburg und Fredericia. Ohne Verspätung oder anderes Unbill, alles lief glatt. In der dänischen Bahn gab es Kaffee und Lakritz. Auf dem Rückweg werden wir auch Frühstück serviert bekommen, ein Brötchen mit Marmelade und zwei Scheiben Käse auf einem Teller, auf Wunsch auch Knäckebrot. Insgesamt wird es bei den acht Umstiegen keine Probleme geben. Lediglich auf auf dem Rückweg haben wir eine Stunde Verspätung – eine Stunde auf zwanzig Stunden Fahrt, das ist in Ordnung.


Der Junge | Das ARoS Kunstmuseum, in das der Sturm uns hineinweht, hat einen Regenbogen auf dem Dach. Bei schönem Wetter kann man über die ganze Stadt gucken und sie in allen Farben sehen. Heute drückt sich der Wind durch die Ritzen. Der Schnee klebt schwer am Glas. Aber dennoch lassen sich die Strukturen der Stadt erkennen: das alte Aarhus, die Quartiere, die Kirchen.

Panoramaaufnahme: Zentral der Regenbogengang, rechts und links Blick hinunter in die Stadt

In den Stockwerken darunter: der Boy von Ron Mueck, der mir unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigt, je nachdem, wo ich stehe; die Bilder dänischer Maler, Werke von Dalì, Installationen zu Natur und Umwelt. Und ein Café. Wir werden in den kommenden Tagen feststellen, dass kaffe og kage, Kaffee und Kuchen, hier in Dänemark mehr sind als ein Getränk und eine Speise: Sie sind eine Lebenskunst.


Tausche Stroh gegen Schaf | Unsere Wohnung hat kein WLAN – also: Eigentlich schon, aber nicht, während wir dort sind. Der Fernseher läuft auch über Internet, will heißen: Er läuft aktuell nicht. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, während sich draußen der Schnee türmt. Im Regal steht ein Karton „Siedler von Catan“, dänische Version; wir können die Regeln auch ohne Sprache und spielen drei Partien.


Eisbaden | Zwei Tage später sitzen wir in einem Café am Havnebadet, dem Freibad im Hafenbecken, in dem das Wasser gerade zu Eis gefriert. Dünne, noch nicht weiße, noch transparent gepuderte Platten schwimmen auf der Oberfläche, durchzogen von Rissen. Wir kommen von draußen, vor uns steht kaffe og kage. Es hat inzwischen minus sechs Grad dort draußen, im Windchill auch weniger, minus zehn, minus elf. Unsere Wangen sind gerötet, wir sind grad am Meer entlang spaziert, die Promenade auf Ø entlang, dem Stadtteil im alten Hafengebiet, dessen Namen aus nur einem Buchstaben besteht. Wir haben Architektur geguckt: den Isbjerget, den Eisberg, und das 142 Meter hohe Lighthouse, für dessen Verankerung sie achtundzwanzig Betonpfähle siebzig Meter tief in die Erde gerammt haben.

Plötzlich, wir schauen von unserem Gebäck auf, stehen draußen Zwei in Badekleidung. Dampf steigt von ihren Körpern auf. Sie legen sich nieder in den Schnee, wälzen sich von dem Rücken auf den Bauch wie Seehunde, bewerfen sich mit Schneebällen. Der Reiseleiter beißt in seine Zimschnecke und brummt „Forrüffte!“ Vielleicht meint er „Verrückte“, aber er hat den Mund voller Kanelsnegle; man kann ihn nicht gut verstehen.

Später sehen wir: Das Freibad hat geöffnet, kostenlos. Wir könnten, wenn wir wollten.

Freibad im Hafenbecken mit gefrierendem Wasser

Filmtheater | Einmal gehen wir abends ins Kino oder besser gesagt: in ein Filmtheater. Es hat wieder geöffnet nach dem Schneesturm, und ein zweiter Siedler-Abend wäre zu fade, ganz ohne Erweiterungen.

Kino-Foyer mit Retro-Lampen und einer blau schimmernden Uhr, einem alten Filmplakat und Sofa und Stühlen

Das Foyer empfängt uns mit der Vergangenheit, der Kinosaal selbst hat nur vier Reihen. Es läuft Napoleon, den wir ohnehin noch sehen wollen, Englisch mit dänischen Untertiteln. Sprache erweist sich allerdings als nicht wichtig in diesem Film: Es wird hauptsächlich gemetzelt, und wenn nicht gemetzelt wird, wird geschnackselt. Wir können gut folgen.


Street Food | An drei von vier Abenden essen wir in der Street-Food-Halle an der Rutebilstation, dem Busbahnhof. Ein Industriehalle, darin Seecontainer, vor den Seecontainern Biertischgarnituren, garniert mit ein paar Eimern Farbe, Lichtern, Girlanden und etwas Street Art. Empfehlung: der große indische Teller mit Paneer Tikka Masala, Samosas, Mango Chutney und zweierlei Brot – und als Dessert ein Crêpes mit Vanillezucker.


Die Summe der kleinen Dinge | In der Street-Food-Halle gibt es eine Kinderecke. Im Bahnhof von Fredericia gibt es einen Wartesaal mit Sofas und Pflanzen – und mit einer Kinderecke. Die Bibliothek von Aarhus, Dokk1, hat Parkplätze für Kinderwagen; die ganze erste Etage ist Kindern gewidmet. Sie können Lego bauen, haben einen Toberaum, einen Kinderspielplatz, Rampen zum Rennen, Eisenbahnen zum Spielen, ihre Steckenpferde haben Ställe, es gibt Konsolen zum Zocken und einen Maker Space für Jugendliche.

Die Mülleimer haben eine extra Ablage für Pfandflaschen, serienmäßig, um es Pfandsammlern einfacher zu machen.

Pfandregal am Mülleimer

In der Stadt stehen viele Bänke, lange Bänke zum Verweilen und Draufliegen. Der öffentliche Raum gehört – ebenso wie die Bibliothek – den Menschen.

Die meisten Museen, Cafés und Restaurants haben Unisex-Toiletten.

Noch während des Schneesturms wurden die Radwege geräumt. Während der gesamten vier Tage, die wir dort waren, waren viele Radwege frei. Auch Gehwege – zum Beispiel auf dem Friedhof – wurden geräumt. Die Straßen fanden kaum Berücksichtigung. Sie wurden von den Autos freigefahren – oder auch nicht.

Geräumter Radweg

Wir benötigten kein Bargeld. Wir haben auch kein Geld abgehoben, besaßen also keine Dänischen Kronen in Scheinen oder Münzen. Bargeldzahlung war nirgendwo vorgesehen; bisweilen gab es nicht einmal Bargeldkassen. Wir konnten (und mussten) immer und überall mit Karte bezahlen.

Altstadt mit Lichter-Schneeflocken und erleuchteten Geschhäften

Aarhus hat Wikinger-Ampelmännchen.

Als am Freitagnachmittag die Busse wieder fahren, sind alle Menschen glücklich. Es ist ein Abenteuer, über die Schneehaufen zu steigen, die die Haltestellen von den Fahrbahnen trennen: ein Haufen vor dem Radweg, ein weiterer vor dem Bus, beide oberschenkelhoch – es ist nicht einfach hineinzugelangen. Doch man hilft sich. Überhaupt sind alle guter Laune.


Gender-Gaga | Wir besuchen auch das Gender Museum Denmark, ein Wunsch des Reiseleiters. Ehemals das Frauenmuseum, widmet es sich nun allen Geschlechtern. Man spürt noch den ehemaligen Schwerpunkt, denn es geht vor allem um Frauen, um Frauen im Verhältnis zu Männern und nur ganz am Rande um Transmenschen und andere Geschlechter.

Interessant ist, dass Dänemark im Gleichstellungsindex gar nicht mal so gut dasteht: Was die wirtschaftliche Gleichstellung und Bildungsgerechtigkeit angeht ja, nicht aber in Bezug auf die politische Teilhabe. Auch hier sind Frauen unterrepräsentiert. Die Daten für viele Länder kann man im Global Gender Gap Report nachlesen.

Kaffe og kage im Gendermuseum:

Antikes Café-Ambiente, auf dem Tisch eine Kerze, ein Milchkaffee und Kuchen, außerdem eine Limonade


Gelesen | Ich hatte etwas Zeit im Zug und las Texte rund um die Proteste der Bauern. Oder sind es eher Proteste von Rechtsradikalen, die sich der Bauerndemonstrationen bemächtigen? Der Bauernverband scheint an einer Klarstellung nicht interessiert. Tatsache ist: Rechtsextreme träumen von einem Tag-X-Szenarion, dem Tag des großen Generalstreiks. Dafür kapern sie jedes sich bietende Thema, von Migration über Pandemie, Energieversorgung bis hin zur Subventionierung der Landwirtschaft, verdichten alle Themen zu „Wir gegen die Eliten“, legitimieren damit ihre Aktionen und verschieben mit jeder Aktion Grenzen – wie bei der Bedrohung der Privatperson Robert Habeck in Schlüttsiel. Das Ziel: Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und schlussendlich Machtübernahme.

Aber zurück zu den Landwirt:innen und dem, was ich las.

  • Die deutsche Landwirtschaft unterliegt seit Jahren einem starken Strukturwandel. Agrarunternehmen verdrängen kleine, familiengeführte Bauernhöfe. Mit der Übernahmen steigt die Produktivität – dank Monokulturen und Düngemittel. Laut Angaben des Umweltbundesamtes war die deutsche Landwirtschaft im Jahr 2018 unmittelbar für 7,4 Prozent der deutschen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich – unter anderem wegen des hohen Methanausstoßes aus der Viehhaltung (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Die EU fördert also große Flächen und sponsert riesige Ställe und Maschinen. Das Ziel: billige Nahrung.
  • Der Vorsitzende des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, bewirtschaftet im Nebenerwerb 350 Hektar Ackerfläche und bekommt dafür Agrarsubventionen in Höhe von rund 100.000 Euro (Wikipedia via Spiegel Online). Rukwied hält überdies acht vergütete Mandate in Aufsichts- und Verwaltungsräten, darunter bei Südzucker und dem Agrarhandelskonzern BayWa (Bauernverband).
  • EU-Förderungen, die Landwirtschaft klimafreundlicher machen sollen, laufen seit Jahren ins Leere.
  • Zum Argument „Landwirte sichern unsere Ernährung“: Mehr als die Hälfte unserer Äcker, 58 Prozent, nutzen wir zur Produktion von Tierfutter, weitere 17 Prozent für Energie. In Deutschland gehen jährlich 4,5 Millionen Tonnen Soja in den Futtertrog von Nutztieren, hinzu kommen weitere Getreide. Es braucht drei Kilogramm Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen. Deutschland produziert – auch durch die starke Nutzung von Ackerflächen – jährlich 7,3 Millionen Tonnen Fleisch. Davon gehen drei Millionen Tonnen in den Export.

Ich habe den Eindruck: Es soll das öffentliche Bild entstehen, dass es bei dem Protest rund um Dieselsubventionen und Kfz-Steuer um Hans und Helga und ihren kleinen Milchviehbetrieb in Niedersonthofen geht. Möglicherweise geht es aber auch viel darum, Pflöcke einzuschlagen für den Erhalt des Status Quo, weniger für Hans und Helga, sondern für große Flächen und riesige Ställe, für Massentierhaltung, für die Agrarunternehmen, für die Menschen in ihren Aufsichtsräten und alle, die profitieren – vor allem Konserative und Rechte. Dass es in der Bauernschaft auch andere Stimmen gibt, zeigt sich in diesem Aufruf und im Video der Jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft. Einen weiteren seriösen Einblick gibt der Kontoauszug eines angestellten Landwirts bei ZEIT Online. Mir scheint: Es ist wie immer kompliziert, Bauern sind nicht gleich Bauern, Landwirtschaft ist heterogen. Aber: Es gibt deutlichen Reformbedarf. Nur anders, als konservative Bewahrer und Großbetriebe es sich wünschen.

Ergänzung, 8. Januar: Dazu auch ein sehr lesenswerter Newsletter von Ann-Kathrin Büüsker – Warum die Bauernschaft wütend ist

Gelesen | Recherche „Jule Stinkesocke“: In 2023 kam heraus, dass eine Bloggerin und Behindertenaktivistin mit mehr als 70.000 Followern und etlichen initiieren Spendenaktionen, nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Stattdessen ist „Jule“, die seit 2014 im Internet aktiv ist, wohl ein männlicher Übungleiter, der mit behinderten Jugendlichen gearbeitet hat. Er baute über knapp zehn Jahre und mit großem Aufwand den Fake „Jule“ auf. Dass „Jule“ im Blog ausführlich behinderungsbezogene Fetischen darlegt, macht die falsche Identität noch verstörender. Die Redaktion von Imperialcrimes hat aufwändig Fakten gecheckt.

Gelesen | Zsusza Bánk: Schlafen werden wir später. Márta ist Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann, Dramaturg, und drei Kindern in der Großstadt. Ihre Freundin Johanna ist Lehrerin, lebt im Schwarzwald und arbeitet sich an einer Dissertation über Annette von Droste-Hülshoff ab. Die beiden schreiben sich Briefe – oder nein: Es sind eher Tagebucheinträge, die sie an die jeweils andere richten, Ergießungen in poetischer Sprache, immer wieder mit Einspengseln literarischer Zitate. Beide begehren, was die jeweils andere tut und hat, während sie sich selbst bemitleiden. Das ist schwer zu ertragen, vor allem vor dem Hintergrund der Sprache. Ich wollte die beiden fortwährend schütteln und sie anschreien: „Jetzt reiß dich zusammen und krieg den Hintern hoch!“ Gegen Ende der fast 700 Seiten bewegt sich dann doch was bei den Frauen, immerhin.

Gelesen | Anke Gröner, Kunsthistorikerin, zur Geschichte des Automobils. Es gibt einen interessanten Aspekt.


Und sonst | In den sozialen Medien sah ich kürzlich das Video eines Bären, wie er, zottelig vom Winterschlaf, aus seiner Höhle tapst, benommen und sichtbar unorientiert. So wird es mir am Montag gehen, wenn ich an den Schbreitisch zurückkehre. Genaugenommen wird es schon heute Abend losgehen, wenn ich mich frage, auf welche Uhrzeit ich den Wecker stellen soll.

Die letzten Tage in Südtirol: Das Messner Mountain Museum, immer wieder neue Menschen, ein UFO, ein See und noch ein Bergpanorama

18. 10. 2023  •  2 Kommentare

Leute | Bevor ich Sie erneut mit einem Bergpanorama belästige, einige Bemerknisse zu den Umständen, unter denen ich in Südtirol residierte.

Die Urlaubsplanung verläuft bei uns so: Wir einigen uns grundsätzlich auf die Art des Urlaubs (Wanderurlaub, Fahrradreise, Pool & Entdecken etc.) und eventuell auf die Region, im konkreten Fall Südtirol. Der Reiseleiter erfragt dann im Sinne eines guten Projektmanagaments die Requirements & Constraints, also die Anforderungen an einen zufriedenstellenden Urlaub und die Einschränkungen, denen wir unterliegen. Die Anforderungen an den Südtirol-Urlaub waren: Wellness, Wandergebiete und leckeres Essen, entweder im Hotel oder durch fußläufig erreichbare, kulinarische Infrastruktur. Einschränkungen: per Bahn erreichbar, Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln.

Der Reiseleiter fand unser Hotel mit Pool und Saunalandschaft, mit der Almencard für die kostenlose Nutzung des Südtiroler ÖPNV und mit Dreiviertelpension, also mit Frühstück, Nachmittagsjause und abendlichem 4-Gänge-Menü. Wir buchten.

Die Wahl stellte sich als hervorragend heraus. Das ist aber nicht das, was ich erzählen möchte. Es ist nur relevant für den Kontext. Wir hatten also dieses Hotel gebucht, für elf Nächte. Elf Morgende und Abende lang saßen wir beim Essen am selben Tisch. Das hatte hotelorganisatorische Gründe und brachte eine interessante Perspektive mit sich: Alle – ja, tatsächlich alle – Menschen blieben nur zwei, drei oder vier Tage, wir hingegen blieben die gleichen. Wir entwickelten ein Angela-Merkel- und Wolfang-Schäuble-Gefühl: Während wir an unseren Sesseln klebten und Knödel aßen, wechselte beständig das Kabinett.

Für vier Tage war zum Beispiel der Schnitzelmann Teil des Geschehens: Anstatt es seiner Begleiterin gleichzutun und seine Hauptspeise aus drei wohlkomponierten Gerichten zu wählen – Fisch, Fleisch oder vegetarisch, moderne Interpretationen Tiroler Küche – aß er jeden Abend SchniPo: Schnitzel und Pommes. Ich bewunderte ihn für seinen unterschütterlichen Mut zur Adilette.

Am Fenster für drei Tage ein Pärchen, er Baggy-Jeans und eine 80er-Jahre-Aviator-Brille (ich musste die modische Bezeichnung wieder nachschlagen, #bildungsblog), sie mit Wuscheldutt auf dem Kopf, weite Wolpullis. Sie unterhielten sich allabendlich; ich verstand nicht, was gesprochen wurde, hörte nur die Tonalität: Ihre Stimme problemschwer, ins Nörgelige driftend, er beschwichtigend, manchmal seufzend.

Für nur einen Abend saß ein schwules Pärchen neben uns: Er, zwei Meter groß und dünn wie eine Zaunlatte, sein Partner nur knapp einssechzig und ebenso schlank. Sie kamen spät, frühstückten nur einen Espresso, schwiegen sich an und waren wieder fort.

Für zwei Abende war ein Pärchen da, hetero, er drahtig und weißhaarig, Typ Marathon laufender Orthopäde, sie deutlich jünger, vielleicht die Geliebte. Er feierte seinen Geburtstag nach und bekam eine Torte vom Haus, sie erzählte allen, wonach niemand gefragt hatte: dem Reiseanlass („Wir sehen uns nicht oft und gönnen uns ein Wochenende“), von ihrer beruflichen Erfahrung im Tourismus („Ich habe ja auch eine zeitlang in der Hotelerie gearbeitet“), den Ernährungsgewohnheiten (er viele Meeresfrüchte, sie abends nur Rohkost) und ihrem Sportprogramm („Ich jogge viermal in der Woche“). Wir aßen mit Käse gefüllte Knödel.

Während wir dort waren, kamen außerdem drei Busgesellschaften, ebenfalls nur für wenige Tage. Sie kamen jeweils abends an. Das Servicepersonal war gerüstet, lotste zu den Plätzen und durch die vier Gänge. Am darauffolgenden Morgen jedoch, am Frühstücksbuffet, waren die Leute auf sich allein gestellt: Selbstbedienung. Beobachtung: Je mehr Leute, desto mehr stützen sie sich in ihrer Desorientierung: „Der Kaffee …?“ – „Hier drüben.“ – „Nein, nicht hier. Dort. schauen Sie mal, da ist ein Automat.“ – „Aber …“ – „Ach ja, doch nicht.“ – „Woher haben Sie das Spiegelei?“ – „Dort drüben.“ – „Wo?“ – „Da.“ – „Nein.“ – …


Bergpanorama | Jetzt aber endlich schöne Aussicht: die Fane Alm.

Holzhäuser in Bergkulisse unter blauem Himmel mit weißen Wölkchen

Der Reiseleiter näherte sich der Alm von oben, ich von unten.

Weil ich am Morgen noch fürchterlich müde war und allgemeine Schlaffheit verspürte, wollte ich keine lange Wanderung machen und legte mich noch einmal hin. Der Reiseleiter, ein Mann voller Tatendrang, schnallte sich hingegen den Rucksack auf, stieg in den Bus nach Vals und begab sich auf eine Höhenwanderung. Abmachung: Wir treffen uns auf der Fane Alm.

Zwei Stunden später erwachte ich, fuhr mit dem Auto zu einem Wanderparkplatz und erklomm von dort die Serpentinen zur Alm, ein Weg von eineinviertel Stunde; dafür hatte ich gerade noch Kraft. Auf der Alm wartete bereits der Reiseleiter vor einer heißen Zitrone auf mich.

Nachdem wir gemeinsam abgestiegen waren, die Erkenntnis: Ich war mehr Höhenmeter gestiegen als er. Sein Aufstieg bestand aus mehr Bergbahn als Bergmarsch. Na sowas.


Das Ufo | An einem Tag spazierten wir in Meransen umher, ein kleiner Ort oberhalb unseres Quartiers in Mühlbach, Rio di Pusteria. Auf einem Hügel thront ein schwarzes, ovales Objekt. Es nennt sich familiamus, Zitat: „ein Ort für Familien und Kinder in all ihren Formen und Facetten“.

Weniger relevant als die Formen und Facetten scheinen mir die vorhandenen finanziellen Mittel: Die Nacht im Familienzimmer „Happiness“ kostet 310 Euro. Pro Person. Für eine Woche im „magischen Familienreich“ mit „Schatzsuche zu eurem eigenen Ich“ würden wir mit den drei Reiseleiter-Kindern also 7.385 Euro bezahlen. Inklusivleistungen sind unter anderem eine „Snackbar mit raffiniertem Obst- und Gemüse-Fingerfood“ (hier kindliche Würge-Geräusche einfügen) und „Kind- und Jugendprogramme mit Berücksichtigung individueller Entwicklungsbedürfnisse“. Die private Reitstunde ist allerdings – Obacht, Pferdefreunde! – nicht enthalten.

Ich lasse Sie damit mal allein. Wenn Sie sich spontan entscheiden und noch für den aktuellen Monat buchen, ist ein Kind inklusive. Das zeigt die Website aber bei der Preisberechnung nicht an, ein kleiner Fauxpas. Da müssten Sie dann mal nachhaken.


Seespaziergang | Am letzten Tag in Südtirol war es uns zu kalt für große Höhen. Wir fuhren nach Toblach und liefen einmal um den Toblacher See.

Toblacher See mit einem im Wasser auf Stelzen stehenden Restaurants

Toblach ist eine Wasserscheide von europäischer Bedeutung: Die Rienz fließt dort in Richtung Westen und mündet über Eisack und Etsch in der Adria. Die Drau fließt nach Osten, dort in die Donau und ins Schwarze Meer.


MMM | Die Almencard, die wir vom Hotel bekamen, erlaubte nicht nur die Nutzung des Nahverkehrs, sondern auch den kostenlosen Besuch eines Museums. Nach einer Woche bekamen wir eine neue Almencard und konnten ein zweites Museum besuchen. Wir entschieden uns für zwei Standorte des Messner Mountain Museums (MMM): Das MMM Corones auf dem Gipfelplateau des Kronplatzes widmet sich der Geschichte des Bergsteigens. Das MMM Ripa zeigt eine Ausstellung über die Bergvölker der Welt.

Das MMM Corones, Architektur von Zaha Hadid hat beeindruckende Räume: parallele Gänge im Hang, abfallende Wege, verborgene Ecken, Aussichten.

Das MMM Ripa auf der Burg Bruneck: historische Mauern und ein interessanter Einblick in das Leben von Bergvölkern auf allen Kontinenden – mit überraschenden Parallelen.

Die Initialkosten für das Messner Mountain Museum, 30 Millionen Euro, haben zur Hälfte das Land Südtirol und Reinhold Messner getragen. Das Land finanzierte den Ausbau der alten Gemäuer, während Messer sich dazu verpflichtete, seine Austellung für die nächsten 30 Jahre aufrecht zu erhalten, auf eigene Kosten (Wikipedia).


Gelesen | Der Guardian beschäftigt sich mit der Deutschen Bahn: It’s the same daily misery: Germany’s terrible trains are no joke for a nation built on efficiency Dazu passt ein – Oldie, but Goldie – Cicero-Artikel aus dem Jahr 2019.

Gelesen | Frau Novemberregen beschreibt ihren Umgang mit Teenagerleichtsinn.

Gelesen | Fabio Volo: La vita nuova. Paolo ist ein Mann mittleren Alters: Verheiratet, ein Kind, die Ehe kriselt, seine Eltern werden pflegebedürftig. Sein Freund Andrea ist ein Lebemann: Nach wechselnden Beziehungen hat er nun zwar schon länger eine Beziehung, er lebt aber weiterhin in einer eigenen Wohnung und nimmt alles nicht so ernst. In einem alten Fiat 850 Spider fahren die beiden durch Italien, um Paolos Vater mit dem Wagen zu überraschen. Eine Roadstory mit Männergesprächen, spontanen Halten und einer Entwicklung. Leichte Lektüre, aber nicht flach. Gerne gelesen.



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