Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Expeditionen«

Pizzeria in Strandnähe

6. 09. 2017  •  12 Kommentare

Sie setzen sich an den Nebentisch: Er, sie und ein Junge.

Er, ein Mann so mittelalt, wie es sonst nur Gouda ist, Haarkranz, Herrensandale und kariertes Hemd. Die Haare rasiert er sonst kürzer, das sieht man. Doch im Urlaub sind sie gewachsen, einige Millimeter nur, und schon sieht er plötzlich seinem Vater ähnlich. Sie hat lange, dicke Haare mit mehr Grau als Schwarz, Fleecepullover, Trekkinghose. Eine Frau mit der Aura von Sandelholz. Neben ihr sitzt der Junge: kein Kind mehr und auch noch kein Erwachsener, schlaksig, seine Augen blicken ins Leere. Es strengt ihn an, keine Sandburgen mehr zu bauen; er hält aus, den ganzen Urlaub schon.

Sie blättern in der Karte, und der Mann sagt: „Nehmen wir Bruschedda vorweg?“ Er sagt Bruschedda, mit Sch wie Schürfwunde und zwei D.
Sie sagt: „Sicher“, und fragt den Jungen: „Und du? Wieder Prosciutto?“
„Jo“, antwortet der Junge und rutscht mit dem Hintern näher an die Kante des Stuhls. Er liegt nun halb und fläzt sich unter den Tisch.
Der Mann fragt: „Nehmen wir Bruschedda vorweg?“
„Hab ich doch gesagt“, sagt sie und blättert weiter in der Karte.
„Was hast du gesagt?“
„Dass wir Bruschetta nehmen.“
„Also ja.“
„Hab ich doch gesagt.“
Schweigen.
„Du musst dann aber auch was mitessen“, sagt er, und zu dem Jungen: „Im Restaurant sitzt man ordentlich.“ Pause. „Willst du auch Bruschedda?“
„Was isn das?“, fragt der Junge.
„Brot mit was drauf.“
„Nee.“
„Also nicht.“
„Nee.“
„Aber nicht, dass du hinterher doch was willst.“
„Will ich nicht.“
„Nu setz dich mal richtig hin“, sagt sie und knufft dem Jungen den Ellbogen in die Rippen.

Der Junge stützt sich mit beiden Händen auf die Stuhlfläche und schiebt sich hoch. Er legt einen Arm auf den Tisch und tippt mit dem Zeigefinger auf die Zinken seiner Gabel. Der Griff wippt auf und ab.
„Dich kann man auch nirgendwo mit hinnehmen“, sagt der Mann.

Die Kellnerin kommt. Er sagt: „Für mich einmal die 36. Dann noch die 12 und was nimmst du, Schatz?“
„17.“
„Und einmal die 17. Und vorweg zweimal Bruschedda.“
Die Kellnerin sammelt die Karten ein und geht.

Sie fragt: „Wieso jetzt zweimal Bruschetta?“
„Er isst auch was mit“, sagt der Mann.
„Ich hab gesagt, ich will kein Brot“, sagt der Junge.
„Am Ende nimmst du doch was.“
„Nehme ich nicht.“
„Ist ja egal jetzt.“

Sie schweigen. Draußen biegt der Wind die Bäume.

„Morgen müssen wir dann mal sehen“, sagt er. „Wie das Wetter wird.“
„Sehen wir dann ja“, sagt sie.
„Ob wir dann nochmal an den Strand gehen oder doch was anderes machen.“
Der Junge wippt mit der Gabel. Der Mann langt über den Tisch, greift die Gabel und legt sie neben seine eigene. „Damit ist jetzt Schluss“, sagt er.
„Lass ihn doch“, sagt die Frau.

Der Mann lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor dem Körper. Der Junge fläzt sich wieder unter den Tisch und verschränkt ebenfalls die Arme. Der Wind heult. Die Frau faltet Knicke in ihre Serviette.
Nach einer Weile sagt der Mann: „Ich rauch‘ noch eine, bevor das Essen kommt.“ Er steht auf und geht den Gang hinunter. Die schwere Tür schlägt hinter ihm ins Schloss.

„Er nervt“, sagt der Junge.
Sie schweigt und faltet.

Schickt mich auf Weltreise!

17. 08. 2017  •  20 Kommentare

In drei Monaten um die Welt:

Weleda schickt einen Blogger oder eine Bloggerin auf die Reise.

Von farbenprächtigen Granatapfelhainen in Italien bis hin zu malerischen Gärten in 1.200 Meter Seehöhe in Argentinien wirst du auf der Weleda Weltreise viele schöne und beeindruckende Orte kennenlernen. […]

Führe interessante Interviews, fotografiere Plantagen und lasse dich vom Lavendelduft betören. Werde Teil von Weleda, erstelle faszinierende Storys und teile dein Abenteuer.

Ich habe mich beworben – und brauche Eure Unterstützung. Denn bei der Auswahl der Landesfinalisten zählen die online gesammelten Stimmen. Mit ihnen komme ich in die Endausscheidung der letzten Sechs.

Screenshot von meiner Kandidatenseite

Screenshot von meiner Kandidatenseite bei „Weleda Global Garden“

 

Gewinne ich und reise als deutsche Vertreterin um die Welt, schreibe und publiziere ich für Weleda – und nehme Euch mit auf die Reise! Im Weleda-Blog, hier, auf Instagram, bei den Gärtnerinnen, auf Twitter und auf Facebook.

Jetzt für tolle Kännchengeschichten abstimmen!

*

Around the world in three months! The company Weleda pays a blogger to travel around the world to visit the Weleda Global Gardens. Groves of pomegranates in Italy and picturesque gardens in 1.200 metres above sea level in Argentina: I’ll have the opportunity to stroll through fascinating gardens around the world.

But first I need your support: Vote for me to become one of the best six candidates in Germany!

If I win and if I travel around the world as the German represantative, I’ll write and publish for Weleda (in English) and take you with me on a wonderful journey! Of course I’ll also publish here in my blog, on Instagram, on my garden blog, on Twitter and Facebook.

Your vote for Vanessa’s stories

Zehn Bemerknisse zu einer Reise von Dortmund über Bern nach Heidelberg

21. 02. 2017  •  18 Kommentare

1. Wenn ich wegfahre, stelle ich sehr oft fest: Überall ist es schöner als in Dortmund. Das drückte beim Blick auf die Berner Alpen ein bisschen auf die Stimmung. Ansonsten war die Stimmung aber großartig – ist ja logisch, bei dieser Aussicht:

Oberhalb des Gurtendorfs bei Bern mit Blick auf die schneebedeckten Alpen

2. Von dieser Einschätzung bezüglich Dortmund sind natürlich die Menschen im Ruhrgebiet ausgenommen. Sie sind einmalig und die eigentliche Schönheit des Zuhauses. Und der Dortmunder Fußballverein. Der ist auch super, logisch. Aber sonst ist das Berner Stadtpanorama etwas schöner als das Dortmunder. Ganz bisschen.

Bern: Stadtpanorama

3. Was die Stimmung bei einer Reise in die Schweiz eindeutig und immer hebt, ist, neben der Landschaft, dem Reisen an sich und der Reisebegleitung, das Berndeutsche. Welch schöner Dialekt. So freundlich und harmonisch, so melodiös.

4. Bahnfahren ist immer noch die beste Art zu reisen, vor allem, wenn man alleine reist. Die Reise an sich wird offenkundig, das Wegzurücklegen und damit das Ziel des Reisens als solches. Außerdem kann man, wenn man sieben Stunden dasitzt, jede Menge tolle Dinge tun, zum Beispiel aus dem Fenster sehen und zuschauen, wie die Wolken vom Rheintal aufsteigen.

Rheintal

5. „Für drei Tage in die Schweiz? Dann hast du ja nichts vom Urlaub!“ Wenn man den Hinweg und den Rückweg, also das Fahren an sich, ebenfalls als Urlaub empfindet, sind es doch wieder drei volle Tage und dann habe ich sehr viel davon. Außerdem muss ich regelmäßig andere Luft atmen, auch wenn es nur für kurz ist.

6. Es ist mit leichter Hand möglich, 75 Schweizer Franken und damit den Gegenwert einer achttägigen Rainbow-Tours-Busreise nach Lloret de Mar (inklusive 1 Freigetränk) in eine Handvoll Schokolade zu investieren. Nicht so leichte Hand, sondern der gesamte, zur Verfügung stehende Bedürfnisaufschub ist allerdings vonnöten, diese Schokolade nicht an Ort und Stelle zu vertilgen.

7. Der Bedürfnisaufschub macht es, einmal installiert, dann allerdings möglich, die Hälfte des Schokoladeneinkaufs nach Deutschland zu importieren und Freunden bereitzustellen, die sich sehr freuen, weshalb wiederum ich mich freue. (Die andere Hälfte der Schokolade ist notwendig, die körperliche und emotionale Energie zu dieser Leistung aufzubringen.)

8. Das Neckartal rund um Heidelberg ist ergreifend hübsch. Bislang war es eine Gegend, an der ich nur vorbeigefahren bin, da ich mich noch nicht in einem Alter befinde, in dem ich Weinwanderungen oder Flusskreuzfahrten unternehme.

Heidelberg: Philosophenweg, Aussicht

9. Wie gut, dass ich nun Freunde im Neckartal wohnen habe. So kann ich das Thema „Weinwanderungen“ vorzeitig in Angriff nehmen. Vielleicht auch nur Wein, ohne Wanderung. Naja gut. Ein bisschen Wanderung. Auf dem Philosophenweg, sinnierend.

10. Heidelberg kann Kuchen und Apfelstrudel und überhaupt alles, was glücklich macht. Insofern ist wandern tatsächlich nicht schlecht, zur Kompensation.

Aufregung im Einkaufszentrum

30. 01. 2017  •  14 Kommentare

Es ist eines dieser Einkaufszentren im Ruhrgebiet. Ladenketten, Bäckereien und untendrin ein Supermarkt, downtown in der Fußgängerzone; ein Ort für Teenager auf Sinnsuche zwischen Lippenpflege und Skinny Jeans.

Ich sitze an einem der Eingänge in einem Bäckerei-Café und überbrücke die Zeit zwischen zwei Terminen mit Milchschaum und Brainstorming, so wie man es von Menschen in Berlin annimmt, nur dass meine Aussicht nicht die efeuberankten Altbauten eines Szenekiez sind, sondern ein Schuhladen, der für Winterstiefelschlussverkauf ab 19,90 Euro wirbt und in dessen belüftetem Eingangsbereich eine winzige Verkäuferin in der Warmluft steht.

Mein Blick auf sie wird durch vier silberhaarige Damen unterbrochen, die, jede einen Kakao und ein Stück Butterstreusel vor sich, ihre gesundheitliche Situation besprechen. Es geht um Hüften, Eierstöcke und die Serviceleistungen von Krankenhäusern in kirchlichen Trägerschaften, wobei man sich einig ist, dass evangelisch besser als katholisch, katholisch aber immerhin besser als städtisch ist, zumindest was das Nachmittagsgebäck in Orthopädie und Gynäkologie angeht.

Plötzlich Aufruhr: Polizei und Feuerwehr betreten die Szenerie und laufen ins Einkaufszentrum. Blaulicht flimmert in den Scheiben. Großes Hallo. Die Damen erheben sich leicht aus den Sesseln, so wie es ihre Hüften eben zulassen, und wenden sich der Fensterfront zu. Die Schuhverkäuferin dreht nur leicht den Kopf. Es scheint etwas Besonderes vor sich zu gehen, aber so wirklich gibt es nichts zu sehen. Das Geschehen findet um die Ecke statt.

Etwa zwanzig Minuten später kommen Frauen in Kitteln ins Café, auf der Kleidung das Emblem einer Drogeriekette. Ein junger Mann, heißt es, habe mit Reizgas um sich gesprüht, nichts Schlimmes, aber in diesen Zeiten weiß man ja nie. Die Verkäuferinnen werden mit Gratis-Kaffee versorgt. Die Silberdamen sind beim außerplanmäßigen zweiten Kakao, der Butterstreusel ist aufgegessen, aber es ist alles so aufregend. Noch aufregender wird es, als zwei Feuerwehrleute und ein Notarzt das Café betreten, junge Männer, die sich in warmem Tonfall erkundigen, ob noch jemand Hilfe benötige.

Die Damen erheben sich erneut und synchron in ihren Sesseln, setzen sich leicht um und lassen sich wieder sinken; es ist etwas deutlich Lorioteskes in dieser Geste. Ihr Blick ist nun nicht mehr gemeinschaftlich aus dem Fenster, sondern auf die Einsatzkräfte gerichtet. Eine der Frauen ergreift eine Serviette und fächelt sich Luft zu.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt der Notarzt. Er hat braunes, lockiges Haar und erfüllt alle Voraussetzungen für eine Krankenhaus-Vorabendserie.

„Und wie, Herr Doktor“, antwortet sie. „Und wie.“

Wandern auf Teneriffa – kleiner Ratgeber mit Fotos

1. 01. 2017  •  5 Kommentare

Ein bisschen Wandercontent.

Für Leute, die auch gerne wandern. Und für Leute, die anderen gerne beim Wandern zugucken. Ist ja ein Serviceblog hier.

Wanderungen und Erlebnisse auf Teneriffa:

Osten:
Küstenwanderung bei Puertito de Güimar
(Rother-Wanderführer Teneriffa, Tour Nr. 11)

Länge: 7 Kilometer
Reine Gehzeit: 2 Stunden
Höhenmeter: 150 Meter im Auf- und Abstieg

Jeder Wanderurlaub braucht eine Einstiegswanderung. Wegen Klima und überhaupt – man muss sich ja erstmal gewöhnen. Ans Urlauben. Ans Rumlaufen. Ans gute Wetter. An alles.

Eigentlich ist es keine richtige Wanderung, sondern mehr ein Spaziergang.

Weg auf Vulkanfläche mit Kakteen

Das Spazierwandern nahe Güimar führt durch Lavafelder am Meer entlang. Auf der Lava wachsen Kandelaberkakteen. Sie sind sehr groß. Man kann sich daneben stellen und staunen. Und Fotos machen, die man dann zu Hause seinen Eltern zeigt. „Guckt mal, wie groß die Kakteen sind!“ Großes Hallo.

Auf dem Weg kommt irgendwo ein Erklärschild zu den unterschiedlichen Vegetationszonen im Küstenstreifen. Es gibt außerdem viele Geckos, die aufgescheucht umherlaufen und dann unter Steinen verschwinden. Den Geckos möchte ich immer zurufen: Leute! Bleibt doch einfach auf Eurem Stein sitzen. Dann bemerkt Euch auch niemand. Niemand! Aber so!

Der Blick geht links in die Berge, rechts aufs Meer. Als ich das Foto mache, habe ich das Meer im Rücken. Sie hören das Rauschen auch, ne?

Vulkanfläche mit grünen Sträuchern

Ausgangs- und Endpunkt der Wanderung ist Puertito de Güimar. Das ist ein kleiner Küstenort mit einem zentralen Platz, an dem es Tapas-Bars gibt, in denen die Leute Sachen durcheinander essen, zum Beispiel Runzelkartoffeln mit Mojo und kleine Fische mit Kopf. Dabei telefonieren sie laut. Ziemlich prima. Und es gibt eine Eisdiele mit wirklich cremigem Eis.

Die kleine Wanderung lässt sich gut mit einem Besuch bei den Pyramiden von Güimar vereinbaren. Thor Heyerdahl hatte die Terrassenbauten als Forschungsobjekt für sich entdeckt. Sie sind nach dem Sonnenstand ausgerichtet. Er fand das ominös und meint, dass sie von den Ureinwohnern Teneriffas, den Guanchen stammen. Andere sagen, dass ein paar Bauern einfach ein paar Steine aufeinander gestapelt haben, um Partys darauf zu feiern.

Pyramiden von Güimar

Im Museum von Güimar kann man Einiges mehr über Thor Heyerdahl erfahren und wie er mit einem Papyrusboot über den Atlantik segelte. Es gibt außerdem einen Garten mit Giftpflanzen. Falls Sie dahingehend ein Projekt planen, Züchtung oder Nutzung, sei der Besuch wärmstens empfohlen.

Das Schönste an der Wanderung: der Weg am Meer entlang.

***

Westen:
Ums Santioago-Tal (Rother Nr. 28)

Länge: 11,2 Kilometer
Reine Gehzeit: 4 Stunden
Höhenmeter: 500 Meter im Auf- und Abstieg

Dies ist eine der Wanderungen, die mit einem steilen Anstieg beginnen, und danach lange die Höhe halten. Im letzten Drittel des Weges geht man wieder ins Tal zurück. Wanderungen mit diesem Höhenprofil sind die besten: Am Anfang quält man sich, aber danach ist es über eine lange Strecke ziemlich toll.

Der Rother-Wanderführer ist bisweilen blumig in seinen Beschreibungen. Da steht dann sowas wie „leichte Wanderung mit sportlichen Einlagen“. Die sportlichen Einlagen, darauf können Sie wetten, sind mehr als einlagig, und danach ist man reif für ein Eis.

Ernst wird es aber erst, wenn Rother gerade nicht blumig umschreibt, sondern die Dinge beim Namen nennt – in diesem Fall: „steil ansteigende Dorfstraße Calle La Rosa“.

Steil ansteigende Dorfstraße zwischen Häusern

Die Autos hatten Unterlegkeile vor den Reifen.

Hinter der Straße geht es eineinhalb Stunden knackig berghoch. Beim Berghochgehen finde ich es nicht entscheidend, wie steil es ist, sondern wie der Weg beschaffen ist. Je kleiner die Schritte sind, die man machen kann, desto besser. Je unregelmäßiger und größer die Schritte, desto schlechter. Am blödesten ist, wenn man mit hüfthohen Schritten über Felsen steigen muss.

Hier geht das Bergauflaufen prima. Im Wanderführer steht, der Weg führe „gemütlich bergan (mitunter etwas verwachsen)“, und das stimmt im Großen und Ganzen. Die Fläche links ist der Weg:

Steiniger, steil ansteigender Steig

Überall wachsen große Brokkolanten. In Wirklichkeit heißen sie nicht Brokkolanten, sondern Balsam-Aeonium, aber der Name passt gut. Riesenbrokkolis.

Nach 500 Höhenmetern habe ich einen tollen Ausblick auf Tamaimo – das Dorf, in dem wir losgegangen sind. Die Insel am Horizont ist La Palma.

Blick auf Tamaimo, Meer im Hintergrund

Es geht noch ein bisschen bergauf, dann führt der Weg auf einem Pfad den Berg entlang. Das Santiago-Tal öffnet sich. Die Sonne scheint. Das ist sehr schön.

Links das Dorf: Arguyao; geradeaus Tamaimo, und rechts auf dem Weg geht es nach Santiago del Teide.

Blick ins Tal, Straße windet sich, im Hintergrund das Meer

In Santiago del Teide gibt es eine Schule, deren Schulhofmauer mit Minions und Peppa Wutz bemalt ist. Große Freude! Bilder ans kleine Patenkind!

Der Weg führt auf der anderen Seite des Tals zurück.

Dass Bergablaufen leichter ist als Bergauflaufen, ist  ja einer der großen Irrtümer des Wanderns. Der Rückweg geht bei dieser Wanderung zwar weniger steil bergab als der Hinweg bergauf. Am nächsten Tag hatte ich trotzdem Muskelkater in Hintern und Beinen.

Blick ins Tal, Rückweg

Der Hinweg führte oben über die gegenüberlegende Bergkette.

Das Schönste an der Wanderung: der Blick ins Tal und aufs Meer. Auf dem Rückweg aufs Meer zulaufen.

***

Süden:
Auf den Roque del Conde (Rother Nr. 38)

Länge: 5,2 Kilometer
Reine Gehzeit: 3,5 Stunden
Höhenmeter: 500 Meter im Auf- und Abstieg

Da oben, rechts auf der flachen Fläche – das ist der Gipfel. Dort geht’s hin:

Roque del Conde von unten

Doch zuerst geht’s bergrunter. Das ist immer verdächtig. Wenn es runter geht, muss man auch wieder rauf, und wenn man schon sieht, wie weit rauf, ist ein Einstieg bergab ein Zeichen deutlichen Ungemachs. Wir durchqueren also erstmal einen Barranco.

Danach geht’s geschmeidig bergan (von links nach rechts):

Blick aufs Meer

Ich stapfe vor mich hin und genieße die schöne Aussicht. Nach einer Stunde kommt ein kleiner Sattel, und wir haben zum ersten Mal einen freien Blick auf die Küste.

Panorama: Auf der Hälfte, rechts geht's weiter bergauf

Rechts geht es weiter den Berg hoch. Auf dem Foto sieht das ganz fluffig aus. Doch zum Größenvergleich: Der weiße Punkt oberhalb des Kaktus ist der Mitwanderer – und der Weg führt erstmal um den Berg herum, bevor man den Gipfel erreicht. Da kommt noch ganz viel Uff.

Oder in Zahlen: Es folgen 300 Höhenmeter auf einer Länge von zwei Kilometern. Mehr als 100 Höhenmeter pro Kilometer heißt immer: großes Herz-Kreislauf-Bootcamp! Schön, dass uns Gleitschirmflieger begleiten. Erst einer, dann drei, dann fünf.

Aufstieg mit Blick aufs Meer

Der Rother-Wanderführer sagt: „mittelschwere Wanderung“ auf „teilweise auf steilem Pfad“. So sieht er dann aus, der „steile Pfad“:

Kraxeln

Beim Abstieg greife ich ab und zu dankbar in einen Ginsterbusch, um mich nicht lang zu machen. Aber Obacht: Ein Kaktus ist kein Ginsterbusch. #fuerSiegetestet

Der Rundumblick auf dem Gipfel entschädigt für alle Mühen:

Gipfelglück: Blick auf den Nationalpark mit Teide

Sogar mit Gipfelkreuz! Naja … Gipfelrohr. Video von der Ankunft auf dem Plateau. 

Zurück geht’s auf dem gleichen Weg wie hin. So sieht das dann aus, wenn das Ziel – das Dorf – nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt ist, aber ein Barranco im Weg ist. Der gezackte Weg ist der Weg zum Eis.

Rückweg: Erst runter, dann wieder hoch

Das Schönste an der Wanderung: der Rundum-Blick auf dem Gipfel.

***

Nationalpark:
Arenas Negras und Altas de Guamaso (Rother Nr. 70)

Länge: 12,3 Kilometer
Reine Gehzeit: 3,5 Stunden
Höhenmeter: 350 Meter im Auf- und Abstieg

Diese Wanderung ist relativ schlicht: unspektakuläres Höhenprofil, kein Gipfel. Trotzdem ist sie ziemlich super, denn sie ist eine ideale Wanderung, um die Cañadas zu genießen. Die Caldera de Cañadas ist ein vulkanischer Einsturzkessel im Zentrum Teneriffas. Er hat einen Durchmesser von 17 Kilometern. Es ist, als ob man auf dem Mond spazieren geht.

Die Wanderung ist eigentlich zwei Wanderungen: eine Runde durch die Arenas Negras, eine zweite Runde um einen kleinen Berg. Das Ganze beginnt auf 2030 Metern. Der höchste Punkt liegt auf knapp 2300 Metern. Das ist noch nicht wahnsinnig hoch, trotzdem schlauchen die Steigungen mehr als auf Meereshöhe.

Karge Landschaft, Blick auf Teide

Das Schöne an der Wanderung: Man hat die ganze Zeit den Teide im Blick. Außerdem gibt es Canyons, Krusten, Furchen und schroffe Vulkanlandschaft zumn Sattsehen.

Arenas Negras

Es weht ein ambitionierter Wind, und wenn man in kurzer Hose läuft und sich vorher die Beine eingeschmiert hat, ist man hinterher schön bepudert.

Im zweiten Abschnitt geht’s auf einem Weg über den Wolken an einem Berghang entlang. Ich habe mich wie ein Englein gefühlt – nur nicht ganz so beschwingt.

Steiniger Weg über den Wolken

Sentero 14: Schild über den Wolken

Blick von oben auf die Küste

Weil die Wanderung am Berggasthaus von El Portillo startet, gibt es die Möglichkeit einzukehren. Oder sich ein Eis auf die Faust zu kaufen, um sich damit auf einen Stein zu setzen und versonnen ins Tal zu blicken.

Das Schönste an der Wanderung: die Weite der Landschaft und die Wolken.

***

Zwei Wanderungen, die ich nicht in diesem Jahr, sondern vor sieben Jahren machte, als ich schon einmal auf Teneriffa war, möchte ich auch erwähnen. Denn sie sind Klassiker.

Westen:
Masca-Schlucht (Rother Nr. 26)

Länge: 8,4 Kilometer
Reine Gehzeit: 6 Stunden
Höhenmeter: 650 Meter im Auf- und Abstieg

Die Wanderung auf Teneriffa: den Barranco de Masca hinunter. Eine sehr imposante Schlucht: Steilwände, Wasserläufe und Berge, die sich zum Meer hin öffnen. Sobald man hineinsteigt, bleibt die Zivilisation draußen. Hier kann man nur zu Fuß durch.

Ein paar Italiener sind seinerzeit in Flip Flops hinunter geschlappt, eine dreiköpfige Familie hat mich joggend überholt – ich hingegen habe mich in Wanderschuhen gut ausgestattet gefühlt. Denn die Tour ist nicht ohne: Man muss über Felsen klettern, und es zeigt sich mal wieder, dass Bergabgehen keine so tolle Sache ist, wenn man nicht weiß, wo man den Fuß hinsetzen soll. Mehrmals stand ich vor einem Rätsel, wie es weitergehen sollte.

Die meisten Touristen gehen nur hinunter, aber nicht wieder hinauf. Vom Strand unten fährt ein Boot ab – allerdings muss man vorab Fahrkarten buchen. Ich bin seinerzeit wieder hinauf gelaufen. Das ging ziemlich gut und war sogar deutlich weniger beschwerlich als der Abstieg. Kann man also machen.

Nationalpark:
Auf die Montaña Blanca (Rother Nr. 77)

Länge: 18,5 Kilometer
Reine Gehzeit: 7 Stunden
Höhenmeter: 800 Meter im Auf- und Abstieg

Die anstrengendste Wanderung, die ich bislang unternommen habe. Aufstieg von 2000 auf rund 2800 Meter, kein Baum, kein Strauch, der Weg steil, ein irrer Fallwind, und auf dem Rückweg zogen Wolken ein, so dass die Orientierung schwierig wurde und wir hoppigaloppi heim rannten. Tolle Sache für Leute, die über eine gute Kondition verfügen, die Höhe gut abkönnen und denen Wind nichts ausmacht. Allen anderen rate ich ab.

Von der Montaña Blanca aus kann man über die Altavista-Hütte auf den Teide aufsteigen. Das sind dann noch 1.000 Höhenmeter. Wer vor Sonnenaufgang losgeht und bis 9 Uhr den gehnehmigungspflichtigen Pfad zum Teide-Gipfel wieder verlassen hat, braucht keine Erlaubnis des Nationalparks. Das ist ein schönes Projekt, an das ich mich in diesem Jahr aber nicht herangetraut habe.

17 Bemerknisse zu einer Reise nach Teneriffa

29. 12. 2016  •  13 Kommentare

1. Es braucht nicht viel zum Glücklichsein. Wärme, Meer, Berge. Frisches Baguette, Manchego und ein bisschen Salami. Ein kaltes Getränk. Ein gutes Buch. Ach ja, und: Meer. Erwähnte ich die Berge schon? Und das Meer?

2. Das Meer. Es ist am schönsten, wenn es windig ist. Die Farbe, der Geruch, das Tosen der Wellen, die spritzende Gischt. Toll. Ich kann mir das lange anschauen. Dasitzen, auf einem Stein, zusehen, wie die Wellen ankommen, wie sie brechen, wie sie mal über die Steine rollen, gegen sie schlagen, sie verschlingen, sie verschonen.

Teneriffa: Porís de Abona, Strand

3. Die Wärme. Erstaunlich, was Sonne mit Menschen macht. Alles ist viel wärmer, und damit meine ich nicht nur die Luft, nicht nur die Haut. Es ist das Leben. Es ist leichter, es ist herzlicher, es ist angefüllt mit Freude. Nein, nicht nur, weil Urlaub ist. Vielleicht liegt es auch an der Siesta. Man sieht die Wärme richtig:

Teneriffa: Wanderung auf den Roque de Conde, Rückweg

4. Die Pflanzen: alles riesig. Die Weihnachtssterne: mannshohe Büsche. Die kleinen Zimmerpflanzen von Ikea: bis zum Bauchnabel. Lustige Dickblattgewächse. Ficusse wie Eichen. Kakteen wie Häuser. Und eine Würgefeige wie aus Avatar.

Teneriffa, Botanischer Garten. Würgefeige

5. Bananen. Ich finde es ja immer super, die Dinge, die bei uns im Supermarkt liegen, in freier Wildbahn zu sehen.

Im Bananenwald

6. Im Urlaub schmecken sie viel besser. Weil im Urlaub alles anders schmeckt. Natürlich kann es auch an der vorab zurückgelegten Wegstrecke liegen. Denn die traditionelle kanarische Stützbanane gibt es erst nach der Hälfte des Wanderweges. Dann schmeckt sie besonders gut.

Teneriffa: Banane vor Palmenkulisse

7. Feigen!

Feigen am Baum

8. Nach der Wanderung gibt es ein Eis, das muss so, das steht in der von mir noch zu verfassenden Allgemeinen Wanderbibel. Der spanischen Eismarke Kalise gehört in diesem Zusammenhang ein Orden verliehen: für die Evolution des Sandwich-Eises. Statt einer harten, hellen, styroporesken Strukturwaffel begleitet eine weiche, glatte Kakaowaffel den Inhalt und wertet das schnöde Sandwich-Eis erheblich auf. Geschmack, Mundgefühl – hamma. Geradezu Kunst. Ich empfehle das Werk „Kubanito“.

Teneriffa: Kubanito-Eis

9. Pinke Mützen sind bei jeder Wanderung hilfreich. Bei Wind halten sie warm. Denn auch wenn die Hose kurz ist, fegt’s oben oft heftig um die Ohren. Und man ist inmitten des schwarzen Vulkangesteins immer zu finden. Deshalb: mehr pinke Wandermützen.

Pinke Wandermütze

10. Wolken, ne: super. Von oben. Das ist wirklich erhebend: über den Wolken laufen, atmen, sein. Diese Fluffigkeit. Wie sie fließen. Wie sie sich in die Berge schieben. Wie sie sich in Fetzen verlieren und zu Kissen sammeln. Wie sie in den Wald hinein kriechen.

Teneriffa: Wolken kriechen in den Wald

11. Ganz oben über den Wolken, auf 3.600 Metern Höhe, sieht man, wie der Horizont sich biegt. Großartig. Abgesehen davon ist es kalt. Und sehr, sehr windig. Wenn man fünf Schichten übereinander zieht, geht’s – auch wenn man sich dann wie ein Wanderklops fühlt.

Teide: Auf 3.600 Metern Höhe knapp unter dem Gipfel - Blick nach unten

12. Die erstaunlichste Erfahrung: Was die Höhe mit mir macht. Es fühlte sich an, als hätte ich leicht einen sitzen. Ging es bergauf, war das Kraxeln überraschend anstrengend. Wie das Herz dann von innen gegen die Rippen hämmert – spooky. Auf Meereshöhe wird die Luft mit 1.000 mbar in unsere Lungen gepresst, auf 3.600 Metern nur noch mit 650 mbar, ich hab’s nach der Expedition nachgelesen, um sicher zu gehen, dass ich mir meine Benommenheit nicht eingebildet habe.

Teide: Blick auf La Gomera und La Palma

13. Die Städte auf Teneriffa sind hübsch hässlich: Santa Cruz können Sie sich knicken. Puerto de la Cruz ist schon netter. Es ist auch zugebaut, es gibt auch viele Ecken, die nicht so schön sind, aber die Stadt hat Charakter. Die Hanglage, das viele Grün, die Altstadt – das ist alles einladend.

Teneriffa, Puerto de la Cruz: Altstadt

14. Schonmal so ein Graffiti gesehen? Hamma, ne? Gibt es Puerto de la Cruz, irgendwo in der Altstadt. Man geht dort entlang, der Blick schweift in Richtung Häuserwand, und dort ist das:

Puerto de la Cruz: Graffiti

15. Manchmal ist das Leben ja Loriot: Ab zum Strand, 30 Kilometer Weg. Auto parken. Liege aussuchen. Die hier am Rand? Oder lieber eine in der Mitte? Mit Schirmchen? Ach, lieber die hier vorne, nah am Wasser. Liege mieten. Liege einstellen: halb hoch, zum Lesen und Schlummern. Handtuch ausschütteln. Handtuch ausbreiten. Frei machen. Klamotten ins Schirmchen hängen. Einschmieren. Und als ich mich gerade gebettet habe und das Buch raushole, zack: Wolke vor der Sonne. Und noch eine Wolke. Wind. Regen. Aus dem Nichts! Das ist doch Truman Show!

16. In Spanien gibt es diese Seniorenspielplätze: Trainingsgeräte, die irgendwo herumstehen. Manchmal sieht man dort tatsächlich Leute turnen – warum auch nicht. Ich mache das auch, das ist prima: Man kann mit den Beinen schlenkern und fühlt sich gut. Besonders mit dieser Aussicht:

Frau Nessy von hinten auf einem Seniorenspielgerät am Meer

17. Fliegen. Auch wenn ich schon 40-, 50-, vielleicht 60-mal geflogen bin: Ich finde es weiterhin faszinierend. Ich möchte auch jedesmal einen Fensterplatz. Die Wolken, die Welt von oben, die Berge, die Meere, die Risse in der Oberfläche, das Erkennen aller Strukturen – Wahnsinn.

Teneriffa von oben

Weil das hier ein Serviceblog ist, folgt demnächst noch eine Übersicht der Wanderungen. Mit Fotos von der schönen Aussicht, ohne dass Sie selbst hochkletten müssen.

Bemerknisse zu einer Reise nach Lettland

9. 08. 2016  •  17 Kommentare

Es begibt sich, dass ich dieser Tage öfter mal nach Osten reise: Zum vergangenen Weihnachtsfest war ich in Polen, zu Ostern war ich in Estland. Nun Lettland.

Vorwort

Sowohl in Estland als auch jetzt in Lettland habe ich meine Moskauer Freundin und ihre Familie getroffen. Wir kennen uns seit einem Schüleraustausch 1993. Sie hat inzwischen drei Söhne: K1 ist zwölf, K2 ist neun und K3 fünf. Alle Kinder spielen Basketball bei Dynamo Moskau, K1 sogar sehr amibitioniert – mit Camps und Turnieren im Ausland, meist im Baltikum.

Die Konstellation „Mit Russen reisen“ ist eine ausgesprochen glückliche, nicht nur wegen ihrer Improvisationskunst: Nie wäre ich sonst auf die Idee gekommen, nach Estland oder Lettland zu fliegen. Zudem ist es interessant, das Verhältnis Russen – Letten und Russen – Esten aus einer neutralen Position zu beobachten. „Sie nennen uns Besatzer“, sagt die Freundin naserümpfend, „als ob wir hier jemals etwas besetzt hätten.“ Die Esten und Letten sehen das naturgemäß anders. „Dabei sprechen alle Leute Russisch“, sagt die Freundin. Allerdings nicht immer freiwillig: Manche weigern sich gar, obwohl sie die Sprache können.

Es empfiehlt sich zu lächeln und zu beobachten.

Falls Sie mögen und es nicht schon auf Instagram getan haben: Folgen Sie mir auf meiner Reise.

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Riga

Hansestadt, Hauptstadt, wirtschaftliches Zentrum: Ein Drittel der Letten lebt in Riga. Trotzdem ist die Stadt vergleichsweise klein: 700.000 Einwohner – mehr sind es nicht, die in Riga wohnen. Es bleibt alles sehr überschaubar.

Als Tourist besucht man als erstes die Altstadt – das historische Zentrum am Fluss Daugava mit Kirchen, Kneipen, Kaufmannshäusern. Das lässt sich alles gut anschauen.

Riga_Altstadt_01

Nachdem ich nun Danzig und auch Tallin besucht habe, ebenfalls alte Hansestädte, empfinde ich es als sehr beeindruckend, wie wichtig die Hanse einst gewesen sein muss – und wie reich und mächtig die Kaufleute waren. In den Gassen riecht alles nach dem einstigen Wohlstand: Handelshäuser, Kopfsteinpflaster, prunkvolle Fassaden – es fällt nicht schwer, sich das Treiben hier vorzustellen.

Riga_Altstadt_02

Es gibt viele Touristen, aber insgesamt ist es nur überschaubar voll.

Tipp:

  • Besuch des Doms mit Orgel (mehr als 6.700 Pfeifen!) und Kreuzgang.

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Wohnen in Riga

Die Orientierung in der Stadt ist einfach: Jenseits der Altstadt geht’s über den Fluss nach Westen – danach ist schnell Litauen ausgeschildert. Zur anderen Seite, Richtung Osten, führen drei große Straßen von Zentrum und Daugava weg, durchkreuzt von vielen kleinen Parallelstraßen: ein Schachbrett.

Die Gebäude dort: Altbauten mit unrenovierten Fassaden. Es erinnert alles an Gera 1993. Mancherorts ist der zarte Beginn eines Aufbruchs zu spüren: Straßen mit Cafés und Kultur, mit kleinen Läden und handgemachten Snacks – was im Web und im Reiseführer vollmundig angekündigt wird, gibt es erst sehr vereinzelt.

Hinter den Fassaden mag es freilich anders zugehen. Die kleine Wohnung, in der wir übernachteten, war sehr hübsch:

Riga_Wohnung

Tipp:

  • Wohnen irgendwo zwischen Krišjāņa Valdemāra iela und Aleksandra Čaka iela. Dann ist alles fußläufig erreichbar.
  • Kleine Cafés, Designläden und Schokofabrik an der Miera iela, danach auf Bier und ein Abendessen zu Alus darbnīca Labietis an der Aristida Briāna iela 9A2, direkt nebendran.

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Der Punsch ist Vater des Gedankens

Was sofort auffällt: die unglaublichen Mengen an Alkohol. In großen und kleinen Supermärkten oder in Spirituosenläden – Schnaps und Bier sind allgegenwärtig. Die Fläche, die der Alkohol im Supermarkt einnimmt, ist zwei- bis dreimal so groß wie die Gemüseabteilung. Es gibt 1,5-Liter-Bierflaschen. Die Auswahl ist riesig: viele Sorten aus Lettland, aber auch aus dem Ausland – Pils, Ale, mit Geschmackszusätzen und ohne.

Alkohol_Lettland

Tipp:

  • Beim Radlerkauf auf die Verpackung achten – es ist nicht immer nur Limo im Bier. Die Mischung aus lettischem Bier, Limone und Pfefferminz läuft jedem WC-Reiniger den Rang ab.
  • Populäres Stadtgetränk ist der Schwarze Balsam, ein Likör. Gibt es in Touristengeschäften, aber auch in jedem Supermarkt.

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Die Provinz: Ein Ausflug nach Odziena

Wer ein Land kennenlernen möchte, sollte die Hauptstadt verlassen. Das gilt auch für Lettland

Wir fuhren auf einen Ausflug nach Odziena, um ein altes Landgut mit angeschlossener Brauerei anschzuauen, dazu ein Schloss und ein tolle Landschaft. So haben wir es gelesen. Entfernung von der Hauptstadt: 97 Kilometer, Fahrtdauer: eineinhalb Stunden. Der Weg führte erst über die gut ausgebaute Landstraße, dann wurde es rumpeliger, am Ende kam das Ortseingangsschild – und dann auch schon das Ortsausgangsschild. Sollte hier nicht …? Also wieder zurück. Die touristischen Höhepunkte – es braucht ein geschultes Auge für sie in Lettland.

Da standen wir also auf dieser Kreuzung: vor uns das kleine, rote Haus. Daneben, an der Wiese rechts in einem ebensolchen Gebäude: der einzige Supermarkt des Ortes, ein frisch renovierter Elvi. Die dortige Mannschaft hat sogar einen Eintrag auf der Elvi-Website.

Odziena_Elvi

Was sich in Riga schon andeutete, fand im Elvi von Odziena seinen Meister: Der Markt, nur halb so groß wie ein Handballfeld, ist zweigeteilt. In der einen Hälfte: Katzenfutter, Klopapier und ein paar Lebensmittel. In der anderen Hälfte: Alkohol. Die zwei Damen hinter der Kasse: Sprangen sofort auf, als ich hereinkam. Natürlich könne ich die Toilette benutzen, gerne, gerne. Eine kalte Cola? Nein, die hätten sie nicht, nur das Bier sei kaltgestellt, aber wie wäre es mit einem Eis am Stiel? Das sei sehr kalt, pantomimten sie mit Lettisch.

Tritt man mit seinem Eis aus dem Laden, sieht man das hier:

Odziena_Panorama

Man kann sich zum Fotografieren ruhig mitten auf die Straße stellen. Da kommt keiner, wirklich gar niemand, außer vielleicht mit dem Rad. Und wenn doch ein Auto kommt, sieht und hört man es sehr rechtzeitig.

Auf der Website von Ort, Schloss und Brauerei kann man sich für eine Führung anmelden, auch in englischer Sprache. Wir riefen einen Tag vorher an – und taten auch gut daran, denn als wir so auf der Kreuzung standen, war sonst niemand da, im ganzen Ort nicht, nicht ein Mensch – außer den Damen im Elvi natürlich. Irgendwann schluffte ein Mann heran, um die 70, gelbes T-Shirt, Crocks und weißes Haar. In astreinem British English sagte er, er sei der Guide, wo wir denn anfangen wollten.

Naja, sagte ich, also … ich schaute auf den linken Teich, dann auf den rechten Teich und machte eine ausladende Handbewegung.

Die Teiche seien künstlich, sagte der Guide, sie gehörten die Schloss und zur Brauerei – die Sehenswürdigkeiten, an denen wir zunächst vorbeigefahren sind. Das Schloss, ein Steinbau aus dem 19. Jahrhundert, habe allerdings nur knapp 50 Jahre überdauert, dann kamen 1905 die Russen und Revolution, und es brannte nieder.

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In der Sowjetzeit wurden im Keller Kartoffeln gelagert. Im Obergeschoss war ein Kinosaal, in dem einmal pro Woche ein Bollywood-Streifen gezeigt wurde. Auf den Zinnen wohnen nun zwei Storchenfamilien mit acht Tieren. Sie kommen Ende März und fliegen Mitte August, danach wird es Herbst. Im Keller leben im Winter Fledermäuse.

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Das Gebäude wird renoviert – seit einigen Jahren, wie es ausschaut, und wohl auch noch für einige weitere. Man kann es mieten und eine Hochzeit darin feiern, es gibt eine Bar, einen Saal und ein paar Zimmer zum Schlafen. Geheizt wird mit dem Ofen.

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Es sei ganz gut angenommen, sagte der Guide, und ich fragte ihn, wovon die Leute hier so leben – auf dem Land, eineinhalb Stunden von der Hauptstadt entfernt, zwischen Störchen.

Tja, sagte er, es seien halt alles Rentner. Oder Alkoholiker. Oder beides. Sie lebten von ihrem Garten, von der staatlichen Rente und vom Schnaps. Das sei eine schwierige Sache. Aber das hier jetzt, das Schloss und die Brauerei, das sei eine Hoffnung für die Region: Es kämen Leute hierher, um zu feiern, und gerade seien auch wieder zwei Familien mit Kindern in den Ort gezogen. Das sei ein guter Anfang. Und manchmal kämen auch Touristen. Also wir.

Ich fragte ihn, ob er mal im Ausland gelebt habe. Nein, sagte er, oder: Ja. Er sei Engländer, habe sich in eine Lettin verliebt und lebe nun hier. Man müsse es wollen, sagte er schulterzuckend, es sei ein Lebensentwurf. Aber wenn man sich erstmal dazu entschlossen habe, dann sei es sehr schön.

Wir gingen in die Brauerei, ein kleines Gebäude am Teich: Oben wird das Malz gemahlen, es kommt in großen Säcken aus Heidelberg. Unten wird das Bier gelagert und abgefüllt: zehn Tanks à 1.000 Liter.

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Das Bier wird nur in kleinen Mengen verkauft: im Elvi im Ort und in ausgesuchten Geschäften in Riga. Es werden verschiedene Sorten gebraut, eine schmeckt leicht nach WC-Reiniger Orange, die andere tendiert in Richtung Ale und ist tatsächlich sehr lecker.

Tipp:

  • Bier Odziena 1905, 375 ml-Flasche, vor Ort 1,50 Euro. Benannt nach dem Jahr, in dem der Palast niederbrannte.
  • Wer ein Restaurant sucht, muss 20 Minuten weiter bis nach Ergli fahren: Im Hotel Kore kann man gut essen.

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Die Werkskantine von Kipsala

In Riga, gegenüber der Altstadt und auf der anderen Seite der Daugava, gibt es eine Halbinsel. Sie heißt Kipsala.

Man geht über die große Vanšu-Brücke, die längste Schrägseilbrücke Eurpoas, und ist auf der anderen Seite – mit einem sehr schönen Blick auf die Altstadt und auf den Hafen.

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Am Hafen ankern manchmal Kreuzfahrtschiffe, kleine Schiffe, die vor der Promenade dennoch riesig wirken.

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Es gibt einen Strand, schöne Holzhäuser und ein paar internationale Botschaften – die australische hat ein Känguruh auf dem Dach.

Es war warm, und der Weg vom Appartment bis nach Kipsala dauerte etwa eine Stunde. Irgendwann sagte Vatta: „Ich brauch’n Bier“.

Das wird einfach sein, dachte ich. Wir schmissen Google Maps an, entdeckten ein Café und marschierten vom Ufer weg in die Mitte der Insel. Eine Technische Universität tauchte auf – und die Messe Riga. Oder genauer gesagt: eine Mehrzweckhalle. Wir gingen hinein, und dort war auch das Café: eine Kantine mit Selbstbedienung. Die letzte Ausstellung, sagte die Dame hinter der Theke, die Messe „Hund und Katze“, werde gerade abgebaut, aber wir seien herzlich willkommen. Die gefüllten Paprika waren erstaunlich lecker.

Bier gab es auch, allerdings mit Cranberries – geschmacklich nahe an einem Mix aus Kirschsaft und Malzbier mit einem Schuss Nutella. Vatta schlug sich tapfer.

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Konditerija & Kafejnica

Nicht nur Schnaps und Bier gibt es überall. Auch Backwerk. In Riga reiht sich eine Konditerija an die nächste. Eine Orientierung mit „An der Ecke mit der Konditerija rechts – da ist unsere Wohnung“, bietet sich deshalb nicht an.

„Life is hard. You must sweeten it“, meinte meine russische Freundin als Erklärung für die vielen Bäckereien. Das erscheint mir einleuchtend. Ihr Mann, der immer Hunger hat, war in Lettland jedenfalls ein glücklicher Mann.

Riga_Brot

Eine Spezialität scheint die gemeine Puddingschnecke zu sein: Es gibt sie in zahlreichen Ausführungen – groß und klein, geringelt und gerollt, mit Blaubeeren, Ananas oder Pfirsichen und auch als Puddingschnecke calzone.

Tipp:

  • Brot, lettisch maize, ist allgegenwärtig. Besonders bekannt ist das saldskāba maize, ein dunkles, leicht süßlich schmeckendes Roggenbrot. Meins war es allerdings nicht.

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Jūrmala: Der Strand der reichen Russen

Direkt westlich von Riga, an der Ostseeküste, liegt Jūrmala, ein langgezogener Badeort mit 40 Kilometern Sandstrand. Schon wenn man es sich vorsagt, ist das ziemlich lang. Wenn man dann aber auf diesem Strand steht, ist es wirklich sehr, sehr lang, auch wenn der Strand ab und an mal eine Kurve macht und man gar nicht bis ans Ende der 40 Kilometer gucken kann.

Nacheinander reihen sich die Teilorte Ķemeri, Jaunķemeri, Sloka, Kauguri, Vaivari, Asari, Melluži, Pumpuri, Jaundubulti, Dubulti, Majori, Dzintari, Bulduri, Lielupe und Priedaine aneinander – ich liste die Namen alle auf, weil ich sie so sympathisch finde. Holzvillen stehen neben Holzvillen, durch ein kleines Wäldchen von der See getrennt.

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Jūrmala ist das größte Seebad des Baltikums, und alles hier ist Russisch: die Touristen, die Besitzer der hölzernen Sommerhäuser, auch die Leute in den Restaurants sprechen direkt Russisch, ohne Umweg übers Lettische. Die Stadt scheint wie eine russische Enklave. Der Deutschlandfunk hat ein Stück darüber gemacht.

Jurmala_01

Die Rigaer Bucht ist ruhig, sehr ruhig. Das Wasser liegt still und ist sehr flach: Männer in gemusterten Badehosen stiefeln hinein, fünfzig Meter, hundert Meter, bis ihnen das Wasser bis zur Hüfte reicht. Dann lassen sie sich nach vorne fallen und tauchen prustend wieder auf. Kinder spielen am Strand – es gibt fast keine Wellen. Die Familien, die hierherkommen, sind zahlreich – weil der Strand aber sehr lang ist, ist trotzdem noch sehr viel Platz.

Ein schöner Ort, um Ferien zu machen.

Tipp:

  • Teilort Asari. In der Kapu iela 95 befindet sich neben dem Haus eine Durchfahrt zum Parkplatz am Strand. Spaziergang am Strand bis zum Büdchen nach Kauguri, circa 8 Kilometer hin und zurück.
  • Hauptort ist Majori. Hier gibt es eine hübsche Promenade mit Attraktionen und vielen Restaurants.

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Das Moor von Kemeri

Wenn man von Jūrmala aus weiter in Richtung Westen fährt, kommt man nach Kemeri – und in den Nationalpark von Kemeri. Lagunen, Seen, Sümpfe, Moore, jede Menge Vögel, Ruderboote und Holzstege durchs Schilf: Kemeri ist ein toller Ort.

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Ich habe ein Video gemacht, wie ich durchs Schilf laufe.

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Mitten im Moor gibt es einen hölzernen Aussichtsturm. Man kann hinaufsteigen, um hinabzuschauen. Bis zum Horizont sieht man Wasser und Schilf und Wolken, und ab und an einen Fischreiher. Es ist sehr ruhig und sehr schön.

Dort oben trafen wir eine Frau, sie war Mitte 20, Deutsche, und hatte eine Isomatte ausgerollt.

Es windete, aber sie war warm angezogen. Sie übernachte hier, sagte sie auf Nachfrage. Vor etwa einer Woche sei sie nach Helsinki geflogen und trampe nun durch das Baltikum bis zurück nach Deutschland. Eigentlich habe sie im Süden des Landes Freunde treffen wollen, doch die hätten sich um zwei Tage verspätet, und nun bliebe sie diese zwei Tage lang eben hier, auf dem Aussichtsturm, schaue die Landschaft an und schlafe auf den Planken.

Kemeri_Nationalpark_02

Tipp:

  • Wir waren am Kanieri-See: Die Straße hat keinen Namen, aber Sie können sich das auf Google Streeview anschauen. Man kann sich ein Bötchen leihen, dort rudern und angeln.

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Zentralmarkt

Die großen Supermarktketten in Lettland sind Rimi und Elvi. In Riga gibt es aber noch einen anderen Ort, an dem man einkaufen kann: den Zentralmarkt (Bericht bei Spiegel Online).

Der Rigaer Zentralmarkt befindet sich in fünf Markthallen und hat eine Fläche von 50.000 Quadratmetern. 140.000 Menschen kommen am Tag hierher. Es gibt Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch und Milchprodukte. Es sind viele heimische Waren, die hier verkauft werden, besonders beim Gemüse: Äpfel und Waldbeeren, Gurken, Tomaten und große Mengen Knoblauch.

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Die Waren sind für unsere Verhältnisse preiswert. Die handgeschriebenen Preise auf dem oberen Bild sind Kilopreise: Ein Kilo Tomaten kostet zwischen 1,20 Euro und 2 Euro, ein Kilo Heidelbeeren gibt es für 3 Euro. Und für 10 Euro bekommt man eine sehr ansehnliche Menge Kaviar.

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Tipp:

  • In den Speichergebäuden am Zentralmarkt, am Ufer der Daugava, entsteht ein Künstlerviertel. Dort ist das Ghettomuseum Riga, und es gibt Cafés.
  • Die Markthallen grenzen an die Moskauer Vorstadt. In nur zehn Minuten Fußweg ist man an der Lettischen Akademie der Wissenschaften. Auf der Aussichtsplattform im 15. Stock hat man einen super Blick über Riga. Eintritt: 5 Euro.

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Laima und die schwarze Magie

Schoki! Neben Alkohol und Puddingschnecken die dritte Spezialität des Landes. Hatte ich schon geschrieben, dass mir die kulinarische Ausrichtung Lettlands entgegenkommt?

Die lettische Schokomarke Laima (die englischsprachige Website startet mit „Choose Love“ und meint damit: „Wählen Sie Ihre Schokosorte“ – muss man da noch mehr sagen?) hat in gefühlt jeder dritten Straße Rigas einen Laden, was zwar nur halb so viele Dependancen umfasst, wie es Konditoreien gibt. Aber es ist auskömmlich: Ich lag niemals auf dem Trockenen.

Weiterer Anlaufpunkt für Schokoladenliebhaber in Riga: die Bar Black Magic in der Altstadt. Hier gibt es den berühmten Balsam in Kombination mit Trinkschokolade und in Pralinen. Außerdem ist der Laden urig.

Riga_Black_Magic

Tipp:

  • Ich habe mich sehr ernsthaft um einen ausführlichen Schokoladentest bemüht. Leider ist es mir trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, alle Laima-Sorten zu probieren. Ich kann aber sagen, dass die Popcornschokolade und die Sorte mit dem gesalzenen Karamell sehr gut sind. Außerdem war der Espresso im Laima-Laden der beste der Reise.
  • Bar Black Magic, Kalku iela 10, in der Altstadt von Riga. Falls Sie von den zehn Pralinensorten aus der Speisekarte nehmen: Ich fand Nougat gut.

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Das Burgfräulein von Sigulda

Östlich von Riga liegt Sigulda, eine Burgenstadt. Die Teilorte Sigulda, Turaida und Krimulda hören sich nicht nur an, als besuche man einen Mittelaltermarkt – das Ganze ist wahrscheinlich einer der schönsten Orte Lettlands für mittelalterliche Rollenspieler.

Sigulda_Pils

Es gibt ein Schloss, eine livländische Ordensburg und eine Gondelbahn über das Tal der Gauja – außerdem einen Vergnügungspark für Familien, in dem man alles Mögliche tun kann, zum Beispiel Sommerrodeln oder Riesenrad fahren. Wer mag, kann aus der Gondelbahn springen.  Ich mochte nicht.

Auf der Burg in Sigulda darf man alles anfassen, seinen Kopf in Folterwerkzeuge stecken, Armbrust schießen und auf den Thron klettern. Außerdem gibt es freies Burg-WLAN, was ich sehr ritterlich finde.

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Wenn man das Armbrustschießen um die Notfallkekse im Auto gewinnt, sind die Verlierer allerdings weniger ritterlich.

Tipp:

  • Wer nach Sigulda fährt, sollte einen ganzen Tag für verschiedene Burgen, Schlösser, Gondelbahn und Rodelbahn einplanen. Oder auch zwei Tage, wenn man es langsam angehen lassen möchte, kleine Kinder dabei hat und/oder viel Zeit im Freizeitpark verbringen möchte. Der Ort bietet nämlich viel – wir haben nur einen Bruchteil erkunden können.
  • Unterhalb der Burgruine Krimulda, im Gauja-Nationalpark, befindet sich die größte Höhle des Baltikums: die Gutmannshöhle. Wir waren nicht dort, hört sich aber toll an.

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Die Daugava und das Meer

Nördlich von Riga fließt die Daugava in die Ostsee. Dort soll man angeblich die besten Sonnenuntergänge erleben. Ob es tatsächlich der beste Sonnenuntergang meines Lebens war, weiß ich nicht: Es kommen schließlich noch viele, und ich möchte mich nicht voreilig festlegen. Es war jedenfalls ein sehr schöner. Ich kann das zum Nachmachen empfehlen.

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Tipp:

  • Mangaļsalas Mols, der Pier von Mangaļsala – oder einfach irgendwo am Strand östlich davon.

Falls Sie Lust haben, nach Riga zu reisen: Der Hinflug war auch schon ein Erlebnis – mit dem Bombardier-Propellerflugzeug der Air Baltic ab Düsseldorf.

Ende.

Wie ich einmal in Island war, wo die Leute sehr freundlich sehr wenig sagten

3. 07. 2016  •  30 Kommentare

Es ist schon etliche Jahre her, da war ich mal auf Island.

Jökullsalon

Ich bin einmal drumherum gefahren, in einem Hyundai Accent. Wir hatten damals nicht so viel Geld – also ein bisschen schon, deshalb konnten wir uns die Reise leisten, aber nicht genug, um ein Auto zu mieten, das offroad fuhr.

Wir fuhren also nicht ins Hochland, sondern nur über die Ringstraße, die zu dem Zeitpunkt zu 80 Prozent geteert war – einmal um die Insel und mal ein bisschen nach links, mal ein bisschen nach rechts.

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Wir setzten einige Male hart auf, in einer Baustelle, auf einem Pass und auf Nebenstraßen, aber der Wagen erwies sich als sehr robust. Die Steinschläge machten dem Auto nichts aus, sondern es nur schöner, und als wir mal steckenblieben, ließ er sich leicht anschieben.

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Wir waren also in diesem Wagen unterwegs, meistens 200 bis 300 Kilometer am Tag, beginnend in Reykjavík, und dann im Uhrzeigersinn rundherum. Der Reiseveranstalter spendierte uns einen unteramdicken Island Atlas, einem Straßenatlas, 450 Seiten. Jede Seite widmete sich einem Kilometer Wegstrecke – mit einem Kartenausschnitt und Beschreibungen der touristischen Höhepunkte.

Die meisten Kilometer auf Island sehen ungefähr so aus:

Snaefellsness mit Schafen

Möglicherweise fragen Sie sich nun, in Hinblick auf den Atlas: Was gibt es da bitte zu beschreiben? Eine ganze Seite pro Kilometer!

Viel. Der Isländer schätzt sein Land, und man muss nur genau hinschauen, dann entdeckt man sie auch, die kleinen Kostbarkeiten. Auszüge aus dem Reiseatlas des Islenska Bókautgáfan, des Isländischen Buchverlags, 1996:

Haedarsteinn, großer Stein am südlichen Ende der Passhöhe. (S. 17)

Tjarnheidi, Grasfläche östlich von Fúlakvísl, zwischen Hvítárnes und Kjalhraun. (S. 389)

Island lehrt seine Besucher: Es sind die Details, auf die es im Leben ankommt.

Stóll, sehr schöner Berg, an dem sich das Tal gabelt. (S. 336)

Manchmal hat ein Berg Bewohner. Im Atlas steht dann „der Sage nach“ oder „laut Überlieferung“; überlesen Sie diese Zusätze einfach – dann macht alles Sinn.

Fanntófell (901 m), Hyaloklastitberg. Laut Überlieferung einst Wohnstätte von Trollen. (S. 391)

Búrfell (536 m), Berg und gleichnamiger Bauernhof. Der Gipfelkrater ist mit einem kleinen See gefüllt. Der Sage nach soll dort ein Ungeheuer wohnen. (S. 143)

Álfaborg (dt. Elfenburg), Felshügel, von dem der Fjord Borgarfjördur seinen Namen ableitet. Galt als Wohnort von Elfen. Freizeitgebiet. (S. 365)

Anfangs dachten wir, wenn wir auf einen Straßenabschnitt schauten: Da kommt gleich ein kleines Städtchen. Kam aber nicht. Sondern es kam nur ein Bauernhof. Größere Höfe sind größer eingezeichnet, das sieht auf dem Papier dann aus wie eine Ortschaft.

Es gibt keine Hütte, die nicht Erwähnung findet:

Dagverdareyri. Hof. Seit fast zwei Jahrhunderten von der gleichen Familie bewohnt. Eine Zeitlang stand hier eine Heringfabrik. (S. 337)

Hrappsstadir, Bauernhof. Hier ging zur Sagazeit das bösartige Gespenst Hrappur um. (S. 207)

Krossavík, historischer Hof auf der Ostseite von Vopnafjördur. Hier wohnten Geitir und sein Sohn Porkell, von denen in der Vopnfirdinga Saga berichtet wird. Um 1800 Wohnsitz des Bezirksvorstehers Gudmundur Pétursson. (S. 371)

Kross, Bauernhof und Pfarrhof bis 1920. Hier kam es 1417 zu tödlichen Auseinandersetzungen, die ein längerwährendes Nachspiel hatten. (S. 121)

Welches Nachspiel, das steht dort leider nicht, obwohl die Geschichte an dieser Stelle natürlich erst interessant wird.

Verlassener Hof bei Höfn

An einem Tag – wir sind zur Hälfte um die Insel rum -, steht im Reiseführer, dass es auf dem Weg einen Elchbauernhof gebe. Die Betreiber, heißt es, freuten sich, wenn man vorbeischaue.

Elche, wie wunderbar, denken wir, und biegen nach rechts von der Ringstraße in ein Tal ab. Nach zehn rumpeligen Kilometern überqueren wir einen Wasserlauf und parken vor dem Wohnhaus. Außer uns ist niemand da. Der Wind ist frisch, und ich fühle mich unwohl. Das ist alles sehr privat hier, sehr untouritisch – auch wenn kein Zweifel besteht, dass wir richtig sind. Einen anderen Hof gibt es nicht, nicht im Umkreis von 30 Kilometern.

Die Tür des Wohnhauses öffnet sich, und ein junger Mann tritt heraus. Ich sage auf Englisch: „Hallo“, und mich erklärend: „Im Reiseführer steht, Sie haben Elche und man könnte sie besuchen.“

Der Mann deutet mit dem Daumen über seine Schulter, den Berg hinauf, und nickt. Entgegen dem Text im Reiseführer freut er sich ausgesprochen verhalten über unseren Besuch.

„Die Elche sind da oben?“, frage ich.
Wieder nickt er wortlos. Ich schaue den Berg hinauf, sehe aber nichts. Der Mann ist nicht viel älter als ich. Er steht da und schaut mich an. Ich fühle mich weiterhin unwohl. Wieso sagt er nichts? Von ferne blökt es.
„Schafe haben Sie auch?“, frage ich, die Gelegenheit ergreifend, dem Gespräch etwas Schwung zu geben.
Er nickt und steckt die Hände in die Hosentaschen. Sehr ostwestfälisch steht er nun da, mit derselben ausgelassenen Offenheit. Die Luft ist feucht und tief gesättigt. Blöken.
„Ja, äh“, sagte ich. „Haben Sie denn viele Schafe?“
Bedächtig sagt er: „Five thousand.“
Fünftausend! Halleluja. „Jaaaa …“, sage ich. „Das sind … viele.“
Er blickt über den Hof, vor sich und hinter sich. Der Wind ist frisch. Wir ziehen alle die Schultern hoch. Blöken.
„Und, äääh“, fahre ich fort. Ich möchte Interesse zeigen. „Wie fangen Sie die im Herbst ein? Mit Pferden?“
„No. Motorbike.“ Er reckt das Kinn vor – in Richtung eines Quad, das auf der Wiese parkt, ein paar Meter den Hang hinunter.
„Natürlich“, sage ich. „Motorbike, ist ja klar. Als Tourist, da denkt man … uhmm … wie auch immer.“
Blöken. Ob ich nochmal nach den Elchen fragen soll? Schließlich sind wir deshalb hier, und es ist weit und breit kein Elch zu sehen. Aber vielleicht besser nicht. Vielleicht sollten wir lieber wieder fahren.

Ich rege mich gerade zum Aufbruch, als er, sich dem Wohnhaus zuwendend, sagt: „Come in.“ Wir schauen uns an. Das können wir jetzt schlecht ablehnen – und gehen hinterher. Wir treten durch die Tür, er streift die Schuhe ab, wir streifen die Schuhe ab, und gehen in die Stube. Sie ist warm, meine Wangen röten sich. Mir ist das alles fürchterlich unangenehm. Jetzt stehe ich auch noch hier im Haus.

Auf einer Bank sitzt eine Frau, älter als der junge Mann. „My mother“, sagt er, und wir geben uns die Hand.

Es ist gemütlich hier, Holzbänke, ein großer Tisch, ein paar Vitrinen mit Elchdingen darin: Taschen, Felle, Haarspangen, lederne Messerscheiden. Die Mutter steht auf, geht in einen Nebenraum und kommt mit einem Tablett zurück: Teekanne und Teetassen. Sie schenkt ein. Der Sohn und sie hocken uns gegenüber und sehen uns an.

Jetzt sitzen wir hier, denke ich. Sie lächelt, und ich lächle zurück. Er lächelt auch. Immerhin ist es wohl okay, dass wir hier sitzen. Aber trotzdem. Wenn sie doch nur etwas sagen würden.

Schlürfend trinken wir Tee, er ist heiß, schmeckt komisch, aber okay. Sie schaut mich wieder an und lächelt, dann macht macht sie mit der Hand einen Kreis um ihren Kopf, deutet auf mein Gesicht und sagt etwas.

„Face beautiful“, sagt der Sohn. „And hair.“
Ich sage: „Oh. Danke.“ Und lächle.
Sie lächelt auch. Dann sitzen wir weiter da.

Irgendwann ist die Tasse leer. Ich bin ganz froh, denn so angenehm ist mir das alles immer noch nicht, trotz Lächeln und Kompliment. Wir stehen auf, ich sage: „Danke“. Und nochmal: „Danke. Auch für den Tee.“ Die beiden begleiten uns in die Diele. Wir ziehen unsere Schuhe an und sind wieder draußen.

„Tschüß“, sage ich, und die beiden sagen auch etwas. Die Mutter, sie lächelt jetzt sehr einnehmend – mit dem Mund, mit den Augen und mit dem Herzen. Ich schäme mich, dass ich mich so unwohl fühle, dass ich so doofe Fragen gestellt habe, dass ich ihr nichts abgekauft, nur ihren Tee getrunken habe.

„Bye“, sagen wir und steigen ins Auto. Als wir vom Hof fahren, winken die beiden. Wir winken uns, bis wir uns nicht mehr sehen.

Island, dieses überwältigende Stück Erde. Ich habe seither nichts Beeindruckenderes gesehen als diese Natur –  obwohl ich seither viele Länder besucht und viel anderes Erstaunliches erlebt habe.

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Besuchen Sie dieses Land, wenn Sie können. Fahren Sie drumherum und mitten rein, entdecken Sie Wiesen, Hügel und Kurven, Elfe und Trolle.

Erleben Sie Wasserfälle über Wasserfälle – die Sie schon aus vielen Kilometern Entfernung hören, so mächtig sind sie. Essen Sie Skyr. Erfühlen Sie die warme Erde. Baden Sie unter Regenbögen in heißen Töpfen und schwimmen Sie im Freien, ohne zu frieren. Duschen Sie im Schwefeldunst.

Blicken Sie in Vulkankrater und eisblaue Seen und fahren Sie mit dem Boot aufs Nordmeer. Fahren Sie mit dem Amphibienfahrzeug auf den Jökulsárlón und stehen Sie am Strand neben Brocken klaren Eises, das der Gletscher über tausende von Jahren so dicht gepresst hat, dass es auch bei 20 Grad nicht taut.

Aber vorher, heute Abend, drücken wir Islands Fußballern die Daumen, ja? In meinem damaligen Reiseführer (Quack, Ulrich: Island. Reisehandbuch. Iwanowskis Reisebuchverlag. 4. aktualisierte Auflage 2001), heißt es im Kapitel „Island Sportlich“:

Natürlich kann man von solch einem Land keine fußballerischen Wunderdinge erwarten, doch verzeichnen die Berichterstatter immer wieder aufsehenerregende Erfolge auch auf internationalem Parkett. (S. 190)

!!!!!   Hu   !!!!!

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P.S.: Man kann Island auch mit dem Rad durchqueren – oder darüber lesen, wie jemand es tut. Empfehlung!

Eine Reise in eine Turnhalle nach Lettland

26. 05. 2016  •  12 Kommentare

Die nächste Reise steht an. Es geht nach Riga, wieder zum Basketballtraining mit Dynamo Moskau, ich deutete es an.

Es ist die Fortsetzung der Tallinn-Reise, des Ausflugs in eine Turnhalle nach Estland: eine Woche mit den Russen – meine Moskauer Freundin, ihr Mann, Sohn Eins (13), Sohn Zwei (8) und Sohn Drei (5). Sohn Eins und Zwei sind zum Trainieren in Riga, Basketball, ihre Mannschaften sind dort: Anreise mit dem Teambus, Wohnen in der Jugendherberge, vier Wochen lang Drill und Bootcamp in Lettland, dazu ein paar Testspiele. Wir, also die Eltern und ich, schließen auf und kommen dazu. Die Terminfindung war etwas schwierig im Wust zwischen Projektdeadlines, den Russen, dem Trainingscamp, der Abstimmung mit feriengebundenen KollegInnen und Vatta, der auch mitkommt. Aber nun haben wir’s.

Es war die Idee der Freundin, meinen Vater zu fragen, ob er mich nach Riga begleiten wolle: Das sei doch eine gute Sache, regte sie in Tallinn an, Sohn Eins lerne seit einem Jahr Deutsch, und Vatta spreche doch nur Deutsch, oder? Dann könne Sohn Eins zuhören und anwenden, listen and repeat, gezwungenermaßen, das sei wunderbar. Außerdem sei es immer gut, einen Opa für die Kinder dabei zu haben, ob nun der eigene oder ein geliehener, ein russischer oder ein deutscher: Das Alter nötige den Kindern Respekt ab, der ganze Urlaub werde durch einen Opamenschen friedvoller – was bei drei Jungs dringend geboten sei, um unser aller Seelenfrieden willen. Zur Not müsse Vatta nur eine Augenbraue heben, ganz langsam, und dabei vernehmlich brummen; das sei internationaler Standard, das erfordere nicht einmal Russischkenntnisse, dann sei jegliche Sache geritzt. Ich glaube ihr das: Das klappt selbst bei mir noch ganz gut, bei meinen Russen haben die Älteren dazu noch einen anderen Stellenwert – da wird in beeindruckender Weise strammgestanden, und ein geliehener Opa ist dann nochmal ’ne Schippe drauf.

Ich freue mich also auf einen erneuten deutsch-russischen Urlaub in einem Drittland, inzwischen der vierte gemeinsame – nach Zypern, Kochelsee und Tallinn. Es ist sehr angenehm, sich dem Familien- ebenso wie dem russischen Rhythmus anzugleichen, dieser Mischung aus Kascha und Tee, Aberglauben und zuckersüßen, dreischrittig steigerbaren Verniedlichungsformen: Dima … Dimka … Dimotschka .., alles in zügiger Langsamkeit: Wir kommen voran, doch niemand ist in Eile, und wir tun ausreichend Kinderdinge, schauen Tiere an, suchen Stöcke und werfen Steine ins Wasser, hören Straßenmusikanten zu, freuen uns aneinander und essen Eiscreme. Also alles, was ich sonst auch gerne tue.

Das ist ja auch so eine Sache: der Urlaub als Kinderlose mit einer Familie mit drei Kindern. Das traut einem ja niemand zu, viele Eltern meinen spontan, man sei ungeeignet: die Nerven zu dünn, die Ohren zu empfindlich, der Langmut zu kurz – dabei finde ich das sehr prima. Es geht ja weniger darum, wie alt die Mitreisenden sind, sondern ob sie gute Gefährten sind; es gibt Menschen, Kinder wie Erwachsene, mit denen würde ich niemals verreisen wollen, nicht einen Tag lang, auch wenn ich sie im Alltag sonst gut leiden mag. Andere wiederum sind hervorragende Begleiter für Expeditionen ins Unbekannte, Menschen mit  Neugier und Abenteuergeist, aber ohne Aktionismus, mit einem ausgewogenen Streben gleichermaßen nach Müßiggang wie nach Entdeckungen, ohne Drama, mit Kompromissbereitschaft und Duldsamkeit. Menschen mit diesen Eigenschaften gibt es in allen Altersklassen, mit zwei Jahren ebenso wie mit zweiundachtzig – und ebenso auch nicht. Rücksicht muss man ohnehin aufeinander nehmen; der eine braucht Brei um Drei, der andere möchte Bier um Vier.

Ich reise also nach Riga und freue mich wie Bolle. Das wird toll, ganz sicher.

Irgendwas zwischen Schluss machen und heiraten

25. 04. 2016  •  18 Kommentare

Es gibt Tage, an denen trage ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht. Dann erzählen mir die Menschen Dinge, nach denen ich nicht gefragt habe.

Dieser Tage sitze ich mit meinem „Erzähl mir was“-Gesicht in der Bahn; wir sitzen zu Zweit nebeneinander, die junge Frau, die vielleicht 23, vielleicht 28 Jahre alt ist, und ich. Wir lächeln uns kurz an; ich lächle in solchen Situationen immer, denn lächeln kann man nie genug, besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie fragt, wohin ich fahre, dann erzählt sie, dass sie unterwegs zu ihrem Freund sei. Dabei wisse sie gar nicht, ob er noch ihr Freund sei, vielleicht mache sie bald Schluss, was allerdings schade sei, denn sie habe zuvor viele Jahre auf ihn gewartet, weshalb er vielleicht auch bald ihr Mann werde, also nicht sehr bald, aber in der Zukunft.

Ich wende ein, dass „Schluss machen“ und „Heiraten“ aber doch zwei Pole einer Skala seien; und von „Schluss machen“ bis „Heiraten“, dazwischen sei eine ziemliche Strecke – erfahrungsgemäß. Dazu muss man wissen, dass ich, wenn ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht trage, niemals Fragen stelle, sondern immer nur Dinge feststelle, denn ich möchte nicht aufdringlich sein. Mittlerweile vermute ich, dass genau das die Menschen dazu ermutigt, weiterzuerzählen.

Sie sagt, ja, natürlich, das sei schon ein Unterschied, das sei ihr klar, aber ich müsse wissen, dass ihr erster Freund – nicht dieser, sondern der davor, der habe ihr immer eine runtergehauen. Zwar nicht ins Gesicht, denn dann wäre sie schon nach dem ersten Mal gegangen, weil: ins Gesicht gehe gar nicht, aber in die Rippen habe er geschlagen und am Arm habe er sie gepackt, deshalb habe sie es einige Jahre mit ihm ausgehalten, aber dann, als sie ein paarmal in die Notaufnahme musste, habe sie ihn doch irgendwann angezeigt. Nach ihm habe sie erstmal keinen Freund gehabt, denn sie habe auf ihn gewartet, also auf den jetzigen, vier Jahre lang. Weil: Er war damals noch liiert, aber sie habe immer gewusst, dass das auseinander gehe, nur er habe das nicht sofort erkannt.

Aha, sage ich. Was will man auch anders sagen.

Jetzt sei er frei für sie, sagt sie, aber er finde, er sei auch frei für andere, also allumfassend frei für alles, für eine Frau und für noch eine und für seine Kumpels und seine Familie, weshalb er sich nicht für sie entscheiden könne, noch nicht, sondern seine Zeit hier und dort verbringe, aber nicht mit ihr – nicht immer. Eigentlich nur selten mit ihr, dieses Wochenende zum Beispiel auch nicht. Doch das komme bestimmt bald, das Schicksal habe ihn ihr ja schon in die Hände gespielt, der Rest werde sich ergeben, wenn sie nur lieb genug zu ihm sei.

Ich denke: Wo will man da anfangen?, hole Luft und setze gerade zu einer vorsichtigen Zusammenfassung der Situation an, als sie fortfährt und meint: Das Problem sei auch, dass sie gerade einen neuen Job angefangen habe, als Pflegehelferin, was an sich super sei, aber wenn sie jetzt schwanger werde – sie müsse ihre Familie versorgen, zwar kein Kind, denn das Kind damals, das von dem ersten Freund, das habe sie verloren. Aber ihre Mutter sei angefahren worden und habe sich das Becken gebrochen und das, wo doch ihr Bruder gerade fort gezogen sei; sie könne sich das einfach nicht vorstellen, jetzt eine Familie zu gründen.

Mir schwirrt der Kopf, es wird auch langsam sehr warm im Zug. Wir sitzen in einem ICE, und ein ICE hält nicht an vielen Orten, manchmal nur einmal in der Stunde, weshalb nicht so oft Leute ein- und vor allem  nicht aussteigen. In einem Regionalexpress hätte ich sie jetzt schon irgendwo zwischen Hamm und Bochum-Wattenscheid ins Draußen verabschiedet.

Ich sage etwas wie „Ach herrje, das ist aber vertrackt“, denn mal ehrlich: In all das jetzt und hier tiefer einzusteigen, übersteigt meine Kapazitäten, die meines Gleichmuts und die meines Sendungsbewusstseins. Sie beginnt gerade, mir von ihrer Kindheit zu erzählen, wie sie mit neun Jahren nach Deutschland kam und sich mit niemandem unterhalten konnte, als ihr Telefon ein Geräusch macht. Sie schaut aufs Display; ihre Gesichtszüge werden weich, sie tippt etwas, ich sehe im Augenwinkel Herzen und Emojis, dann schaut sie auf und sagt: „Na endlich. Er liebt mich.“



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