Zehn Bemerknisse zu einer Reise nach Estland
Über Ostern machte ich eine Reise. Ich fuhr in eine Turnhalle nach Estland, um dort Teenagern beim Basketballspielen zuzuschauen. Ich berichtete seinerzeit von den Planungen. Nun bin ich wieder da – und möchte Ihnen die wesentlichen Erkenntnisse nicht vorenthalten.
#1 Die Reise
Die Idee kam von meiner Freundin aus Moskau: Ihr ältester Sohn (sie hat drei) spielt ambitioniert Basketball bei Dynamo Moskau und absolviert regelmäßig Turniere in der Baltic Boys Basketball League, einer internationalen Veranstaltung für Jugendliche. Über Ostern spielte die Liga in Tartu, Estland. Meine Freundin fragte mich, ob ich nicht nach Tartu kommen wolle, das sei doch eine prima Gelegenheit, sich mal wieder zu sehen.
Ich reiste also:
- am Gründonnerstag mit dem ICE von Dortmund nach Frankfurt
- flog von Frankfurt nach Tallinn im Norden Estlands
- verbrachte eine Nacht in Tallinn
- fuhr am Karfreitagsmorgen mit dem Fernbus 2,5 Stunden nach Tartu im Süden Estlands
- blieb zwei Tage und Nächte mit den Russen in Tartu (auf mein Bett sind Sie bestimmt sehr, sehr neidisch)
- fuhr am Ostersonntag mit dem Fernbus zurück nach Tallinn
- blieb noch zwei Tage und Nächte in Tallinn
- flog von Tallinn zurück nach Frankfurt und
- fuhr mit dem ICE von Frankfurt zurück nach Dortmund
Das schreibe ich so genau, weil: Es lief alles maximal geschmeidig und fluffig. Alles pünktlich, jeder Einstieg, Umstieg und Zustieg war super und entspannt, ich betrat exakt zum ersten Viertel des ersten Basketballspiels die Turnhalle in Tartu und begann sogleich, die Mannschaft anzufeuern.
Überhaupt ist mir bei diesem Ausflug mal wieder aufgefallen, wir angenehm das Reisen sein kann. Die Deutsche Bahn macht einen guten Job (ja, tatsächlich), die Lufthansa war prima (dieser fiese Eierschleim auf dem Sandwich ist allerdings inakzeptabel), Tallinns ÖPNV-Busfahrer sind sehr hilfsbereit, und diese estnische Fernbussache ist sowieso der Hammer: ein picobello Abfahrtserminal, russische Quarkriegelchen im Kiosk, beinahe seelsorgerische Busfahrer und eine Multimedia-Station im Vordersitz – mit Internet, Spielen und aktuellen Kinofilmen (ich schaute „Der Marsianer“ – Trailer – und evakuierte Matt Damon). Spitzenmäßig.
Ich hätte mit LuxExpress übrigens auch nach Riga, Wilnius, St. Petersburg, Moskau oder Kiew fahren können, und vielleicht kommt ein Tag, an dem ich das tue.
Rundum empfehlenswert, auch mit diesem Reiseaufbau.
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#2 Die Tage in Tallin
Tallinn ist eine unglaublich tolle Stadt, ich war überrascht. Nicht, weil ich andere Erwartungen hatte. Sondern weil ich gar keine Erwartungen hatte, was für den Erfolg einer Sache ja immer besonders gut ist. Mit Estland hatte ich mich bislang nämlich noch nicht beschäftigt, da gab’s keine Berührungspunkte.
Entsprechend überrascht war ich auch, dass überall noch Schnee lag, zumindest auf Feld, Wald und Wiesen. Das war etwas naiv von mir, denn: März, Flug nach Nordosten, gleicher Breitengrad wie die Südspitze Grönlands – da hätte man drauf kommen können.
Wie dem auch sei.
Immerhin: Tallinn selbst war weitgehend schneefrei. Dort reiste ich nicht in die Eiszeit, sondern ins Mittelalter: Türmchen, Gassen, Stadtmauern, pittoreske Häuser, eine stattliche Basilika, ein Hügel zum Runtergucken und im Hintergrund die Ostsee.
Außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern gibt’s jede Menge Einkaufsmöglichkeiten und neuzeitliche Architektur – wie die Linnahall, die ehemalige Stadt- und Multifunktionshalle Tallinns. Sie ist hübsch hässlich und seit 2009 nicht mehr in Betrieb. Die Zeit arbeitet auch eher gegen sie.
Wenn ich allerdings nochmal 17 wäre und in Tallin wohnte, würde ich mich an lauen Sommerabenden ganz sicher mit meinem Freund dort treffen und rumhängen. Adoleszente Romantik entfaltet ihre Kraft schließlich am besten vor der morbiden Kulisse des Verfalls.
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#4 Die Abende in Tallinn
Was bei Tag hübsch ist, ist es noch mehr bei Nacht: Tallin wird in den Abendstunden prima beleuchtet, das sollten Sie, wenn sie einmal dort sind, mit einem Spaziergang würdigen.
Flanieren ist unumgänglich, wenn man in eine der vielen Kneipen und Cafés möchte oder gegen Abend dort einkehrt und irgendwie hängenbleibt, was gut passieren kann. Kneipen und Cafés gibt’s nämlich einige, und sie sind allesamt ziemlich toll, besonders in der zweiten und dritten Gasse jenseits der Touristenplätze. Zu essen bieten sie alles, was man haben möchte: Fleisch, Fisch, vegetarisch, vegan, estnisch, italienisch, asiatisch, Kaffee und Kuchen oder Knoblauch.
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#5 Die Nächte in Tallinn
Die Nächte verbrachte ich im Hotel Cru – im Nachhinein eine optimale Wahl.
Das Hotel liegt in der Tallinner Altstadt, alles ist fußläufig zu erreichen. Es befindet sich außerdem in einem der ältesten Häuser der Altstadt, ist verwinkelt und urig. Alle Zimmer sind Unikate.
Frühstück gab’s bis 11, was ich jetzt auch nicht schlimm fand.
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#6 Die Tage in Tartu
In Tartu habe ich, natürlich, die Sporthalle besichtigt, die Ülikooli Spordihoone. Das scheint mir so eine Art Leistungszentrum zu sein, genau konnte ich das nicht feststellen; jedenfalls haben sie dort nicht nur eine Turnhalle, sondern auch Anlagen für Leichtathleten, Krafttraining und alle möglichen anderen Dingen. Das Ganze machte einen sehr professionellen Eindruck mit Pokalen in Vitrinen.
Wir schauten nicht nur bei den Spiele zu, sondern verbrachten einen Teil der Zeit auch damit,
- den Gatten und den kleinen Sohn der Freundin zu füttern und
- den Basketball-Jungs Essen zu bringen,
denn wir waren die einzigen, anwesenden Fans mit einem Pkw (das Team selbst war mit dem Bus gekommen) und deshalb in der Lage, die Catering-Schachteln von der Sporthalle ins Hotel zu bringen, die hungrigen 13-Jährigen zu beliefern, und den leeren Karton wieder zurück zu fahren.
Der Gatte und der Bub der Freundin haben außerdem immer Hunger, auch schon zwei Stunden nach dem Frühstück wieder, weshalb wir, nachdem wir die Teenager abgefüttert hatten, postwendend den nächsten Hesburger aufsuchten (weil es dort auch Burger mit gesundem, dunklen Brot gibt – man kann es sich auch schönreden), und dort die Auslage leerfrästen. Der Freundinnengatte ist nämlich ehemaliger Tennisspieler, also so richtig, mit Listung bei der International Tennis Federation, Weltranglistenplatz und Teilnahme an der russischen Meisterschaft; er hat mich auch mal zum Tennisspielen eingeladen – also damals, vor vielen Jahren, als ich das noch nicht wusste; ich bin mit wehenden Fahnen in eine Falle getappt, aber das ist eine andere Geschichte … wo waren wir? Ach so: Der Mann hat jedenfalls einen gesunden Appetit.
Tartu selbst ist vergleichsweise frei von Höhepunkten. Oder anders, denn ich möchte nicht gemein sein: Es ist halt eine nette, beschauliche Kleinstadt. Es gibt eine Engelsbrücke …
… einen kleinen Park auf einem Hügel mit einer Kirche, die hinten intakt und vorne verfallen ist, aber schön verfallen, also irgendwie gewollt. Das war hübsch zu besichtigen, das kann man machen.
Wie ich auch schon weiter oben sagte: Wäre ich Teenager und hätte eine Liebschaft … Sie wissen schon.
Hier sieht man jetzt auch den Schnee, der tatsächlich da war, aber schon vor sich hin taute, weshalb es überall unglaublich matschig war. Also so richtig matschig, mit ausrutschen und alles vollsauen. Eine einzige Fango-Packung.
Am Karfreitagabend entzündeten die Esten übrigens Kerzen vor dem Rathaus. Ich dachte erst, das habe etwas mit Ostern zu tun. Tatsächlich fand mein Ostern in Estland überhaupt nicht statt: Mein Karfreitag war kein Feiertag, und auch an Ostersonntag hatten die Geschäfte geöffnet. Es gab auch nirgendwo Eier oder Hasen. Entweder feiern die Esten nach dem orthodoxen Kalender oder sie feiern eben nicht. Ich konnte es nicht herausfinden.
Die Kerzen jedenfalls entzündeten die Tartuer in Gedenken an die Opfer des sowjetischen Regimes. Das machen sie immer am 25. März.
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#7 Die Fahrt nach Alatskivi
Die Dynamo-Jungs hatten am Samstagabend ihr letztes Spiel. Am Sonntag hatten wir deshalb Zeit für einen Ausflug.
Wir setzten uns ins Auto und fuhren zum Schloss Alatskivi. Das liegt Jott-Weh-Deh nordöstlich von Tartu und ist nach Vorbild des schottischen Balmoral Castle errichtet. Man biegt im Dorf zwischen Tannen und Moosen um die Ecke, und da steht dieses Dingen:
Dort wohnte dereinst Sophie Heloise Marie Euphrosine von Stackelberg, die Tochter des Barons von Alatskivi und spätere Frau des Barons von Luunja, Ernst Friedrich von Nolcken. Das hört sich alles sehr deutsch an, ist es auch. Migrationshintergrund quasi.
Was ich mich allerdings vor allem fragte, als ich in ihrem Wohnzimmer stand und in den Wald hinausblickte: Was hat Sophie Heloise hier bloß den ganzen Tag lang gemacht? Gestickt? Sich frisiert? Die Ländereien durchgezählt? Im Grünen zu wohnen, ist ja sehr schön – ruhig und reizarm und so -, aber Alatskivi … das ist noch deutlich, uhmmm, erholsamer als Brandenburg.
Naja, hübsch hatte sie es jedenfalls.
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#8 Der Peipussee
Das Schloss liegt in der Nähe des Peipussees. Ich hatte von diesem See noch nie etwas gehört, im Gegensatz zu meinen Russen, die eine geradezu mythische Verbindung zu dem Gewässer hatten. Das mag daran liegen, dass es eine Schlacht gab, die Schlacht auf dem Peipussee, die dem westlichen Geschichtsunterricht nicht so wichtig ist und mir deshalb unbekannt war, für Russen aber legendär ist und in der der Nowgoroder Fürst Alexander Newski im Jahr 1242 eine Streitmacht des Livländischen Ordens vernichtend schlug.
Die Ritter waren seinerzeit mitnichten mit Schiffen unterwegs, sondern zu Pferd, denn der See war zugefroren – so wie bei meinem Besuch.
Staunend und mit offenem Mund verharrte ich minutenlang am Ufer und starrte in die weiße Leere. Denn hey: Ich kenne den Sorpesee und den Möhnesee und dann noch den bayerischen Kochelsee, aber das sind allesamt Pfützen gegen den Peipussee, der fast 150 Kilometer lang und 50 Kilometer breit ist, Kilometer – das muss man sich mal vorstellen; das kann man sich gar nicht vorstellen. Er bildet fast die gesamte Ostgrenze Estlands zu Russland.
Folglich sieht man, wenn man am Ufer steht, nicht das andere Ufer, sondern nur weiß. Zwischendrin türmt sich Eis auf oder Schnee oder gefrorene, zusammengeschobene Gischt, was immer es sein mag.
Ich dachte erst: Hui, ob ich den betreten kann? Aber der See friert 50 bis 60 Zentimeter tief zu, da kann ein Auto drüberfahren. Ich bin darauf herumgelaufen, es hat nicht mal geknackt, es war auch nicht glatt, es war wie auf einem Feldweg. Das war ein ganz neues Erlebnis.
Ulkig war, dass das Wetter an Ostersonntag sehr sonnig war, wir hatten fast zwölf Grad. Die ersten Esten kreuzten in T-Shirt und kurzer Hose auf, während wir inmitten des Eises standen. Das war surreal.
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#9 Die Jungs von Dynamo Moskau
Nun auch ein paar Worte zum Anlass meiner Reise, den Dynamo-Jungs. Ich hatte gedacht: Naja, das ist halt eine C-Jugend, die wie eine C-Jugend spielt; sie geben sich Mühe, werfen sich den Ball zu und manchmal auf den Korb, und die Eltern stehen am Rand und klatschen, weil sie Eltern sind.
Auch das war eine naive Annahme, denn die U12 von Dynamo Moskau trainiert sechsmal pro Woche. Trainer ist ein ehemaliger Basketballprofi, die Jungs werden für die Turniere von der Schule freigestellt, das ist alles sehr professionel und sieht dann im Ergebnis alles andere als nach der C-Jugend von, sagen wir, Eintracht Stoppelbeck aus. Es war eine Freude zuzusehen – und Sie ahnen es nicht: Ausgerechnet die kleinsten und schmächtigsten Burschen werfen einen Dreier nach dem anderen, da berührt der Ball nicht mal den Ring.
Aus diesem Jahr gibt es keine Videos, deshalb hier mal eins aus 2014, dieselbe Altersklasse, ebenfalls in Tartu:
Zwei Spiele gewonnen, zwei verloren, das letzte mit 60:61 gegen das Heim-Team von Tartu Rock, das war bitter – für die Zuschauer aber super, weil richtig spannend.
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#10 Würde ich es nochmal machen?
Na klar! Im Prinzip mache ich das auch: Denn im Sommer hat Dynamo Moskau ein Trainingscamp in Riga. Dort soll es ja auch sehr schön sein.