Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Weißt du noch?

8. 08. 2022  •  8 Kommentare

Schatöchen | Manche Unternehmungen sind mehr als andere dazu geeignet, ihre Akteure mit Erinnerungen zu munitionieren für die fernen Tage, in denen sie hüftsteif und reisesatt in einem Lehnsessel sitzen. Zu diesen Unternehmungen gehören zweifellos die Ausflüge aufs Schatöchen, die 2018 ihren Anfang nahmen.

Der letzte Ausflug ist drei Jahre her. Seuchenbedingt mussten wir 2020 und 2021 vorbeiziehen lassen; nun war es daran, den bereits Ende 2019 bezahlten Aufenthalt endlich abzuwohnen. Im vergangenen Wochenende reiste ich wieder dorthin, gemeinsam mit drei Handvoll Freunden.

Was werden wir uns erzählen, wenn wir in vierzig Jahre im Sessel sitzen, die Augen trüb, aber die Erinnerungen klar?

Weißt du noch, das Unwetter? Als wir bei 38 Grad Grad dort ankamen und wir uns nachts mit wehendem Gewand gegen die Fenster des Schlosses stemmten?

Wir werden uns daran erinnern, wie das Wasser in die Zimmer lief und wir versuchten, in der stockfinsteren Nacht die Flügel zu schließen, während Regen prasselte und Blitze die Szenerie erhellten. Der Wind drückte gegen die Fenster, und es dauerte, bis es uns gelang, die Mechanik zu überwinden und sie zuzudrücken.

Weißt du noch, wie wir uns die Leiste zerrten, während wir versuchten, das Einhorn zuzureiten?

Wir werden uns daran erinnern, wie wir uns erst den Arm lahm pumpten, um Herbert, das zwei Meter dreißig lange und ein Meter breite Gay Pride Unicorn, zu Wasser zu lassen. Wie wir zunächst erfolglos versuchten aufzusitzen, bis wir den Bogen raus hatten: Man durfte nicht zu weit vorne aufsteigen und musste seinen Po schwungvoll-beherzt, aber ohne hastige Überstürztheit in der Rückenmitte platzieren und sich sofort gegen den Schweif lehnen.

Weißt du noch, der Notarzteinsatz?

Wir werden uns daran erinnern, wie ich mir beim Ausstieg aus dem Pool den Fuß anschlug, und wir dachten, ich hätte mir den Zeh amputiert. Dabei war es nur ein Nagel. Die Ameisen waren sehr interessiert am üppig tropfenden Blut. Schließlich kam der Zahnarzt, legte einen Druckverband an, und die Sache fand ein zwischenzeitliches Ende. Details verbleiben im Nebel der Erinnerung.

Weißt du noch, wie wir aßen und tranken?

Wir werden uns daran erinnern, wie wir gemeinsam in der Küche standen und die Mahlzeiten zubereiteten, wie wir Gemüse schnitten und Feta würzten, wie wir Eintopf und Nudeln kochten, Kartoffel schälten und Gratin buken, wie wir alles hinaus trugen auf die lange Tafel vor dem Pool, wie wir die Töpfe und Platten herumreichten, bis wir uns schließlich zurücklehnten und stöhnend überstreckten, damit die guten Dinge tiefer hinunter sacken und Platz machen konnten für einen Magen schließenden Digestiv.

Weißt du noch, die Besuche im Paradies?

Wir werden uns erinnern, wie wir in den Leclerc fuhren und wieder auf Neues entzückt waren angesichts der Käsen und Pasteten, der Pasten und Marmeladen. Wir kauften Baguette und zehn Sorten Weichkäse – den im Schälchen mehrmals -, wir packten Panaché und Rosenkekse in den Wagen, suchten Geschenke für Daheimgebliebende, nahmen Suze mit nach Hause und schnupperten wie Süchtige an Seifen.

Weißt du noch, das Pferdewasser?

Wir werden uns erinnern, wie uns die Bremsenbremse begleitete, „Ultrafresh Insektenschutz für Tier und Mensch“: Fünfzig Milliliter fürs Kleinpferd, neunzig Milliliter fürs Großpferd, auf den Menschen passen zwanzig. Wir sprühten uns ein und dufteten wie fünf Zitronenbäume.

Weißt du noch, unsere Fahrt über die Dörfer? Wie ausgestorben alles war?

Wir werden uns daran erinnern, wie wir nach Vertus fuhren und dort nichts erleben, außer dass die Boulangerie schloss, als wir ankamen. Entgeistert standen wir vor verschlossenen Türen und drückten unsere Nasen platt – die Macarons unerreichbar und wir untröstlich. Wir fuhren daraufhin zu einem Champagnerwinzer, verköstigten vier Sorten, kauften drei und fühlten uns wieder besser.

Weißt du noch, die Baguettes in den Mehlsäcken?

Wir werden uns daran erinnern, wie es zwei unserer Männer trotz mäßigen Französischs gelang, die Bäckerei zu dreimaliger Lieferung von Baguettes und Croissants zu überreden. Die Baguettes kamen in Mehlsäcken und dufteten köstlich. Croissants hatten sie wohlweislich mehr bestellt, als wir Reisende waren. Es blieb an keinem Tag etwas übrig.

Weißt du noch, wie wir einfach beieinander waren?

Wir werden uns nicht mehr daran erinnern, worüber wir sprachen, aber wir werden noch wissen, dass wir Gespräche führten über große und kleine Dinge des Lebens, Freuden, Zweifel und Alltägliches. Mehr als unser Kopf wird unser Herz wissen, wie es uns gefiel, befreundet zu sein und diese Freundschaft zu feiern, mit diesem Aufenthalt, ohne Programm. Denn das Programm waren wir selbst.

Wir werden uns an all dies erinnern, wenn wir in unseren Lehnstühlen sitzen und nicht mehr reisen können – oder vielleicht nicht mehr reisen wollen, weil wir so voll sind von Erlebnissen, dass wir sagen: Jetzt ist es genug, jetzt genügen die Erinnerungen, denn sie sind schön und ohne Beschwernis.


Serviceblog | Chateau de Pleurs, Rue du Château, 51230 Pleurs, Frankreich. Buchbar über Olivers Travels oder Airbnb France. Man kann nur das ganze Schloss mieten, die Nacht kostet 1.515 Euro – geteilt durch die Anzahl der Personen, mit denen man reist. Wir waren noch zum preiswerteren 2019er-Kurs dort. Wenn Sie es wie wir machen und eine WG-Kasse eröffnen, aus der Sie Essen und Trinken bezahlen, rechnen Sie mit etwa 40 Euro pro Person für drei Tage, Kinder die Hälfte.

Eine Fahrradfahrt von Gronau über Deventer nach Emmerich

26. 07. 2022  •  9 Kommentare

Die Anreise | „Dafür, dass wir eben so schnell waren, sind wir jetzt ganz schön langsam“, sage ich, als wir auf freie Strecke stehen, und es nicht weitergeht. 

Eine halbe Stunde zuvor, auf dem Weg nach Lüdinghausen, wir fahren gerade an einem Maisfeld vorbei und die Sonne kommt heraus, frage ich: „Wann fährt der Zug?“ – „Halb“, antwortet der Reiseleiter. Ich sehe auf die Uhr. „Das wird aber knapp“, sage ich, „dann haben wir nur noch eine Viertelstunde.“ – „Das wird knapp“, sagt der Reiseleiter. Synchron schalten wir auf ein größeres Ritzel und geben Hackengas. Genau fünfzehn Minuten später fahren wir mit quietschenden Reifen direkt auf den Bahnsteig und in die geöffneten Türen des Zuges. 


Im Zug | Ein Mädchen mit wilden, blonden Locken trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Find your inner Minion“. Eine Frau, die Blondierung herausgewachsen, knallroter Nagellack, schiebt vier goldene, kühlschrankgroße Hartschalenkoffer in den Zug, am Griff Flugetiketten. Zwei Niederländer, ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs und routiniert organisiert, blicken während der Fahrt stumm aus dem Fenster. Eine Herrengruppe in Schalke-Trikots trinkt mit erstaunlicher Zielstrebigkeit Sixpacks; bei einem längeren Halt in Coesfeld steigen sie aus und pinkeln gruppendynamisch gegen einen Schmetterlingsflieder.

Angekommen in Gronau lobt ein Mann, zwei Meter groß, Bartschatten, Typ Kuschelbär, mein Fahrrad. Er liebe tolle Fahrräder, sagt er , er komme aus Dortmund, vier seien ihm schon geklaut worden. Ich sage, dass ich auch aus Dortmund komme. „Dann treffe ich doch dort vielleicht mal, Inshallah. Ich kann tolles Essen kochen.“ In dem Moment schiebt sich der Reiseleiter hinter einem Wagenstandsanzeiger hervor. „Dein Freund?“, fragt der Bär. In seinen Augen erlischt ein Leuchten. Doch dann erwacht Kampfgeist. Er zeigt auf den Reiseleiter. „Kann der kochen?“ Ich nicke. Der Bär streckt seine Brust vor. „Aber ich kann besser kochen.“


Geschmeidigkeit | Fahrradfahren in den Niederlanden unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom Fahrradfahren in Deutschland: Man bangt nicht um sein Leben.

Als wir die Grenze überqueren, ist der Radweg plötzlich betoniert, glatt betoniert, ohne Wurzelwerk und Hindernisse, breit und auslandend, und er führt immer weiter: durch Felder und Wiesen, Landstraßen entlang, durch Kreisverkehre, mit Richtungs- und Fahrbahnwechseln. Es gibt Ampeln für Fahrräder, Beleuchtung und Pfosten, an denen man sich festhalten kann, ohne abzusteigen. Alles ist so durchdacht, die Fahrt so geschmeidig, man möchte weinen.

Als wir nach Deventer hineinfahren, aus dem Vorort in die Innenstadt, haben wir eine grüne Welle. Auf dem Rückweg entdecken wir, warum: Jeweils 30 Meter vor der Kreuzung fahren wir über einen Anforderungskontakt. Die Autos müssen halten, und wir haben freien Weg. Es ist fantastisch.


Flüsse und Hügel | Gibt es einen Berg, neigen die Niederländer dazu, direkt ein Naturschutzgebiet drumherum zu legen, hier wie dort. Kilometer um Kilometer fährt man durch Heide, Wald und Ginster, vorbei an Birken, Eichen und Kiefern. Der Boden ist sandig. Es geht auf und ab, aber eben auch bergauf. Man wundert sich, schließlich sollte hier doch alles flach sein, so erwartet man das.

Zweimal kreuzen wir auf kleinen Fähren die Ijssel, Fußgänger zahlen einen Euro, mit Fahrrad einszehn. Wir kommen an einen Badesee. Am Natuurzwemmen Lathumse plas springen wir ins Wasser. Das Ufer fällt sofort steil ab. Am Ufer flirrt die Hitze, das Wasser ist schön kalt.

Auf dem Weg gibt es Cafés. Nicht so viele, wie man sich wünschen würde, aber ausreichend. Ein Lokal trägt den Namen „Bike & Eat“ , mein Motto. Wir trinken alkoholfreies Bier, der Elektrolyte wegen.


Die Rückreise | Die Strecke von Emmerich zurück nach Haltern könnte schön sein – gäbe es mehr Züge. Doch zwei Verbindungen fallen aus, andere verspäten sich; einige Linien werden bis September gar nicht bedient, sie sind komplett aus dem Programm genommen: Personalmangel. So schlagen wir uns durch, gemeinsam mit hunderten anderen. Es ist bummsvoll in den Zügen. Handys plärren, Hunde bellen. Das Mitführen von Gepäck, Kinderwagen, Fahrrädern, Rollstühlen oder Rollatoren ist nicht vorgesehen, schon gar nicht zum gleichen Zeitpunkt. Man arrangiert sich und möchte danach in Sterilium baden: Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass man zum Sprechen und Husten die Maske auflässt – wenn man denn eine trägt. Eine Haltung christlicher Nächstenliebe ist gefragt: Um diese Fahrt zu genießen, muss man Menschen mögen wollen.

Es stellt sich heraus, dass Oberhausen einen gar nicht mal so schönen Bahnhof hat. Die Getränkeautomaten sind leer, auf dem Nachbargleis kollabiert eine Frau; Menschen helfen. Der Kiosk in der Unterführung hat noch kalte Cola vorrätig, immerhin. Auch Gelsenkirchen ist nicht hübsch; doch von hier fährt der Regionalexpress – und er fährt tatsächlich, sogar fast leer. Nur weg.

Bahnhof Oberhausen, trostloser Bahnsteig, darüber fliegt eine Taube
Wunderschönes Oberhausen

Zu Hause, nach einer kalten Dusche und einem noch kälteren Radler, geht’s dann schon wieder. Der Reiseleiter erwärmt eine Pizza. Bike & Eat.


Serviceblog | Etappen:

Von Haltern nach Lüdinghausen, circa 10 Kilometer. Von Lüdinghausen mit dem Zug nach Gronau. Von Gronau über Losser nach De Lutte, circa 20 Kilometer

Von De Lutte nach Deventer über Oldenzaal, Borne, Bornerbroek, Enter, Rijssen, Nationaal Park de Sallandse Heuvelrug, Okkenbroek und Lettele, circa 70 Kilometer

Große Kathedrale und ein Platz davor

Von Deventer nach Emmerich über Epse, Gorssel, Klaerenbeek, Loenen, Nationaal Park Veluweezoom, Rheden, Lathum, Zevenaar und Elten, circa 70 Kilometer. Von Elten mit diversen Zügen, wie gerade verfügbar, nach Haltern. Von dort raus aufs Dorf, nochmal 10 Kilometer.


Uns Uwe | „Wir sind noch im Spiel, Digga.“ – „Ja, noch sind wir im Spiel.“

Ein Eiskaffee, ein Buch über Aale und: Man kann mich gewinnen.

2. 05. 2022  •  9 Kommentare

So! | Kurze Zusammenfassung der Ereignisse: Von Garmisch-Partenkirchen aus bin ich nach Karlsruhe gefahren. Der Reiseleiter ist in den Zug ins Münsterland gestiegen. Ich hingegen bin ins Hotel eingecheckt: zwei Tage Arbeit beim Kunden und einige weitere Termine. Insgesamt vier Tage vor Ort. Koffer Eins (Garmisch) blieb im Auto, Koffer Zwei (Business) kam mit ins Hotel.

Am Montag spazierte die Kundin mit mir durch Karlsruhe und zeigte mir die Stadt.

Ich lernte etwas über den Städtebau und über Absolutismus, über den Markgrafen Baden-Durlach, über die Bundesgartenschau 1967, über die Schwarzwaldhalle und das Bundesverfassungsgericht.

Bei unserem Rundgang gelangten wir auch in die Zooterrassen.

Die Zooterrassen sind ein Café. Als wir es betraten, katapultierte uns ein unsichtbarer Fluxkompensator ins Jahr 1965. Am Kopfende des Raumes ziert ein Mosaik die Wand, blau-weiße Schwäne wippen über eine braune Backsteinwand. Von der Decke regnet es Lichttropfen aus dem Lampendesign. Die Tapete über der Holzvertäfelung trägt ein heimeliges Nikotingelb, ebenso die Tischdecken. An der Garderobe baumelt, eingespannt in einen Zeitungsstock, Lektüre. In einer Vitrine warten vier Kuchen auf Gäste.

Die Speisekarte enttäuscht den Besucher nicht. Es gibt Irish Coffee mit Tullamore Dew Whisky (4cl), dazu Vanilleeis und Sahne. Wer es fruchtig mag, entscheidet sich für einen „Kaffee Kirsch“ mit echtem Schladerer Kirschwasser. Auch zu haben: „1 Salamibrot, reich garniert“, der gemischte Eisbecher „Rheindampfer“ (natürlich mit Schladerer Kirschwasser), „1 Paar orig. Frankfurter mit Kartoffelsalat“, dazu Rothaus-Pils „Tannenzäpfle“.

Ich nahm einen Eiskaffee („gemischt nach Original Barrezept“), und glauben Sie es mir oder nicht: Es war einer der besten Eiskaffees, die ich je getrunken habe.

Nach der Arbeit in Karlruhe bezog ich Quartier in Schöllbronn. Das Quartier dort, eine Ferienwohnung, hatte den gleichen Innenarchitekten wie die Zooterrassen. Es war also rundherum großartig.

In Schöllbronn gibt es einen Dorfladen, das Gasthaus „Zur Krone“ und viel Landschaft.


Ich bin ein Gewinn! |  Bessere und nachhaltigere Mobilität: Das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg und die KEA Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg zeichnen wegweisende Vorreiterinnen und Mitgestalter der Mobilitätswende aus.

Wer dort einen Preis gewinnt, bekommt … mich! Also, wenn er oder sie will. Die Preisträgerinnen und Preisträger dürfen sich nämlich Unterstützung auswählen, die ihr Projekt, Team oder ihr Unternehmen weiter voranbringt. Ich habe mich sehr gefreut, als ich angefragt wurde und war sofort dabei.


Gelesen | Ich habe ein Buch über Aale gelesen. Ja, tatsächlich, über Aale – über diese schwarzen, sich schleimig schlängelnden Fischtiere. Es heißt Das Evangelium der Aale und war verrückterweise ziemlich gut. Ich wusste vorher nichts über Aale – nur, dass sie ziemlich stinken, wenn man sie von der Nordsee mitbringt und unter dem Beifahrersitz des Autos vergisst (alte Familiengeschichte).

Eigentlich bin ich nicht an Aalen interessiert, schon gar nicht kulinarisch (*grünes Brech-Emoji*). Aber irgendwas in mir ließ mich zu diesem Buch greifen. Vielleicht war es das Zitat auf der Rückseite:

Ein Sachbuch wird in 30 Sprachen übersetzt, und es geht um … Aale? Da muss also was dran sein, und da ist was dran.

Sven Stillich, Zeit Wissen

Aale sind, ich hatte mich vorab noch nie mit ihnen befasst, rätselhafte und faszinierende Tiere. Alle europäischen Aale – und auch die amerikanischen – werden im Atlantik geboren, in der Nähe der Bahamas, in der Sargassosee. Der Aal ist dann klein wie ein Weidenblatt und sieht auch so aus. Schwimmend und mit den Meeresströmungen gelangt er ans europäische Festland. Dort verwandelt er sich, wechselt vom Salz- ins Süßwasser, wird vom Weidenblatt zum durchsichtigen Glasaal und sucht sich einen Platz in der Welt. Er schwimmt dabei Flüsse und Seen hinauf, durchquert Moore und geht teilweise über Land. Irgendwann hält er an und bleibt: in einem Fluss in England oder zwischen Schilf im Saarland, in einem Gewässer in Polen oder irgendwo in Schweden. Warum er sich welchen Platz aussucht, weiß niemand. Man weiß nur: Dort verwandelt er seine Gestalt erneut und wird zum Gelbaal. Und: Nimmt man einen Aal, trägt ihn dort und wirft ihn hunderte von Kilometer weiter in ein Gewässer, schwimmt er zu genau dieser Stelle zurück, zu der ihn auch sein Weg von den Bahamas geführt schon hat. Als Gelbaal bleibt er viele Jahr an diesem Ort, manchmal Jahrzehnte. In dieser Zeit macht er nichts anderes als herumliegen und fressen.

Buch "Das Evangelium der Aale". Auch im Bild: Eine Tastatur, Maus und Mauspad im Design eines Teppichs.

Irgendwann macht der Aal sich auf den Rückweg. Er schwimmt die Seen und Flüsse zurück ins Meer und zurück in die Sargassosee. Auf dem Weg dorthin schwinden seine Organe und es wachsen im Geschlechtsorgane. Die hatte er vorher nicht. Was in der Sargassosee geschieht, weiß eigentlich niemand. Noch nie hat jemand gesehen, wie ein Aal sich fortpflanzt. Noch nie hat jemand einen Aal gesehen, der gestorben ist, nachdem er dort gelaicht hat. Die Aale verschwinden einfach in diesem Meeresgebiet, genauso wie sie von dort aufgetaucht sind.

Das ist nur ein Rätsel rund um den Aal. Dass wir überhaupt wissen, woher er kommt, damit hat unter anderem auch die Carlsberg Brauerei zu tun. Aber ich möchte nicht zu viel verraten. Lesen Sie das Buch einfach selbst.


Mist, Mist, Mist | Ich hab etwas verbaselt: Ich habe eine Webinar-Kundin so richtig vergessen. Leider kann ich im Nachhinein nicht mehr tun, als aufrichtig um Entschuldigung zu bitten und ein Angebot für die nächste Teilnahme zu machen. Ich ärgere mich über mich.

Immerhin ist mir klar, woran es gelegen hat, und ich habe eine Idee, wie ich das in Zukunft abfange. Trotzdem Mist, Mist, Mist.


Idee für den nächsten Newsletter | Ich werde etwas über den Unterschied zwischen Selbstorganisation und Selbstüberlassung schreiben. In vielen Unternehmen ist es nämlich ein Problem, dass das Management ein Flaschenhals ist, was Entscheidungen angeht; wenn es sich dann noch schwer tut, Entscheidungen zu treffen, steigt der Frust und sinkt die Beweglichkeit der Organisation. Oftmals wird Verantwortung dann einfach „nach unten“ abgegeben, die Leute werden damit allein gelassen. Falls Sie mehr dazu lesen möchten: Hier gehts zum Newsletter Abo.

Das Thema passt gut zum ersten Präsenzseminar, das ich in diesem Jahr anbiete: Souverän Führen in dynamischen Kontexten. Dort beschäftigen wir uns mit dem Arbeiten in der traditionell-hierarchischen Welt, im agilen Umfeld und dazwischen: In Unternehmen, die alte Strukturen aufbrechen oder das vorhaben. Es geht ums Delegieren, um Entscheidungsprozesse und um Handlungssicherheit bei gleichzeitiger Flexibilität.


Westfalenpark | Die Stadt Dortmund hat den Robinson-Spielplatz im Westfalenpark saniert. Die Beutekinder sind sehr angetan. Bilder vom Spielplatz hier. Für eigene Bilder war zu viel los. Als Ersatz idyllische Parkbilder:

Zehn Bemerknisse zu einem Urlaub in Garmisch-Partenkirchen

24. 04. 2022  •  5 Kommentare

Eins | Rauflaufen und Runtergucken ist eine super Sache.

Aussicht vom Herzogstand auf die Alpen, Panoramaaufnahme

Zwei | Für das obige Bild sind wir allerdings raufgefahren und nur ein Stück gelaufen. Das war angenehm. Die Möglichkeit bot sich allerdings nur einmal. Denn die meisten Bergbahnen befanden sich in Revision und waren geschlossen, und außerdem befanden der Reiseleiter und ich uns ja in einem Wanderurlaub und suchten die körperliche Herausforderung (nach unseren Möglichkeiten.)

Nach dem Hinauffahren mit der Bergbahn und nach den Serpentinen, die auf den Gipfel des Herzogstands hinauf führen, lag auf dieser einen Wanderung der Grat vor uns.

Gipfelgrat zwischen Herzogstand und Heimgarten

Der Gratübergang vom Herzogstand zum Heimgarten ist eine der schönsten Wanderungen, die ich in der Umgebung rund um Garmisch kenne. Zweimal habe ich sie schon gemacht, mit diesem Urlaub das dritte Mal. Man steigt über einen felsigen Pfad von einem Gipfel, dem Herzogstand, zum anderen, dem Heimgarten. Dabei kann man sowohl tief hinab als auch weit in die Ferne gucken. Das macht es ganz wunderbar und tröstet über die Mühen hinweg.

Panoramabild vom Grat. Der Weg in der Mitte, links und rechts geht's hinab.

„Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfolderlich“, heißt es dazu im Wanderführer. Es gibt Drahtseilsicherungen, denn der Weg ist teils ausgesetzt.

„Alpine Erfahrung erforderlich“, sagt das Schild am Einstieg zum Grat.

Es ist allerdings nicht so arg, wie es auf dem Bildern ausschaut: Der Pfad ist ausreichend breit, und wenn er über Felsen führt, wenn man kraxeln muss oder wenn es luftig wird, kann man sich gut festhalten. Das ist dann auch ganz spannend. Es weht ein leichter Wind, die Sonne brennt, und man kommt sich abenteuerlich und verwegen vor.

So richtig anstrengend ist das nicht. Das wirklich Anstrengende an dieser Gratwanderung ist nur das letzte Stück hinauf zum Heimgarten, zumal noch Schnee lag, als wir es begingen. Der Anstieg war knackig, der Altschnee war verharscht und unter der Oberfläche schon weggetaut. Vor uns Laufende waren durch die Schneedecke gebrochen und hatten Löcher hinterlassen, wo der Schnee nicht mehr trug. Das verhinderte aber nicht, dass auch ich mehrmals tief einsackte.

Pause und Gipfelpanorama:

Sagte ich, das Forderndste sei das letzte Stück zum Gipfel gewesen? Das stimmte nicht. Denn danach ging es knapp 1.000 Höhenmeter hinab: drei Stunden in Serpentinen hinunter zum Walchensee. Als wir unten ankamen, konnten wir keinen Schritt mehr gehen. Ja, wir mussten nach Rückkehr in unsere Unterkunft sogar für nur ein Stockwerk den Aufzug benutzen: Der Aufstieg zum Zimmer und vor allem der Abstieg zum Abendessen hätten uns den Rest gegeben.


Drei | Ich hatte die Anstrengung des Bergsteigens durchaus in Erinnerung, aber die Erinnerung war leicht getrübt, um nicht zu sagen: erheblich verklärt. Alles in allem hatte ich mich leichtfüßiger in Erinnerung.

„Bei meinen bergsteigerischen Unternehmungen“, wird der 1906 geborene Bergführer Anderl Heckmair zitiert, „hatte ich allzeit den Grundsatz: Es kommt nicht auf die Leistung, sondern auf das Erlebnis an.“ So sagte ich es mir auch. Wenn ich nicht grad nach Luft schnappte.


Vier | Wir nächtigten in der Jugendherberge in Garmisch-Partenkirchen. Wir mögen Jugendherbergen. Man hat ein Bett, einen Tisch, einen Schrank und ein eigenes Bad, mehr braucht es nicht für einen guten Aufenthalt. Es ist sogar sehr schön, keinen Fernseher zu haben und auch kein WLAN auf dem Zimmer. Dann schaut man keine Nachrichten. Man schläft und liest viel. Das ist gesund für die Seele.

Das Essen war gut und unprätentiös: Nudeln mit Soße, Chili con Carne (sogar vegetarisch) oder Gnocchi – gute Mahlzeiten ohne Gewese. An der Rezeption gab’s Weißbier und Radler für kleines Geld, und wenn wir uns abends in die Gemeinschafträumlichkeiten setzten, konnten wir mit Leuten reden, mussten aber nicht. Wir konnten auch einfach nur vor uns hin gucken oder lesen. Alles geht in der Jugendherberge, nichts muss. Ohne Schickimicki, dafür mit viel Freundlichkeit und Herzenswärme.


Fünf | Die Menschen in den bayerischen und den Tiroler Wäldern können sehr schön Holz stapeln.


Sechs | Nach Tirol fuhren wir, um die Berge von der anderen Seite anzugucken. Auch sehr schön!

Zartes Sissi-und-Heidi-Gefühl. Pausenaussicht:

Wettersteinwand, im Vordergrund Wanderschuhe von sitzenden Menschen

Sieben | Nach der Gratwanderung besuchten wir eine Therme. Wir lagen im warmen Wasser, auf Liegen und Bänken, schliefen ein, wachten wieder auf und bejammerten unsere schmerzenden Beine. Ich las Der Sommer meiner Mutter von Ulrick Woelk. Schon der erste Satz dieses Buches haut rein:

Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.

Doch danach startet die Geschichte erstmal in den Bilderreigen der alten Bundesrepublik. Auf nur 190 Seiten findet die Einbauküche ihren Platz, der piefig-verspannte Ingenieurshaushalt trifft auf alternativ-progressive Nachbarn, Sexualität erwacht, ebenso die weibliche Emanzipation, Jeans werden modern – und Janis Joplin. Im Hintergrund: die Mondlandung und der Vietnamkrieg. Woelk bringt dies alles im Spannungsverhältnis von sechs Personen unter. Eine großartige Erzählung, die ich in einem Rutsch durchgelesen habe.


Acht | Die Partnachklamm war auch wieder sehr schön. Jedesmal, immer aufs Neue, beeindruckend, wie das Wasser durch die Schlucht drängt.


Neun | Der Berggasthof auf dem Eckbauer guckt erstaunt, wenn Leute vorbeikommen:

Alpenhaus, oben zwei Fenster, unten ein Fenster. Es sieht aus wie ein erstauntes Gesicht.

Wenn man hinter der Partnachklamm weitergeht, den Berg hinauf, immer in Serpentinen, dann über Wiesen und weitere Serpentinen, immer began, kommt man dorthin. Es gibt Radler, Apfelschorle und Buttermilch – und, falls man keine Brez’n dabei hat, etwas zu essen.

Hinunter geht es über die andere Seite, mit Ausblick:


Zehn |  In Dortmund wohne ich in der Nähe des Phoenixsees, jenem künstlich angelegten See, der an sonnigen Wochenenden Volk aus allen Himmelsrichtungen anzieht.

Der Eibsee scheint ein bisschen wie der Phoenixsee zu sein. Es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, denn der Eibsee ist nicht künstlich, sondern natürlich und weitaus majestätischer. Seine Kulisse ist romantischer, die Gesamtästhetik am Fuße der Zugspitze deutlich vortrefflicher.

Setzt man sich aber auf eine Bank und betrachtet die Flanierenden – es gibt viele -, erkennt man eine ähnliche Rollenverteilung wie in Dortmund: E-Bikes fahren Slalom um Fußgänger, Fußgänger laufen herum, Paare lassen sich fotografieren, Menschen mit Stöcken staksen zielstrebig an allen vorbei, Influencerinnen mit kleinen Influencer-Hunden posieren und alle würden, wenn sie könnten, mit dem Auto bis direkt ans Ufer fahren. Auf den Parkplätzen staut sich das Blech.


Gelesen | Auf einer langen Bahnfahrt mit viel Verspätung wurde Frau Novemberregen klar, dass wirklicher Erfolg im Scheitern zu suchen ist.

Eine Reise in die Weinberge, Triple Win und ein passiv-aggressives Meerschwein

27. 01. 2022  •  11 Kommentare

Expedition | Sich zu amüsieren, ohne zum Infektionsgeschehen beizutragen, ist dieser Tage nicht einfach. Weder kommt es in Frage, mehrere Leute zu treffen noch in Innenräumen zu turnen oder auf andere Weise Luft zu verwirbeln. Wandern im Nieselregen wäre möglich und vertretbar, ist aber außerhalb des Denkbaren: Nach dem Pandemiewinter 2020/21 bin ich davon immer noch gesättigt.

Ich fuhr nach Heidelberg zu einer Freundin. Leider war Heidelberg an diesem Tag kein Ort des Amusements, wahrlich nicht.

Wir verbrachten die Abende mit Klönschnack und die Tage mit Arbeit. Die Freundin war im Büro, ich machte in ihrer Wohnung Homeoffice am Esstisch. Dank virtuellem Hintergrund sah alles aus wie immer; ich hätte überall sein können.

In der Mittagspause ging ich eine Runde in den Weinberg. Ich dachte über die Sache mit dem virtuellen Hintergrund nach. Vielleicht könnte ich mich ja auch in Italien befinden. Oder auf Madeira. Oder in Spanien. Im kommenden Jahr wäre das – mit guter Planung – eine Option.

Am Abend schlenderten wir durch Heidelberg.


Die kleinen Dinge |  Alltagsbemerknisse ohne Relevanz:

  • Ich habe stapelbare Kisten gekauft, für den Keller. Im vergangenen Jahr bin ich ja ins Marmeladenbusiness eingestiegen. Das bringt mit sich, dass sich in meinem Haushalt jetzt leere Marmeladengläser ansammeln, nämlich alle, die leer gegessen wurden. Dank der Kisten kann ich sie nun strukturiert verräumen. Das macht mich glücklich.
  • Weiter überall Einschläge. Das Leben fühlt sich an wie ein Jump’n’Run-Spiel, Level 49. Ich teste mich zweimal pro Woche (Die große Würg-Wein-Show, live vor dem Badezimmerspiegel), außerdem bei Befindlichkeiten (Müdigkeit, Kopfschmerzen) oder wenn ich Leute außerhalb des engsten Zirkels treffe.
  • Als Ausgleich zum seit Wochen trüben Wetter kaufte ich provenzalische Dufterzeugnisse, Erfurter Pralinen („Zum trockenen Weißwein“) und eine Sushi-Dip-Mischung, die man in Sojasoße mischt; ein Experiment.
  • Die Heidelberg-Schriesheimer Freundin hat zwei Meerschweinchen. Eins davon heißt Lucien. Lucien pflegt passiv-aggressive Kommunikation an der leeren Futterschale.

Bemerknis | Die Durchseuchung der Kinder, das Alleinlassen der Lehrkräfte, Eltern und Familien, der Erzieherinnen und Erzieher, dazu die absurde Weigerung, Realität und Erkenntnis anzuerkennen, erschüttert mein Vertrauen in unsere Gesellschaft und unseren Staat in den Grundfesten. Das ist auf Jahre irreparabel.

Was, bitte, ist das für ein heilsamer Präsenzunterricht, in dem die halbe Klasse fehlt – und zugleich das Lehrpersonal? Was ist das für eine Schule, in der jedes Kind über kurz oder lang mit einem Virus infiziert wird, von dem wir nicht wissen, wie hoch das Risiko für Langzeitschäden ist? Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, die durch Beharren auf Präsenzunterricht verhindern will, dass Eltern als Arbeitskräfte ausfallen, die durch dieses Beharren aber dafür sorgt, dass ihre Arbeitskaft erst recht wegbricht, weil die Eltern sich unweigerlich bei ihren Kindern anstecken, mit dem Risiko langfristiger Leistungseinbußen? Was ist das alles für ein seltsames Theaterstück, in dem wir mit aller Kraft Normalität spielen, während um uns herum Kollegen, Mitschüler, Nachbarinnen erkranken?


Cupcake Ipsum | Für Grafiker:innen und alle, die Blindtext benötigen und eine Schwäche für Gebäck haben: Cupcake Ipsum.

In dem Zusammenhang: Es gab am Wochenende eine Waffelsituation.

Gedeckte Kaffeetafel mit Waffeln und heißen Kirschen

Im Kontext Waffeln wurden die neuen Klemmbausteine bespielt. Zum denen kam ich so: Eine Blogleserin meldete sich auf diesen Tagebucheintrag. Sie sagte, ihre Kinder seien aus dem Lego-Alter heraus, sie habe allerdings noch jede Menge vorrätig, elf Kilo. Sie fragte, ob ich das haben wolle, sie werde es anderweitig nicht los; als Spende wolle es niemand annehmen. Wir vereinbarten eine Win-Win-Win-Situation: Ich spendete einen Beitrag an die Hochwasserhilfe, sie spendete mir im Gegenzug das Lego. Zack, drei Gewinner: Ich bekam ein Riesenpaket, die Blogleserin hat freie Regale, und die Hochwasserhilfe Geld.

Parkett, darauf verteiltes Lego

Eigentlich gibt es sogar sechs Gewinner, wenn man die Beutekinder mitzählt.


Geschaut | Die Wannseekonferenz. Eindrücklicher Film, unbegreiflich in der Sache.

Geschaut | Ich bin dein Mensch. Ein wunderbar leichter und gleichzeitig tiefgründiger Film. Tolle Schauspielleistung. Noch bis Juni in der ARD Mediathek.

Berliner Schnipsel

20. 10. 2021  •  Keine Kommentare

Berliner Schnipsel | Nun ist es schon eine Woche her, dass ich aus Berlin zurückkam. Einige Schnipsel möchte ich dennoch notieren.

Ich besuchte den Hamburger Bahnhof, das Museum für Gegenwart. Moderne Kunst und ich, wir passen nicht recht zusammen; sie lässt mich ratlos zurück. Aber man muss sich ja konfrontieren – immer wieder, gerade auch mit den Dingen, die einem nicht liegen. Ich wollte herausfinden, ob sich etwas geändert hat an der Kunst oder an mir. Auch der eigene Blick auf die Welt wandelt sich ja mit der Zeit.

Bei all meinen Konfrontationen ist es außerdem so, dass immer etwas dabei ist, das ich dann doch gut finde. Diesmal war es das Werk von Joana Hadjothomas und Khalil Joreige, die anhand von Bohrkernen die Geschichte Beiruts, Paris‘ und Athen zeigen. Die Kerne hängen wie Zeitkapseln im Raum und zeigen die unter der Oberfläche befindlichen Überreste vergangener Städte. Eindrücklich und zum Denken anregend, senkrechte Menschheitsgeschichte.

Ich betrachtete die Bohrkerne gemeinsam mit jemandem, den ich in meiner Mediationsausbildung kennengelernt habe. Wir trafen uns weiland in Bad Waldliesborn, dem Epizentrum des ostwestfälischen Kurwesens. Es war Nachmittag, und wir standen an der Rezeption eines trutschigen Hotels, dessen Leitfarben Türkis und Dunkelbraun waren. Wir waren beide zu früh angereist und wussten nichts mit uns anzufangen; als Übersprungshandlung gingen wir zusammen Bienenstich essen. Es entsponn sich ein angeregtes Gespräch. Dieses Gespräch hält bis heute an. Er ist Professor für Betriebswirtschaftlehre, ist in den Sechzigern, war lange Jahre Unternehmensberater und hat allerlei anderen, sehr interessanten Hintergrund. Wir treffen uns regelmäßig auf Zoom, um voneinander zu lernen und uns zu inspirieren, ein schönes Arrangement. An diesem Tag in Berlin trafen wir uns real; er ist gebürtiger Berliner, und wir lustwandelten durch die Stadt. Das eigentliche Ziel war ein Baumkuchencafé an der Spree; weil so schönes Wetter war und weil man selbst als engagierteste Baumkuchenliebhaber nicht den ganzen Tag Baumkuchen essen kann, bauten wir weiteres Programm drumherum.

Passend zu den Bohrkernen besuchten wir den Invalidenfriedhof – ebenfalls Zeuge vergangener Zeiten. Ich sagte es schon einmal: Ich mag Friedhöfe. Sie erzählen hunderte von Geschichten.

Der Invalidenfriedhof erzählt nicht nur preußische Militärgeschichte, sondern auch die Geschichte der deutsch-deutschen Trennung: Die Mauer ging mitten durch die Anlagen.

Auf dem Weg zum Baumkuchen kamen wir am Schloss Bellevue vorbei. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte ich den Professor nicht auf den Rasenmähroboter aufmerksam gemacht, der neben einem Bäumchen auf der Wiese stand – ein Trumm von einem Gerät, kantig und in militärischem Grau. „Er stört mein ästhetisches Empfinden schon sehr“, sagte der Professor. „Das würde ich gern klären.“ Sprach’s und marschierte auf das Tor des Schlosses zu. Dahinter stand ein Polizist, ein rundlicher Mann in gesetzem Alter, darauf aufpasste, dass niemand Unfug trieb, die Daumen hinter die Weste geklemmt.

Schloss Bellevue mit Rasenfläche davor

Ob es sich tatsächlich um einen Mähroboter handelte, fragte der Professor, und erntete ein freudiges Nicken. Der Polizist war sichtlich angetan von der Unterbrechung seines Wachdaseins.

Es entwickelte sich ein angeregtes Gespräch über Mähroboter und Mulchmaschinen, und wir erfuhren, dass der Rasen vor dem Zaun – im Gegensatz zu dem direkt vor dem Schloss – nicht mit dem Roboter gemäht wird, sondern klassisch. Die Gartenbaufirma, sagte der Polizist, bearbeite das Gras mit derselben Technik wie den Rasen im Stadion. Wir schauten genauer hin und sahen das Streifenmuster; ein Abseits wäre hier wunderbar zu erkennen. Am ästhetisch fragwürdigen Vorhandensein des Mähroboters änderte unsere Unterhaltung jedoch nichts: Der Roboter, sagte der Polizist, stehe halt, wo er stehe, er könne auch nicht weggetragen werden, dafür sei er zu schwer. Beschwingt durch das erquickliche Gespräch, aber dennoch asthetisch enttäuscht zogen der Professor und ich von dannen.

Am nächsten Tag reisten der Reiseleiter und die drei Beutekinder an, und wir verbrachten drei Tage in den Straßen der Stadt, an Frittenbuden und als Spione im Museum. Es folgt eine Erzählung in Bildern.

Außerdem entdeckten wir die Hinterhöfe und Spielplätze – Orte, denen ich in Berlin bislang nicht so viel Beachtung geschenkt hatte. Aber mit Kindern, so hört man, ändert sich ja das Leben; das trifft offenbar sogar dann zu, wenn es nicht die eigenen sind.

Panoramaaufnahme von einem Hinterhof mit Spielplatz

Verantwortung ins Team | Ein ganz anderes Thema: Verantwortung. Genauer gesagt: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Verantwortung bringen. Meine Kollegin Andrea Schmitt und ich bieten in Kürze ein Impuls-Webinar an: Kollegiale Führung in der Teamarbeit – Werkzeuge für effiziente Zusammenarbeit und mehr Eigenverantwortung der Mitarbeiter:innen.

Vier Stunden, mit Pausen, in denen wir Methoden, Formate und Tools vorstellen, mit denen man Teams in Verantwortung bringt und die Führungskräften helfen, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren.


Käte | Cathrin Brackmann vom WDR hat sich mein Buch angeschaut und erzählt im WDR darüber. Auf Youtube stellt meine Lektorin Katharina Dittes „Die Frau, die den Himmel eroberte“ vor:

Es ist noch mehr passiert. Nichts Weltbewegendes, aber dennoch allerlei Schönes. Das erzähle ich in den nächsten Tagen.

Eine Reise an die Spitze Dänemarks: Die letzten 70 Kilometer bis nach Skagen und die Tage danach

7. 09. 2021  •  4 Kommentare

Vorab | Am vergangenen Donnerstag fiel ich, in Skagen angekommen, in einen tiefen Entspannungszustand und konnte nichts niederschreiben. Deshalb jetzt eine Nacherzählung der letzten Reise-Ereignisse.


Dybvad – Skagen | Nachdem wir im Wald mitten in der Walachei geschlafen hatten, brachen wir zur letzten Etappe nach Skagen auf, an die Nordspitze Jütlands. Nach zwanzig Kilometern erreichten wir das Meer – zum ersten Mal auf der Tour. In Sæby sahen wir also zum ersten Mal Strand. Juchhuu!

Wir hatten auf der Tour ein Riesenglück mit dem Wetter. Die ganze Woche über hat es nur einmal geregnet – am ersten Abend in Vejle, als ich mit Bibo auf dem Hof des Hostels fuhr. Danach war nur noch Sonnenschein.

Von Sæby aus fuhren wir nach Fredrikshavn. In Fredrikshavn gibt es den einzigen Berg in der Region, den Pikkerbakken, der sich 70 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Der Reiseleiter sah vor, dass wir hinauffuhren – wenn schon ein Berg vorhanden sei, meinte er, könne man ihn auch bezwingen.

Für meinen Geschmack waren wir in den vorangegangenen Tagen ausreichend bergauf gefahren, vor allem gemessen daran, dass ich eine Flachlandreise gebucht hatte. Aber der Reiseleiter ignorierte meine Einwände und entgegnete, ich solle mich bei der Zentrale beschweren. Außerdem sei es oben bestimmt sehr schön, man könne hinunterschauen.

So fuhren wir zur Aussichtsplattform hinauf. Dort oben war es tatsächlich schön, so dass ich unerfreulicherweise keinen Grund mehr zur Grummeligkeit hatte.

Anschließend fuhren wir hinunter in die Stadt – und hinaus auf die Landstraße.

Die verbleibenden vierzig Kilometer der Etappe waren komplett flach. Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen! Statt Hügeln hatten wir nun lebhaften Gegenwind. Ich dachte zunächst, nur ich sei so kraftlos. Aber irgendwo im Nichts zwischen Jerup und Vester Knasborg stoppte der Reiseleiter plötzlich, schaute mich an und sagte: „Findest du auch, dass es heute anstrengend ist?“

Nun, eigentlich fand ich es jeden Tag anstrengend.

Erfreulicherweise machte das Land zehn Kilometer später einen Knick, der Gegenwind wurde zum Seitenwind und kam sogar bald von schräg hinten. Auf dem Dünenradweg nach Skagen trampelten wir deshalb frohgemut durch Gras und Heide, bis wir zur versandeten Kirche St. Laurentius kamen.

Die Kirche stammt aus dem 14. Jahrhundert und hatte auch mal ein Hauptschiff. Es wurde aber ständig von Flugsand zugeweht. Irgendwann gab man das ständige Sandschaufeln auf und riss das versandete Kirchenschiff ab. Nur der Turm blieb und steht noch heute.

Hinter der Kirche ließen wir uns vom Wind nach Skagen hinein und bis vor unser kleines, gelbes Haus schieben.


Skagen ohne Fahrrad | Die Regel für den nächsten Tag war: Es ist kein Fahrrad beteiligt.

Wir gingen also ausschließlich zu Fuß. Skagen ist ein hübsches Städtchen, es gibt viele Gassen und einladende Geschäfte. Außerdem gibt es einen Eisladen, der die Eiswaffeln selbst macht. Wir würdigten und unterstützten diese Mühen.

Außerdem gibt es in Skagen ein Bonbongeschäft mit einer Bonbonmaschine. Aus der Bonbonmaschine kommen Bonbons mit Motiven, zum Beispiel dänischen Flaggen. Auch hier unterstützten wie die Bemühungen.

Am Strand von Skagen stehen noch zahlreiche Bunker aus dem zweiten Weltkrieg.

Mehr als 600 Bunker gibt es an den jütländischen Stränden. Sie waren Teil des Atlantikwalls. Der Tagespiegel hat ihnen einen Bericht gewidmet.

Wenn man den Strand weitergeht, kommt man an Det Grå Fyr, den grauen Leuchtturm. Am Turm ist ein Zentrum für Zugvögel, denn Millionen von Vögeln passieren jedes Jahr die Nordspitze Dänemark auf ihrem Weg in den Süden.

Wir gingen hinter dem Leuchtturm weiter und kamen nach Grenen, zur Norspitze Dänemarks. Dort treffen Nordsee und Ostsee zusammen, und ich hätte nicht gedacht, dass man es so gut sieht. Wirklich faszinierend. Wir saßen eine ganze Weile dort und schauten zu, wie die Wellen aufeinandertrafen.

Danach gingen wir den Nordstrand Skagens entlang. Es war menschenleer und ganz wunderbar.

16 Kilometer zu Fuß, null Kilometer mit dem Fahrrad.


Gammel Skagen | Am nächsten Tag war Fahrradfahren dann wieder erlaubt. Wir fuhren nach Gammel Skagen zur Nordseeseite der Stadt, schauten uns die Badehotels an und hingen am Strand ab.

Am Strand steht ein Haus zum Verkauf, eine Immobilie mit Renovierungsstau Potential. Es hing kein Preisschild dran, und ich bin skeptisch, was die Kombination aus Lage, Klimawandel und Sturmfluten betrifft. Falls Sie es dennoch als Wohnsitz oder auch als Renditeobjekt ins Auge fassen, hier ein Bild:


Rückfahrt feat. Lokführerstreik der GdL | Am Sonntag ging es dann heim. Wieder mit der Bahn, zumindest innerhalb Dänemarks. Wieder wollte niemand unser Fahrradticket sehen, das der Reiseleiter sich so hart in Hotlines erarbeitet hatte.

Als Menschen, die mit der Deutschen Bahn sozialisiert wurden, sind wir darauf konditioniert, dass der Waggon für die Fahrräder am Ende eines Zuges angehängt ist, also eine Wanderung entfernt von der Stelle, an der man den Bahnsteig betritt. Zusätzlich wir sind darauf getrimmt, sportlich auf eine umgekehrte Wagenreihung zu reagieren und einen 200-Meter-Sprint ans andere Ende des Bahnsteigs hinzulegen.

In unseren dänischen Zügen hatten fast alle Waggons die Möglichkeit, Fahrräder abzustellen. Sowohl auf der Strecke Skagen – Aalborg, als auch auf den Strecken Aalborg – Odense und Odense – Padborg sahen die Mehrzahl der Waggons aus wie unten auf dem Bild. Ein angenehmeres Erlebnis als im engen IC-Fahrradwaggon, in dem die Fahrräder sich vor Enge kaum an ihren Platz bugsieren lassen.

Die Züge hielten an jeder Milchkanne. Wir stiegen zweimal um. In Odense Verwirrung: Dass der Zug nach Hamburg wegen des Lokführerstreiks in Padborg endet, war uns bekannt. Aber er wurde nicht einmal angezeigt. Nach mehrfachem Durchlesen aller Anzeigetafeln, Suche nach Bahnpersonal, ratlosem Umherlaufen und hektischem Wischen in der App die Durchsage: Der nächste Zug auf Gleis fünf fahre wie geplant nach Padborg, es stehe allerdings „Kopenhagen Flughafen“ dran – so wie auf allen Anzeigen und in der App „Kopenhagen Flughafen“ stehe. Es habe sich jemand vertippt, sorry.

Zentrale Datenhaltung. Ist doch schön.

In Padborg war dann Ende. Mit zweimal Umsteigen und in zwei verschiedenen Regionalzügen wären wir noch bis Hamburg gekommen. Aber dann wäre endgültig Schluss gewesen, zumindest für diesen Sonntag.

Ich kann für solch einen Fall nur raten, sich einen Ex-Mann anzuschaffen. Der fuhr nämlich sechs Stunden aus dem Ruhrgebiet nach Padborg, um mich und den Reiseleiter dort abzuholen. Mega.


Fazit | Fahrradreise – gerne wieder. Man sieht viel vom Land, vor allem Dörfer, Orte und Wege, die man sonst nicht sehen würde. Der Kopf wird frei, denn das Blut ist in den Beinen – da bleibt keine Kapazität fürs Nachdenken über Arbeit oder sonstwas. Abends ist man rechtschaffend müde und schläft gut. Morgens ist man zwar immer noch müde, wird aber rasch munter. Gerne wieder.

Dänemark, Teil II: Picknick am Hald Sø, Minigolf in Viborg und ein Haus am See

30. 08. 2021  •  6 Kommentare

Danhostel Sillkeborg | Der Tag begann mit einem innigen Dänemark-Gefühl: Ich fühlte mich wie Gorm der Alte. Der Gedanke, heute 77 Kilometer Fahrrad zu fahren, war völlig absurd. Ich schaffte es irgendwie aus dem Bett und in den Frühstücksraum des Danhostel. Beim Anblick des Buffets ging’s mir schon besser.

Danach: Tasche packen und aufs Rad. Tschüss Silkeborg!


Silkeborg – Klejtrup | Die Strecke begann mit einem saftigen Anstieg, wie soll es auch anders sein. Danach wellte sich die Landschaft aber nur noch.

Die ersten 35 Kilometer traten wir locker runter und picknickten mit Blick auf den Hald Sø. Am Haldsee gibt es auch die Ruinen einer alten Bischofsburg. In ihr wohnen jetzt Schwalben.

Dann wieder aufs Rad, radeln, radeln, radeln. Dass es nicht mehr ganz so bergig, sondern nur noch hügelig ist, wird dadurch ausgeglichen, dass wir jetzt Wind von vorne haben.

Der nächste Halt: Viborg. Wir waren eis- und gebäckbedürftig. In Viborgs Innenstadt hingen Blumenbälle in den Straßen. Es gab Sand, Minigolf und Lounge-Sessel, Schmetterlingsflieder und offene Jurten.

Es ist alles sehr hübsch hier. Die Städte, die Bauernhöfe, das ganze Land. Ich habe den Eindruck, dass sich alle Mühe geben, es sich schön zu machen.

In Viborg sagte der Reiseleiter den magischen Satz: „Ich habe eine schöne Alternativroute gefunden.“ Der Satz hätte mich stutzig machen sollen, denn er sagte ihn schon einmal – damals in Cuxhaven. Seinerzeit endete es so, dass wir unsere Fahrräder zwei Kilometer weit über einen Trampelpfad durch tiefen Sand schoben, während uns Pferdebremsen verspeisten.

Ich war jedoch gerade in ein Milchhörnchen mit Schokoguss vertieft. Deshalb nahm ich den Satz nicht genau wahr. Wir bogen also bei Kilometer 58, kurz hinter Viborg, von unserer geplanten Route ab, und nun ja, was soll ich sagen: Die Stimmung war danach nicht so gut. Es gibt hier nämlich außerordentlich schwergängige Schotterwege, die zu allem Übel auch immer bergauf führen.

Während ich dies schreibe, fragt mich der Reiseleiter, ob ich blogge. Ich antworte ihm, dass ich gerade die Geschichte der schönen Alternativroute aufschreibe. „Dann musst du aber auch erzählen“, sagt er, „dass wir durch eine sehr schöne Gärtnerei kamen. Und durch Obstwiesen.“

Halten wir fest: Es gab auf der Alternativroute ein paar Blumen und Obstbäume. Glücklicherweise fuhr mir just in dem Moment, als ich hinter der Gärtnerei in einem Sandloch verendete, das Schokohörnchen ins Blut, so dass meine Stimmung entgegen der Umstände deutlich stieg. Im gleichen Moment schlingerte jedoch der Reiseleiter im Kies und war seinerseits missgelaunt.

Am Ende erreichten wir sowohl das Ende der Schotterwege als auch das Ziel: Nach 81 Kilometern kamen wir in Klejtrup an – gut gelaunt, denn die Unterkunft ist wunderbar.

“Hast du mich lobend erwähnt?“, fragt der Reiseleiter. – „Ich habe geschrieben, dass du eine sehr schöne Unterkunft ausgesucht hast.“ – „Gut.“


Bemerknisse | Mich beschleicht das Gefühl, dass Kinder hier einen sehr hohen Stellenwert haben. Die Schulen und Schulhöfe, die Spielplätze und Freizeitstätten, an denen wir vorbeiradeln, sind toll ausgestattet, fantasievoll und mit Hingabe. Ich habe noch kein einziges heruntergekommenes Klettergerüst, keine Schule mit bröckelnder Fassade und keinen Sportplatz mit einem Acker von Rasen gesehen.

Zudem ist offenkundig, dass auch Radfahren eine andere Aufmerksamkeit bekommt als in Deutschland. Nicht nur, dass Dänemark voll ist von Fahrradwegen. Die Radwege lassen sich auch befahren. Sie enden nicht plötzlich irgendwo. Sie sind entweder gut markiert oder von der Fahrbahn getrennt. Hinzu kommen die kleinen Dinge:

  • Die Dänen haben überall, wo Fahrradfahrer:innen einen Bürgersteig hinauf oder hinab müssen, kleine Rampen aus Bitumen hingegossen. Zum Beispiel, wenn man aus einer kleinen Straße links auf eine große Straße abbiegt, und der Radweg auf den Bürgersteig geführt wird. Es ist einfach gegenüber jeder kleinen Einmündung eine Rampe an den Bürgersteig betoniert, so dass man ohne anzuhalten, ohne das Rad hochzuheben und ohne einen Stunt weiterfahren kann.
  • In verkehrsberuhigten Zonen, in denen Fahrbahnschwellen den Autoverkehr verlangsamen, stehen neben den Schwellen Blumenkübel. Rechts davon wird der Fahrradweg geführt, das heißt: Fahrradfahrer müssen nicht über die Huppel fahren, sondern können einfach geradeaus durchfahren, ohne dass ihnen eine Schwelle die Lendenwirbel zerschlägt.
  • Die Fahrradwege neben den Landstraßen sind beleuchtet – auf Höhe der Räder. So dass man die Fahrbahnunebenheiten, Äste und kreuzende Igel sieht. Fantastisch.

Feierabend | Wir sitzen jetzt noch ein bisschen hier herum.

Dänemark, Teil I: Grundmoränen und ein Besuch bei Gorm dem Alten

29. 08. 2021  •  4 Kommentare

Bahn | Wer mit der Deutschen Bahn und einem Fahrrad irgendwohin fahren möchte, zum Beispiel nach Dänemark, muss das wirklich wollen. Internationale Fahrradtickets kann man nämlich nur in einem Reisezentrum der Deutschen Bahn, zu Fuß und offline, oder telefonisch kaufen.

Gut, dachte sich der Reiseleiter, dann rufe ich halt dort an. Nach 45 Minuten Warteschleife erhielt er im Juli, sechs Wochen vor Reiseantritt, die Auskunft, dass es noch kein Kontingent für Fahrkarten nach Dänemark gebe. Wir warteten also. Einige Woche später rief der Reiseleiter noch einmal an. Nach nur 30 Minuten Warteschleife die freudige Kunde: Es gebe buchbare Fahrradtickets nach Dänemark. Wir erhielten zwei. Die Menschentickets mussten wir separat online buchen.

Während die Menschentickets also in der Bahn-App waren, waren die Fahrratickets zunächst nirgendwo. Denn die Bahn kann sie nicht in ihre App schicken, sie kann sie auch nicht per E-Mail schicken, und auch nicht mit der gelben Post. Kauft man ein Fahrradticket ins Ausland, kann man es nur an einem DB-Automaten ausdrucken.

Der Reiseleiter dachte: „Gehe ich halt zum nächsten Bahnhof, tippe auf dem Automaten herum, und dann kommt das Fahrradticket heraus.“ Tatsächlich gibt es allerdings nicht an jedem Bahnhof einen Automaten der Deutschen Bahn. In Haltern, dem Wohnort des Reiseleiters, gibt es zum Beispiel nur Automaten des Verkehrsverbundes. Die Automaten des Verkehrsverbundes verkaufen zwar Fahrkarten für die Deutsche Bahn, sie drucken aber keine vorbestellten Fahrkarten aus.

„Na gut“, dachte sich der Reiseleiter. Er war zu dem Zeitpunkt schon nervlich angespannt. „Fahre ich halt zum nächsten größeren Bahnhof.“ Dort gab es tatsächlich einen DB-Automaten. Die Identifizierung sollte mit der BahnCard des Reiseleiters erfolgen. DB-Automaten sind jedoch eigen. Sie lesen zwar gerne Bahncards, aber nicht von jedem. Die des Reiseleiters zum Beispiel nicht.

„Macht ja nichts“, dachte er sich. Man kann sich auch mit der Auftragsnummer identifizieren. Wenn man sie hat. Blick in die Buchungsbestätigung: Kundennummer, Reisedatum, Verbindung, Preis. Jedoch keine Auftragsnummer. Nach nur 30 Minuten in der Warteschleife der Deutschen Bahn erhielt der Reiseleiter die Auftragsnummer, und mit der Auftragsnummer schlussendlich die Tickets.

Nur schade, dass sie während der gesamten Fahrt nach Kolding niemand sehen wollte.

Wir zeigten sie trotzdem jedem Zugbegleiter, der nicht danach fragte.


Etappe Eins | In Kolding angekommen – dramatische Umsteigeszenen wegen 30 Minuten Verspätung in Hamburg erspare ich Ihnen – setzten wir uns aufs Rad und fuhren 40 Kilometer bis nach Vejle.

Schon auf den ersten zehn Kilometer stellte ich fest, dass Dänemark erstaunlich hügelig ist. „Stark reliefierte glaziale Grundmoränenlandschaft“, dozierte die geografisch studierte Reiseleitung bei einem der Anstiege. „Mmmh“, antwortete ich leicht kurzatmig.

In Vejle angekommen, machten wir einen Abstecher zum Hafen. Dort steht ein wellenartiger Wohnkomplex: 115 Luxusappartments, die zwischen drei und 13 Millionen dänische Kronen kosten, also zwischen 500.000 und zwei Millionen Euro. Die größte Wohnung hat 250 Quadratmeter.

Der Komplex hat diverse Preise gewonnen. Wir schauten ihn uns von unten an. Solch prekäre Wohnverhältnisse kenne ich ja vom Dortmunder Phoenixsee nur in eckig.

Wir verlegten ins Studentenviertel, belohnten uns mit Pizza und fielen danach in unserem Danhostel müde ins Bett.


Etappe Zwei | Heute fuhren wir 63 Kilometer von Vejle nach Silkeborg. Auf den 63 Kilometern überwanden wir 630 Höhenmeter. Das ist f*cking Alpe d‘Huez hier.

Die Dänen wissen das und haben vor längeren und steileren Steigungen freundliche Motivationsschildchen an den Wegesrand gestellt. „Schau her, nur eineinhalb Kilometer und 15 Prozent Steigung! Und wenn du oben bist, loben wir dich!“

Tatsächlich ist es ganz hilfreich zu wissen, wie lange man durchhalten muss.

Die erste Station der Route war Jelling. In Jelling gibt es Wikingermonumente, das erste Unesco-Weltkulturerbe Dänemarks. In Jelling wohnten Gorm der Alte und sein Sohn Harald Blauzahn. Nach Harald Blauzahn ist die Bluetooth-Schnittstelle benannt; er hat sie aber nicht erfunden. In Jelling wurde auch das erste Mal das Wort „Dänemark“ auf einem Runenstein gefunden. Er ist vor der Kirche ausgestellt.

Nach Jelling trafen wir auf den Haervejen, den Heerweg oder auch Ochsenweg genannt. Er durchzieht große Teile Jütlands, geht von Viborg bis Vedel in Schlewsig-Holstein und war über lange Zeit sowohl Handelsweg als auch Marschroute von Armeen.

Am Heerweg liegt auch die höchste Kirche Dänemarks auf sage und schreibe 124 Metern. Dort machten wir Rast.

124 Meter klingt nicht viel. Aber bevor man auf dem hohen Gipfel ankommt, muss man viele, viele Male von zehn Meter auf achtzig Meter, zurück auf sechzig Meter, hoch auf 120 Meter, wieder runter auf 40 Meter, hoch auf neunzig Meter, bis einem die Oberschenkel brennen.

So ging es eigentlich die ganze Zeit – bis auf die Momente, in denen wir uns ausruhten.

Silkeborg wird vom längsten Fluss Dänemarks durchflossen: der Gudenå. Es gibt eine alte Papierfabrik, die zu einem hippen Wohn- und Ausgehviertel umgebaut wurde. Und es gibt Sonntagsabends nichts zu essen: Alle Restaurants hatten entweder geschlossen oder nur bis 20 Uhr auf – abgesehen von denen in der Papierfabrik, für die wir aber einen Kredit hätten aufnehmen müssen.

Zum Glück haben die Supermärkte hier großzügige Öffnungszeiten. Die Reiseleitung servierte im Hostel Falafel-Pesto-Salat an Rotwein. Wir dinierten mückenumschwirrt.

Morgen geht es weiter bis nach Klejtrup: 77 Kilometer.

Eine Expedition nach Clausthal-Zellerfeld zu Juliane, die mein Fahrrad umbaut

30. 07. 2021  •  8 Kommentare

Die Stimmung |  Das Erstaunliche an Clausthal-Zellerfeld ist, dass es sich anfühlt wie Estland.

Die Holzhäuser. Frisch Gestrichenes neben Abblätterndem. Ein Hauch Morbidität. Geschäfte, in denen die Zeit still steht, mit Schriftzügen, wie ich sie zuletzt in meiner Kindheit sah. Gelbe Tannen versprühen die Erinnerung an Laubsägearbeiten. Ein Hauch pittoresker Betulichkeit durchweht die Straßen. Mittendrin ein Friedhof. Es würde nicht verwundern, käme ein Räuchermännchen des Weges, im Vorbeigehen den Hut lupfend. Zugleich: LTE mit fünf Balken, auch im Wald. Die Stadt ist gefüllt mit jungen Menschen aller Hautfarben. Und auf dem Berg eine Hochschule, die für eine nachhaltige Gesellschaft forscht.

Die älteren unter den Leserinnen und Lesern erinnern sich an meine Reisen ins Baltikum, in die Turnhalle nach Tartu/Estland und nach Riga, zur lettischen Bierbrauererei und ins Land der Puddingschnecken. Damals verspürte ich sie auch, diese Dissonanz zwischen Alt und Neu, zwischen museumsgleicher Szenerie, Fortschritt und Technologie.


Das Anliegen | Ich fuhr in den Harz, weil eine Blogleserin die Geschichte meines Fahrradkaufs verfolgt hat und mir daraufhin eine Fahrrad-Ergonomie-Beratung bei Juliane geschenkt hat (Danke!!). Juliane wohnt in Clausthal-Zellerfeld, hat dort die Fahrradschmiede 2.0 und fertigt Fahrräder auf Maß. Vielleicht kennt jemand das mitwachsene Kinderfahrrad Skippy – das hat Juliane erfunden. Außerdem fertigt sie Fahrräder für kleinwüchsige Menschen, verkauft Brompton-Klappräder und hat das Klapp-Liegefahrrad erfunden (mehr in diesem Beitrag). Überdies macht sie eben Ergonomie-Beratung (Julianes Buch dazu und die Sicht eines Physio-Therapeuten), um Menschen wie mir zu sagen, was sie an ihrem Fahrrad anders und besser machen können.

Ich fuhr also zur Fahrradschmiede 2.0, einer ehemaligen Tankstelle, in der Juliane nun ihr Ladengeschäft und ihre Werkstatt hat.

Fahrrad vor der Fahrradschmiede

Juliane schickte mich zuerst auf die Straße, ließ mich mit meinem Fahrrad auf und ab fahren, schaute mich dabei an und sagte: „Dass der Sattel viel zu niedrig ist, weißte, ne?“ Dann stellt sie den Sattel beherzte 15 Zentimeter höher. Dann fuhr ich nochmal. Und nochmal. Dann baute sie das Rad um.

Während sie baute, erklärte sie mir, wie Menschen auf Fahrrädern sitzen. Sie holte ein Modell des menschlichen Beckens und der Wirbelsäule, setzte beides auf einen Sattel, kippte es und bog es, bis das Becken fast lag, aber eben nur fast, und sagte: „So.“ Ich fragte: „Und wenn die Sattelspitze höher ist?“. Sie drückte die Spitze des Sattels gegen das Beckenmodells, machte ein schmerzverzerrtes Gesicht und antwortete: „Dann ist da die Klitoris.“ Sie erzählte, warum Sättel nicht nur nach vorne geneigt sein sollten, sondern auch nicht zu breit sein dürfen und Fahrräder heutzutage zu kurz sind – und dass viel mehr Menschen viel mehr Fahrrad fahren würden, wenn sie richtig darauf säßen.


Das umgebaute Rad | Wenn man mein Fahrrad nun betrachtet, nach seinem Umbau, sieht es sehr unbequem aus. Schmaler, spitzer Sattel, deutlich nach vorne geneigt, vorne ein Vorbau für mehr Länge und geschwungener Lenker für mehr Höhe.

Fahrrad vor Okersee, der Sattel ist hoch eingestellt. Auf dem Gepäckträger eine Fahrradtasche.

Aber es hat alles seine Richtigkeit: Durch den nach vorne geneigten Sattel kippt auch das Becken nach vorne. Der Rücken ist nicht mehr rund, sondern wird gerade, die Lendenwirbel werden entlastet. Man könnte nun denken, man rutsche beim Fahren vom Sattel. Das ist aber nur der Fall, wenn er zu breit ist. Dann stößt man sich bei jedem Tritt mit der Rückseite seines Oberschenkels von der Sitzfläche ab. Ist die Sitzfläche schmal, passiert das nicht.


Die Testfahrt | Juliane teilte eine Komoot-Tour mit mir: von Clausthal aus hinab zur Okertalsperre, einer alten Trasse folgend, einmal um den See herum und durch Wald wieder hinauf.

Panoramaaufnahme: Fahrrad auf dem Weg um den Okersee
Straße, vor Kopf ein graues, ehrwürdiges Holzgebäude, rechts eine weniger prunkvolle, aber gepflegte Häuserreihe in weiß-rot

Die Fahrt hinab war eine Freude, und doch konnte ich sie nur bedingt genießen. Ich musste ja alles auch wieder hinauf, schon sehr bald sogar – ein Gedanke, der quälend die Begeisterung trübte. Um den See herum war es allerdings wunderbar: 15 Kilometer gerade Strecke mit Ausblick auf Wasser und Boote.

Dann der Rückweg. Erst mehrere Kilometer bergan. Schließlich erreichte ich einen langen, steilen Anstieg. An dessen Fuß ein Schild: „Clausthal-Zellerfeld 4,5 Kilometer“. Ich stieg ab, körperlich und moralisch entkräftet.


Die Teiche | Die Moral kam rasch wieder zurück, als ich, kaum hatte ich die Steigung hinter mir gelassen und war wieder aufs Rad gestiegen, einen Badeteich erreichte. Juliane hatte mir vorab erzählt, dass es in der Umgebung von Clausthal 70 Teiche gäbe, allesamt künstliche Relikte aus der Bergbau-Zeit, hatte ich Handtuch und Badeanzug eingepackt und ließ mich zu Wasser. Großartig!

Nach der Tour spürte ich, dass ich nichts spürte: Die Anspannung im unteren Rücken, die ich nach längeren Fahrten sonst immer hatte, gab es nicht.


Die Okertalsperre |  Die Okertalsperre hat eine lange Geschichte (#bildungsblog). Sie reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück, als Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel Wasser stauen ließ, damit man Baumstämme einfacher flußabwärts nach Wolfenbüttel, in die Residenzstadt des Herzogs, transportieren konnte. Das Dammbauwerk bestand aus Baumstämmen, die man mit Sand und Steinen füllte und mit Moos abdichtete. Es hieß „Großer Juliusstau“ und war seinerzeit die größte Talsperre in deutschen Landen. Das war 1570.

Die Okertalsperre ist aktuell nicht einmal zu 40 Prozent gefüllt.


Nachtfahrt | Am Abend fuhren Juliane und ich essen, nach Zellerfeld, in den zweiten Ort im Stadtnamen. Dazu ging’s erst in einer Schussfahrt hinab (Juliane: „Wenn du ein Auto vor dir hast, das nur 50 fährst, ist das immer doof!“), dann wieder hinauf und hinein ins Restaurant. Dort trafen wir einen ihrer Kunden; er hat einst mit dem Liegeklapprad den Ätna umrundet, und Juliane erzählte aus dem Harz. Alles zusammen Stoff für mindestens zwei Bücher, eins davon ein Psychokrimi; ich lasse die Geschichte noch in mir reifen.

Auf dem Rückweg gab es die Möglichkeit, den Berg nicht hinauf und wieder hinab, sondern entlang zu fahren, durch den Wald bei Dämmerung. Wir tasteten uns mit den Rädern vor, keuchend in der dennoch ordentlichen Steigung, über rumpelige Waldwege und begleitet von trudelnd flatternden Fledermäusen.


Julianes Kanban-Büro | Weil wir uns über unsere Arbeit, über Büro-Organisation und über die Aufkleber in Julianes Laden unterhalten hatten, fuhr ich am nächsten Tag noch einmal zu ihr, und sie zeigte mir, wie sie ihr Geschäft mit Kanban organisiert, einer Methode der Produktionssteuerung, die für einen guten Arbeitsfluss sorgt. Elemente aus Kanban nutze ich auch, wenn ich mit Kunden zusammenarbeite – und ich erkläre sie in Seminaren.

Plötzlich spürte ich sie wieder, die Dissonanz vom ersten Tag, in diesem 1848 erbauten Hinterhaus, das einst eine Tankstelle war und in dem nun eine Fahrradmechanikerin arbeitet, mit Methoden, wie sie Coaches mit großen Worten in Konzerne tragen. Da ist sie wieder, die Erkenntnis: Fortschritt findet im Kopf statt, nicht in den Fassaden.


Gelesen und gehört | 14.000 Wissenschaftler und Forscherinnen warnen vor einem weltweiten Klimatnotstand. In Sachen Klima kann ich auch empfehlen: den Gradmesser-Podcast des Tagesspiegel. | Herr Buddenbohm macht sich Gedanken über die kommende Woche, in der in Hamburg die Schule wieder beginnt. Er verweist dabei völlig zurecht auf einen seiner Texte aus dem Juni 2020 und den Irrglauben, es gäbe einen Plan.



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