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Archiv der Kategorie »Lektüre«

Besuch einer alten Dame, zurück zu den Wurzeln und ein Revival im Fitness-Studio

24. 10. 2021  •  Keine Kommentare

Der Besuch der alten Dame | Ich beginne den Eintrag mit Flausch. Die Bonushündin war zu Besuch. Eine Woche lang lebte sie bei mir, schlief, fraß und verlor übel riechende Gase.

Einmal packte es sie, und sie jagte für einen kurzen Moment die Gartentaube. Dann schlief sie wieder ein und träumte, bellend wie ein Welpe, von Zeiten, in denen sie wild und gefährlich war.


Neue Podcastfolge | Dass ich mit Eugenia sprach, schrieb ich schon. Nicht aber, dass ich danach köstlich bewirtet wurde.

Teller mit gelber Suppe

Während wir nach der Aufnahme zusammenpackten, holte ihr Mann uns – passend zu unserer Unterhaltung – indonesiches Essen. Ich aß eine köstliche vegetarische Soto Ayam, die so scharf war, dass ich schon nach dem ersten Löffel nach Taschentüchern fragte.


Save the date | Am 25. November – das ist ein Donnerstag – lese ich in der Stiftssbuchhandlung in Nottuln. Sobald ich mehr weiß, wie und wo man sich anmelden oder Karten kaufen kann, gebe ich Bescheid.

Außerdem werde ich Ende Januar (voraussichtlich am 28.) gemeinsam mit dem Dortmunder Tangent Club eine Lesung veranstalten. Vierzig bis fünfzig Leute können vor Ort teilnehmen. Zusätzlich planen wir einen Livestream – alles zugunsten eines wohltätigen Zwecks, der Frauen und/oder Kindern zugute kommt. Vorschläge dazu nehmen wir gerne entgegen. Habt Ihr Ideen?


Zurück zu den Wurzeln | Ich bin ja Mitglied im Ex e.V., dem Alumni-Vereins des Instituts für Journalistik der TU Dortmund. Der Ex feiert jedes Jahr ein kleines Alumnifest – mit einer Podiumsdiskussion und anschließendem Buffet mit Umtrunk.

Dieses Jahr stellte sich die neue (und einzige deutsche) Professorin für Datenjournalismus vor: Christina Elmer (Twitter @ChElm).

Christina Elmer bei ihrem Vortrag

Ich bin aus dem journalistischen Geschäft ja schon eine Weile raus. Trotzdem interessiere ich mich immer noch für die Themen der Branche und werde auch hier und da emotional, besonders wenn es über zukunftsgerichtete Produktentwicklung geht, die gerade in Regionalverlagen, diplomatisch gesagt, innovativer sein könnte.

Den Datenjournalismus finde ich deshalb nicht nur aus journalistischen Gesichtspunkten spannend. Guter Datenjournalismus ist kosten- und personalintensiv, es braucht fachliche Qualität und viel Know-how. Mit der angemessenen Finanzierung von gutem Personal tut sich der Journalismus seit jeher schwer. Dabei würde der Datenjournalismus, beziehungsweise das dahinterliegende empirische und technologische Know-how, das dann im Medienunternehmen vorhanden ist, zahlreiche Möglichkeiten der Refinanzierung von gutem Journalismus offenbaren. Schließlich haben auch Unternehmen Interesse an der Auswertung und Verknüpfung von komplexem Datenmaterial.

(Um redaktionelle Unabhängigkeit zu gewährleisten, ist natürlich Voraussetzung, dass beide Geschäftszweige unabhängig voneinander sind. Nichtsdestotrotz: Potential.)

Das war aber gar nicht Thema von Christina Elmers Vortrag. Vielmehr ging es um Corona-Dashboards und die Zunahme datenjournalistischer Inhalte in der Berichterstattung. Außerdem ging sie auf structured journalism ein, bei dem journalistische Produkte in ihre funktionalen Einzelteile – zum Beispiel Bild, Vorspann, Nachricht, Hintergrund – aufgespalten und modular, unabhängig voneinander eingesetzt werden.

Die anschließende Podiumsdiskussion widmete sich dem Onlinejournalismus. Die Diskutanten waren auch allesamt Alumni der TU Dortmund: Katrin Scheib, die Chefin vom Dienst von Zeit Online, Franziska Fiedler, Leiterin „Digitale Innovation“ beim WDR, Boris Kaapke, der Pressechef der British Telecom Europe, und Janis Brinkmann, Professor für Medienmanagement an der Hochschule Mittweida.

Auch hier ging’s um die Refinanzierung von Onlinejournalismus, aber auch um Qualität. Das ganze Event kann man sich nochmal online anschauen.

Nach dem offiziellen Umtrunk gab’s dann ein Häuschen weiter noch einen Umtrunk. Eine ausgesprochen heitere Runde, das war gut. Ich freue mich schon aufs nächste Jahr.


Broterwerb | Ich habe etwas aufgeschriebeb: „Einfach mal machen!“ – warum diese Management-Forderung nicht funktioniert.


Revival | Diese Woche war ich zum ersten Mal seit …. puh, kann mich gar nicht mehr erinnern … jedenfalls seit mehr als einem Jahr wieder im Fitness-Studio. Bis zum Anfang des Sommers war ja Lockdown. Danach habe ich mich erstmal noch nicht getraut, weil ich noch nicht doppelt geimpft war. Dann war ich geimpft, aber es war Sommer und ich fuhr Fahrrad. Jetzt also kam meine große Stunde, in der ich nach vielen, sehr vielen Monaten wieder das Fitness-Studio betrat.

Ich kam aber gar nicht rein. Das Zutrittssystem hat sich komplett geändert, ich brauchte eine neue Karte. Die neue Karte schließt nun auch die Spinde in der Umkleide. Die ganze Hütte steht voller neuer Geräte, und offenbar ist auch der Studioleiter nun ein anderer (oder er hat sich sehr, sehr verändert). Nichts ist jedenfalls, wie es einmal war.

Ich ließ mich in die neuen, sehr modernen Geräte einweisen. Fantastisch! Ich spüre Muskeln an meinem Körper, die ich schon vergessen hatte. Nach nur zwei Besuchen fühle ich mich unglaublich stark. Bin hochmotiviert.


Gelesen | Vor Gericht – Ein alter Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz von Matthias Wittekindt. Klappentext:

Kriminaldirektor a. D. Manz hat sich behaglich eingerichtet in seinem Ruhestand im Dresdner Umland. Er rudert auf der Elbe, kümmert sich um seine Enkelkinder. Doch dann reißt ihn ein Brief der Staatsanwaltschaft Berlin aus seinem Alltag: Manz soll vor Gericht aussagen. Es geht um einen Mord im Jahr 1990, seinen letzten Fall in Berlin, den er nicht mehr abschließen konnte, weil er nach Dresden versetzt wurde. Jetzt, fast dreißig Jahre später, scheint der Mörder gefunden.

Während Manz alte Akten, Fotos, Protokolle sichtet, geschieht, was er nie wollte: Er versinkt in der Vergangenheit. Auch Vera erscheint vor seinem inneren Auge, die Kollegin, mit der er damals zusammengearbeitet hat und die kurz darauf plötzlich verstarb. Haben sie bei ihren Ermittlungen einen Fehler gemacht? Beim Prozess in Berlin muss Manz feststellen, dass etwas gründlich schiefläuft. Steht ein Unschuldiger vor Gericht?

Die Aufklärung des Falles verschränkt sich untrennbar mit Manz’ Blick in seine Vergangenheit, der Auseinandersetzung mit seinem Berufsleben, seiner Ehe, sich selbst. So steht am Ende auch Manz vor Gericht. Nur ist in diesem Fall er selbst der Richter.

Eine ruhig, fast poetisch erzählte Kriminalgeschichte, in der wenig passiert und doch sehr viel. Eine vergnügliche Lektüre, die so endet, wie die ganze Erzählung sich präsentiert: leise. Aber ich will nichts vorwegnehmen. Hat mir gefallen.

Eine Wanderung durch die Heimat und Neues aus dem Garten

26. 04. 2020  •  10 Kommentare

Abenteuer | In meinem Kiez kenne ich inzwischen jeden Baum und jede Ente mit Vornamen. Es war Zeit, mal woanders durch die Gegend zu gehen. Also fuhr ich in die Heimat. Dort gibt es ausreichend Landschaft, um sich die Beine zu vertreten und dabei etwas Anderes zu sehen als das Übliche.

Rapsfeld in der Sonne

Ich ging die alte Runde, die wir sonntags immer mit der Familie gingen, damals in den 80ern und Anfang der 90er: vom Lahrfeld über Kempers Hof Richtung Barge, von dort zum Hexenteich, über den Kapellenberg und wieder zurück. Das sagt Ihnen jetzt nichts, Sie kennen das alles nicht, das macht aber nichts. Ich nehme Sie mit.

Kempers Hof ist ein Bauernhof zwischen dem Ortsteil, in dem ich aufwuchs, und Barge. Barge ist auch ein Ortsteil, ein besonderer, denn Barge hat einen Segelflugplatz.

Über Kempers Hof geht man drüber: beim Spazierengehen, beim Wandern, beim Joggen. Man geht an der einen Seite rein und an der anderen wieder raus, und wenn grad jemand aus dem Haus oder aus dem Stall kommt, grüßt man nett.

Fachwerkhaus unter Bäumen an Feldern

Als ich hier aufwuchs, fürchtete ich mich vor dem Gang über den Hof, denn dort lebten zwei Hunde, sehr wütende Hunde. Sie liefen frei herum. Sie bissen niemanden, aber sie waren eben sehr unfreundlich, sie bellten und liefen hinter jedem her, der ihr Revier betrat. Erst nach Durchqueren des Hofes, am immergleichen Zaunpfosten, ließen sie von den Besuchern ab und trotteten zurück an ihren Platz, mit stolz geschwellter Brust: Schau her! Ich habe die Eindringlinge vertrieben!

Gestern lag ein Großpudel auf dem Hof. Gelangweilt kaute er auf etwas. Kein Gebell, kein Gerenne. Hofhunde sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

blauer Himmel, grüne Wiesen, Rapsfeld

Hinter den Barger Hügeln liegt der Hexenteich. Um dorthin zu gelangen, läuft man durch einen dichten Wald, so war das jedenfalls damals. Heute ist der Wald licht. Stürme, Trockenheit, Käfer – was immer es war, das die Bäume zerlegt hat: Es war gründlich.

Baumstumpf von einem abgebrochenen Baum, dahinter tote Nadelbäume.

Alles sieht anders aus als in meiner Kindheit. Die Landschaft hat gelitten, hat sich verändert, die Wege sind nicht mehr dort, wo sie waren, vielleicht finde ich sie auch nur nicht. Es geht am Wald vorbei über die Wiese – und dann ist er wieder da, der Weg, markiert vom Sauerländischen Gebirgsverein.

Robuster Waldweg

Mitten im Wald liegt der Hexenteich. Er heißt so, weil dort im 16. und 17. Jahrhundert Frauen hingerichtet wurden. Sie wurden ertränkt oder verbrannt. 1631 überlebte eine Frau mit dem Namen Dorte Hilleke die Folter. Deshalb heißt die Mendener Bücherei „Dorte-Hilleke-Bücherei“.

Mein Großonkel Paul (*1906) ging bis ins hohe Alter mehrmals in der Woche zum Teich. Er spazierte viel, und er haute beim Spazierengehen viel auf die Erde. Er sagte immer, dort könne man gute Dinge aufsammeln, wenn man nur aufmerksam genug sei. Er fand oft Tennisbälle, die er uns Kindern mitbrachte. Außerdem fand er ständig Geld, mal Pfennige, mal eine oder zwei Mark, einmal sogar 20. Einmal rettete einen Menschen, der in den Hexenteich gefallen war, vor dem Ertrinken. Er erhielt dafür ein Verdienstkreuz.

Als ich klein war, liefen wir Schlittschuh auf dem Teich. Oder wir fuhren mit dem Schlitten den angrenzenden Berg hinab, durch dichten Tannenwald. In guten Wintern ging die Fahrt bis aufs zugefrorene Wasser, lang und steil und mit zahlreichen vereisten Stellen. Es gab eine Rampe hinab auf den Teich; wenn man richtig Schwung drauf hatte, hob man kurz ab.

Heute stehen Kunstwerke des Bildhauers Mile Prerad um den Teich. Er ist ein serbisch-bosnisch-deutscher Bildhauer, lebte lange in Menden, mittlerweile auf Rügen. Seine Skulpturen sind aus großen Baumstämmen und zeigen Krieg und Verfolgung.

Wenn man vom Teich aus weitergeht, kommt man in den Kapellenberg. Im Kapellenberg steht die Antoniuskapelle. Der Weg von der Vincenzkirche in der Mendener Altstadt bis zur Kapelle im Wald, der Weg über den Berg und wieder runter in die Stadt ist gesäumt von kleinen Häuschen mit Bildstöcken und Figuren. Sie zeichnen den Leidensweg Jesu nach.

Zu Ostern findet dort die Karfreitagsprozession statt. Die ganze Nacht hindurch ziehen stündlich Prozessionen von Gläubigen über den Berg. Freiwillige melden sich bei der Kirchengemeinde, um das schwere Kreuz zu tragen. Die Träger bleiben anonym; sie sind in Sackleinen gehüllt, eine Perücke verhüllt ihre Gesichter.

In diesem Jahr trugen nur Zwei das Kreuz über‘n Berch: der Pfarrer und der Bürgermeister. Die große Tradition, die Prozession mit Hunderten, nochmal Hunderten und je tiefer die Nacht wird, mit Vereinzelten, fiel aus – wegen Corona. Wer dennoch wollte, ging allein den Weg, zum Tag oder zur Nacht.

Nach zweieinhalb Stunden war ich gestern wieder am Auto – mit dem Gefühl, ein großes Abenteuer erlebt zu haben, nach fünf Tagen nur im Dortmunder Kiez.


Gartenarbeit | Heute war ich im Garten. Die letzten Kürbisse wollten in die Erde. Ich säte Mangold und Lauchzwiebeln ein, setzte ein paar Blumenzwiebeln, macht das neue Beet vor den Wasserbecken schön und topfte ein bisschen was um.

Gartenutensilien auf der Terrasse, im Hintergrund die Wäscheleine und das Gewächshaus

Es ist erstaunlich, wie lange das alles dauert. Ich werkelte den ganze Nachmittag. Immer, wenn ich dachte, alles sei erledigt, sag ich noch etwas, das ich tun könnte. Es gibt immer noch etwas, das ich aufharken oder gießen kann, das noch eingepflanzt oder umgesetzt werden möchte.

Beet

Nun ist alles in der Erde, was dort hin soll. Auch die Kartoffeln sind gesetzt.

Der erste Salat ist schon fast gar, die Radieschen sind gut aufgestellt, und auch die ersten Möhren zeigen sich.

Reihen vor Gemüse vor einem Staketenzaun

Am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag soll es regnen. Das wäre toll.


Gelesen | Die Herzen der Männer von Nickolas Butler. Klappentext:

In den Augen seines Vaters ist Nelson eine Enttäuschung. Wer will schon ein Kind, das weder Freunde noch Selbstbewusstsein besitzt? Je intensiver der verunsicherte Junge sich nach Zuwendung sehnt, desto stärker sondert sich der Vater ab, bis er irgendwann ganz aus dem Leben seines Sohnes verschwindet. Doch in einem Punkt hat er sich getäuscht. Nelson ist nicht allein. Jonathan, sein bester Freund aus dem Pfadfinderlager, ist das genaue Gegenteil von Nelson: bei allen beliebt, pragmatisch und mit einer unverwüstlichen Leichtigkeit ausgestattet. Was aber treibt jemanden wie Jonathan dazu, sich mit einem Außenseiter anzufreunden? Und stand Jonathan wirklich immer so rückhaltlos zu ihm? Das Leben im rauhen Wisconsin verlangt Nelson, Jonathan und dessen Familie Prüfungen ab, die Freundschaft und Loyalität auf eine harte Probe stellen. 

Klett-Cotta

Gerne gelesen. Die Geschichte macht zwei Zeitsprünge: Sie beginnt, als Nelson und Jonathan etwa neun Jahre alt sind. Dann springt sie in einer Zeit, in der beide Ende 40 sind. Im letzten Teil sind sie um die 80.

Nickolas Butler entwickelt die Charaktere gut und nachvollziehbar, über verschiedene Szenen, ohne selbst zu werten. Er erzählt, beschreibt und lässt mir als Leserin ausreichend Leerstellen, um eigene Gedanken zu entwickeln. Das mochte ich.

Denkste!

5. 11. 2019  •  5 Kommentare

Gedankenversunken | Gestern habe ich gedacht.

Ich habe nachgedacht und bedacht, ich habe vorgedacht und vorausgedacht. Ich habe weniger überdacht, mehr durchdacht, mich hineingedacht – Dinge erdacht. In einzelnen Fällen habe ich auch weitergedacht, fortgedacht, quergedacht, um die Ecke gedacht. Es ist erstaunlich, auf wie viele Arten man denken kann, wenn man erst einmal zu denken begonnen hat.

Das Denken kommt in meinem Alltag derzeit zu kurz. Ich stehe morgens auf und meine Gedanken sind noch trübe. Ich fahre zum Kunden. Dort habe ich Gespräche und Termine – oder halte einen Workshop, in dem ich zuvor Erdachtes zum Besten gebe. Manchmal denke ich auch nicht selbst, sondern bringe Leute zum Denken; ich habe mir dann vorher ausgedacht, was Menschen brauchen, um anders zu denken, als sie es sonst tun.

Wenn ich abends heim komme, bin ich müde. Dann denke ich nur, dass ich mal wieder denken müsste. Dass ich mal nachdenken, Gehörtes durchdenken müsste, um es zu ordnen, um Gedanken zusammenzuführen, zwei zu einem, oder um einen Gedanken in mehrere aufzufalten, damit er, ähnlicher einer Seerose, die auf dem Seegrund eine Wurzel hat und ein Feld von Blüten trägt, auf der Oberfläche sichtbar wird.

Deshalb habe ich für diese Woche Tempo rausgenommen. Ich habe nur zwei Auswärtstermine; alles Andere läuft telefonisch – und zwischendurch habe ich Zeit, aus dem Fenster zu schauen und zu denken. Eigentlich bräuchte ich mehr als eine Woche; aber diese eine Woche gibt immerhin Gelegenheit, die wichtigsten Gedanken zu denken; oder zu erkennen, was die wichtigsten Gedanken sein könnten, die ich denken müsste.

Den ersten Denkerfolg hatte ich am Vormittag. Ein Kundenworkshop lastete schwer auf meiner Seele. Seit Wochen fragte ich mich: Wie mache ich das bloß? Wie bringe ich den Kunden zu einer Lösung? Es ist ja mitnichten so, dass ich nur meine Schublade aufzuziehen brauche und dort ist dann die Umsetzung aus dem Standardbaukasten. Vieles ist indivuell: Die Kunden haben unterschiedliche Fragen, unterschiedliche Umstände, ähnliche Probleme, aber andere Zielsetzungen, sie haben eine unterschiedliche Kultur und andere Menschen, unterschiedliches Budget und andere Erwartungen. Erfahrung und Methodik helfen zwar, all das anzugehen. Doch dazu benötigt es Zeit zum Erkennen, zum Nachdenken und zum Ordnen der Gedanken.


Supermarktfetzen | Was ich vergaß zu erzählen: Ich war im Supermarkt. Am Samstag – das war der Tag nach dem Feiertag. Der Supermarkt war ein Inferno. Überall Menschen. Zielstrebige Menschen. Hungrige Menschen. Kaufwütige Menschen. Menschen, die zu allem bereit waren, um an eine Packung fettreduzierenden Streichkäse zu gelangen.

Sie führten Gespräche. Beim Obst. Bei den MoPro*. Im Reissegment. Darunter waren erstaunlich viele Gespräche zum Thema: Wer geht in der Familie wann wie einkaufen?

Zitatfetzen, unabhängig voneinander erlauscht:

„Er nimmt mir heute die Kinder ab. Damit ich in Ruhe einkaufen kann.“

„Schlimm, wie voll es heute ist. Das liegt daran, weil die Mütter jetzt auch alle berufstätig sind. Die müssen dann alles am Wochenende machen.“

„Zum Glück geht mein Mann auch manchmal einkaufen. Nicht so wie bei der Maike. Die ist ja wirklich für alles alleine zuständig. Der ihr Mann packt ja gar nicht mit an.

Ich war danach gleichermaßen überrascht, wütend und konsterniert.

*Molkereiprodukte. Können Sie als Einzelhandelsinsider auf Parties einstreuen.


Mit der gelben Post | Neues von der Namensvetterin, die immer meine E-Mailadresse verwendet: Ihre Telefonrechnung ist in meinem elektronischen Postfach gelandet. Sie ist in Zahlungsverzug. Das verwundert nicht. Denn ich bin es ja, die ihre Rechnungen bekommt (und nicht begleicht).

Sie erinnern sich vielleicht: Sie wohnt inzwischen in Australien. Zunächst dachte ich, sie mache dort nur Urlaub, fahre mit Uber herum und besichtige Sehenswürdigkeiten, für die sie online Karten kauft. Nachdem sie allerdings einen Telefonanschluss bestellte, liegt die Vermutung nahe, dass es ein längerer Aufenthalt wird.

Ich habe ihr die Rechnung ausgedruckt, eine Dortmunder Postkarte dazugelegt, ihr liebevolle Worte geschrieben, ihre zeitgleiche Anmeldung in der Mc-Donald’s-App und beim Fitnesstudio gewürdigt und alles an die Adresse des Telefonanschlusses geschickt. Es ist doch immer schön, Post zu bekommen, gerade fernab der Heimat.


Esstisch | Mein Esstisch sieht grad schön aus.

Weil ich in dieser Woche denkend daheim bin, lohnte es sich, Schnittblumen zu kaufen. Die schaue ich nun mehrmals am Tag versonnen an.


Unbekannter Besuch | Es gibt einen neuen Vogel im Garten. Ich sah ihn, während ich denkend aus dem Fenster blickte. Er ist so groß wie eine Amsel, aber dünner. Gelbe Brust, dunkle Flügel, gelb-melierter Rücken und schwarz-gelber Schwanz (Heja BVB!). Er landete auf dem Rasen, lief schnurstracks zur Wasserstelle, wippte mit dem Schwanz. Ging baden. Wippte weiter. Wetzte den Schnabel. Wippte. Ging wieder baden. Wippte. Und verschwand.

Ich griff sofort nach meinem Vogelbestimmungsbuch und konnte eindeutig feststellen:

Seite im Vogelbestimmungsbuch: Bild des Tieres, daneben Text

Zweifelsfrei eine Gebirgsstelze. Ich bin verzückt.


Gelesen | Für mich soll es Neurosen regnen von Peter Wittkamp.

Peter Wittkamp ist Autor und Gagschreiber der heute show online. Außerdem steckt er hinter der Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsgesellschaft. An sich also ein lustiger Mensch. Seit 20 Jahren hat er eine Zwangsstörung, die ihm einen bunten Strauß von Zwängen liefert: Er muss herumliegendes Obst aufheben. Er muss Radwege reparieren, weil sein Zwang befürchtet, dass sonst Menschen verunglücken. Er kann nicht auf Reifen gucken, weil sein Zwang denkt, es stecken Nägel darin und der Fahrer komme um. Sein Zwang riecht ständig Gas und Peter muss dann die Stadtwerke kontaktieren, damit niemand zu Schaden kommt. Den Waschzwang hat er mittlerweile überwunden (fast), aber Obst kann er auf keinen Fall auf der Straße liegen lassen. Es könnte ja sein, dass jemand darauf ausrutscht. Wie gut, könnte man meinen, dass er manchmal nur schwierig aus dem Haus kommt, weil er die Haustür mehrmals schließen muss, bis er sie auf die richtige Weise geschlossen hat.

Das ist alles ziemlich abstrus – von außen betrachtet. Peter Wittkamp gibt einen Einblick in die Welt der Zwänge, ordnet ein, gibt Hintergrundinfos und erzählt Anekdoten. Zum Beispiel die, als er sogar ein Straßenbauunternehmen beauftragte, um einen Radweg am Berliner Paul-Linke-Ufer zu reparieren – weil sein Zwang ihm keine Ruhe ließ.

Eine wirklich unterhaltsame Lektüre (man soll es kaum meinen), fluffig erzählt. Als Bonustrack gibt es einen Abstecher in die Psychiatrie und zur Frage, was Medikamente bringen. Trotzdem fällt es mir auch nach der letzten Seite noch schwer, wirklich zu verstehen, warum der Zwangskranke die Zwangshandlungen nicht einfach lassen kann. Aber das weiß er wahrscheinlich auch nicht.

Pluspunkt des Buches: Es hat viele Absätze. Ernsthaft! Ich weiß es sehr zu schätzen, wenn ich ein Buch jederzeit zur Seite legen kann, weil es viele gedankliche Pausen macht, an denen ich dann auch eine Pause machen kann. Man sollte es als Qualitätsmerkmal mit aufs Buchcover schreiben.

Disclaimer: Ich erhielt das Buch als Rezensionsexemplar.

Gelesen | Passt zum Thema „Denken“: Why You Should Find Time to Be Alone With Yourself.

Der restliche Parship-Gin und der Mausindex

13. 10. 2019  •  12 Kommentare

Ausflug bis kurz vor Holland | Am Donnerstagabend fuhr ich an den Niederrhein, um den restlichen Parship-Gin zu trinken. Der lag nämlich im dortigen Kühlschrank, bei Katja, abgelegt vor knapp einem Jahr. „Den müssen wir nochmal irgendwann trinken“, sagte sie letztens. Das taten wir.

Landstraße mit einem Baum, links Felder. Trüber Himmel.

Katja Waldhauer macht Deeskalationstrainings, vor allem im sozialen Bereich. Ich empfehle sie wärmstens. Ihre Angebote im Detail.

Ich kraulte Hunde, wir sprachen übers Freiberuflerdasein und über Teamtrainings.

Auf dem Weg, den Sie auf dem Foto sehen, begrüßten mich bei der Ankunft zwei Rehe. Sie standen auf der Straße im Scheinwerferlicht und sahen mich an. Sie berieten sich, ob sie links oder rechts ins Feld sollten, trafen schlussendlich eine Entscheidung und hüpften ins Kraut.


Neues vom Rohr | Die Ursache für den Rohrbruch im Haus ist gefunden. Der Leck-Ortungsdienst musste zweimal ausrücken. Nun ist klar: Er liegt in der Wohnung über mir.

Der Gemeinschaftskeller, mein Keller und meine Garage sind nass. Nicht komplett, aber merklich. Am Montag kommt der Klempner.


Die Katze maust | Im Sommer hatte ich zwei, vielleicht auch drei Mäuse im Garten. Jeden Abend kamen Maus Eins und Maus Zwei hervor. Maus Eins lief um den Kirschbaum. Maus Zwei hatte ihr Revier am Zaun.

Ich hielt Rücksprache mit den Nachbarskatzen Moritz und Leo. Die Beiden sind gute Mitarbeiter; sie fangen öfters Mäuse. Doch in Bezug auf die konkrete Maussituation blieben sie viele Monate lang unter meinen Erwartungen.

Herbstgarten. Die Sonne scheint durch die Blätter des gelb-grünen Kirschbaums. Eine rennende Katze durchquert das Foto.
Leo im Sprint

Wir beriefen ein Teammeeting ein. Ich gab positives Feedback bezüglich ihrer Skills, sagte ihnen aber auch, dass ich bis zum November eine deutliche Leistungssteigerung erwarte, was den Mausindex im Garten betrifft. Gestern begegnete ich Leo, wie er eine Maus über die Wiese trug. Als wir uns sahen, hielt er kurz inne, die Maus baumelte schlaff in seinem Maul, wir nickten uns zu.

Das gleiche Personalentwicklungsgespräch, das ich mit Moritz und Leo geführt habe, habe ich auch mit meinem Apfelbaum geführt. Seine Performance liegt deutlich unter der Zielvereinbarung. Anzahl der Äpfel in 2018: 1. Anzahl der Äpfel in 2019: 0. Dabei war er auf einem guten Weg: Er hat Blüten produziert, und was das Thema „Äste und Blätter“ angeht, zeigt er sich sehr motiviert. Nur an zählbarem Output mangelt es.

Ich habe ihm einen Eimer mit Äpfeln aus einem anderen Garten gezeigt, habe ihm gesagt: „Schau mal, so sehen die Dinger aus“, und habe den Eimer eine zeitlang neben seinem Stamm stehen lassen, als Gedankenanstoß.


Frühstücksplausch | Heute war ich etwas zermatscht, weil ich die halbe Nacht damit zugebracht habe, den Ironman Hawaii zu schauen – und doch auf der Hälfte des Marathons einschlief. So verpasste ich die wirklich guten Szenen, nämlich Haugs Überholmanöver und den Sieg von Anne Haug und Jan Frodeno.

Ich stand heute einigermaßen zeitig auf, denn meine Kollegin, Freundin und Nachbarin Stefanie kam zum Frühstück.

Frühstückstisch aus der Vogelperspektive.

In den vergangenen Wochen war sie für das ZDF bei der Leichtathletik-WM in Doha und hat Fotos und Geschichten mitgebracht. Auf ihrer Website hat sie einen Teil ihrer Eindrücke aufgeschrieben.


Wochenenendbackung | Ich habe nochmal Pflaumenkuchen gebacken. Vermutlich ist es der letzte Pflaumenkuchen des Jahres 2019. Natürlich mit Quark-Öl-Teig. Hier nochmal das Rezept:

  • 500g Magerquark
  • 15 – 16 Esslöffel neutrales Öl, zum Beispiel Rapsöl
  • 20 Esslöffel Milch
  • 2 Päckchen Vanillezucker
  • 2 Päckchen Backpulver
  • 200 Gramm Zucker
  • 800 Gramm Mehl
  • etwas Salz

Das Originalrezept sieht von allem weniger vor. Ich mag den Teig aber gerne dick und bin deshalb großzügig unterwegs. Außerdem lässt er sich in dieser Menge gut auf dem Blech verteilen.

Pflaumenkuchen vom Blech

Wer mag, kann mehr Zucker hineingeben. Ich finde es jedoch besser, wenn der Teig selbst nicht zu süß ist. Das lässt Raum für Zimt und Zucker, begleitende Sahne oder andere Freuden.

Bevor der Teig mit den Pflaumen in den Ofen kommt, nochmal Zucker drüberstreuen. Bei 160 Grad Umluft 30 bis 40 Minuten backen.


Gelesen | Webworker Christian schreibt über die Unselbstständigkeit altgedienten Managements, die in Person eines ehrenamtlich tätigen Rentners in seinem Leben aufschlägt.

An anderer Stelle schreibt er über den McDonald’s an der B1 in Dortmund:

Ein erfolgreicher Abend* endete also mit einem Burger im Auto mit Blick auf die B1. Die Liebste und ich haben da, als wir noch Freunde waren, viel Zeit verbracht und ich spreche diesem Parkplatz eine gewisse Mitverantwortung an der Entplatonisierung dieser Freundschaft zu.

Der spezielle Mäkkes ist wirklich eine Einrichtung, besonders für Menschen aus dem Sauerland. 1990er Jahre, vier Leute im alten Polo, nachts um Drei nach dem Soundgarden, dazu Punk-Musik. Das waren noch Zeiten. Und ja, Entplatonisierung; mittelbar.

Gelesen | Wissenschaftler haben Fledermäuse belauscht und festgestellt, dass sie vor allem miteinander reden, wenn sie genervt sind. Dabei sprechen sie über vier Sachen:

  • Sie streiten sich ums Essen.
  • Sie diskutieren ihren Schlafplatz aus.
  • Die Männer machen den Frauen Avancen, die diese allerdings nicht haben wollen.
  • Sie machen sich gegenseitig an, weil Einer zu nahe neben dem Anderen hängt.

Gelesen | Ich bin mit „The Great Nowitzki“ durch. Ehrlich gesagt bin ich deutlich unterwältigt. Autor Thomas Pletzinger beschreibt jedes Spiel haarklein, er begleitet jede Regeung, jede Begebenheit, ohne dass ich als Leserin etwas Neues erfahre. Er hat keine Distanz zur Figur und zur Persönlichkeit Nowitzki, ordnet nicht ein, findet keine Haltung außer der des Fans. Eine stärkere Auswahl, weniger Szenen, dafür mehr Distanz hätten dem Buch gut getan.

Auch die asynchrone Dramaturgie macht es schwer: Thomas Pletzinger springt zwischen den Jahren und Ereignissen, und wer Dirk Nowitzkis Biographie nicht auswendig gelernt hat und die Chronologie der Ereignisse nicht auf den Unterarm tätowiert hat, verirrt sich in den Spielszenen, Trainingsstunden, An- und Abfahrten.

Die zweite Hälfte habe ich daher nur noch überflogen. Dabei ist mir immerhin dieser Ausschnitt untergekommen, dessen Aussage ich ganz gut finde.

Textausschnitt.
Thomas Pletzinger, „The Great Nowitzki“, S. 411

Gehört | Christin und ihre Mörder. Im Juni 2012 wird Christin Rexin in Berlin-Lübars ermordert (Wikipedia). Fünf Menschen werden für den Mord verurteilt. In acht Podcastfolgen arbeitet der RBB die Tat auf.

Gehört | Isabell Bogdans Laufen, gelesen von Johanna Wokalek. Die Handlung besteht ausschließlich aus der Innensicht der Läuferin. Es geht um Verlust, um den Suizid des Lebenspartners und ums Verlassenwerden, ums Trauern, ums Wieder-ins-Leben-Finden, ums Loslassen und irgendwie auch ums Laufen, aber nur (Wortspiel!) beiläufig. Die Gedanken der Protagonistin fließen dahin. Ich habe gerne zugehört. (Besprechung bei ZEIT Online, Besprechung beim NDR)

Montag, 15. Oktober

15. 10. 2018  •  29 Kommentare

Herbst im Homeoffice. Schön.

Herbstgarten

Im Gewächshaus wachsen immer noch Tomaten. Sie bekommen auch immer noch neue Blüten und Früchte. Warten wir mal ab, wie lange noch.

*

Am Wochenende war ich in Venlo – eigentlich, um Dinge zu tun. Zum Beispiel, um nach einem neuen Esstisch zu gucken. Weil ich aber zu tranig und am Abend zuvor spät im Bett war, am Morgen zu spät aufgestanden bin und alles in allem nur mäßig motiviert war, hatte ich nicht recherchiert, dass die Geschäfte in den Niederlanden samstags um 17 Uhr schließen.

Entsprechend habe ich nicht nach einem Esstisch geguckt, sondern bin Riesenrad gefahren. Das hatte nämlich nach 17 Uhr noch auf. Das ist das Riesenrad von unten:

Riesenrad in Venlo

Vor dem Riesenrad war ein Aushang. Er besagte, dass es sich um das größte Riesenrad der Niederlande handele. Ich möchte das größte Riesenrad der Niederlande auf keinen Fall klein reden, sehe mich als neutrale Berichterstatterin aber in der Pflicht zu erwähnen, dass es nur mittelgroß war.

So sieht es aus, wenn man drin sitzt und runterguckt:

Venlo von oben

Entgegen meinen Erwartungen konnte man nicht über die ganze Niederlande gucken.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich gerne Riesenrad fahre? Wie windig es dort oben ist! Wie toll es ist, runter zu fahren, wieder rauf zu fahren und wieder runter zu fahren. Und jedesmal kann man zu einer anderen Seite gucken.

Die Supermärkte hatten länger auf als die Möbelgeschäfte, und so war ich noch im Albert Heijn und habe Espresso und melkvlokken gekauft.

*

Nochmal zurück zur Esstischfrage: Wissen Sie, wo ich einen hübschen Esstisch kaufen kann? Offline irgendwo im Ruhrgebiet oder online. Am besten mit Stühlen oder einer Bank. Stil: Holz, am besten Eiche, gerne etwas Industrielook. Oder bunt – also, die Stühle. Genaues weiß ich noch nicht. Muss halt einfach hübsch sein.

*

Gelesen, offline: Glücksreaktor, das Buch von Max Wolf.

Max Wolf, Glücksreaktor

Max habe ich im Mai in Berlin getroffen, auf dem Fest meiner Agentur. Er erzählte mir, dass er einen „Coming of age“-Roman geschrieben habe, woraufhin ich nachfragen musste, was ein „Coming of age“-Roman ist: ein Roman übers Aufwachsen.

In dem Fall in Franken, und es geht um den 17-Jährigen Fred, der nicht so werden will wie sein Vater. Sein Vater geht jeden Werktag mit seiner Aktentasche zu Siemens. Seine Mutter ist Hausfrau. Fred zieht in eine eigene Wohnung und kommt mit Techno in Berührung – und mit Ecstasy.

Ich bin eine große „Coming of Age“-Roman-Zweiflerin. Zuletzt habe ich Auerhaus von Bov Bjerg gelesen, ein Buch, das gefühlt alle Leute gefühlt super fanden, nur ich nicht. Ich kann nichts anfangen mit Büchern, in denen Alles-scheiße-Finden, Drogenkonsum und die Alkoholexzesse von Teenagern als etwas gefeiert werden, was wir alle gemacht haben müssen, um erwachsen zu werden. Die Verklärung der Teenagerzeit als Zeit des Exzesses und der Antihaltung holt mich nicht ab. Entsprechend skeptisch bin ich an den Glücksreaktor herangegangen und entsprechend überrascht war ich.

Denn das Buch ist sehr gut. Max Wolf schafft es nämlich, die Welt seines Protagonisten Fred nachvollziehbar zu machen, ohne sich ihm anzubiedern. Stattdessen wird klar, warum Techno in den 90ern solch einen Aufstieg hinlegte und warum Techno und Drogen so gut zusammen funktionierten. Es wird auch klar, wie Drogensucht entsteht, gerade im bürgerlichen Milieu.

Ich hatte das Buch innerhalb weniger Tage durch. Die Geschichte hat einen guten Fluss. Sie balanciert geschickt zwischen der Nähe zum Protagonisten und einer beobachtenden Distanz, hat einen klaren Spannungsbogen und ein kluges Ende.

Mehr: Max im Interview.  Und Max im Video:

Montag, 29. Januar

29. 01. 2018  •  4 Kommentare

Morgen ist Newsletter-Premiere! Wenn Sie noch nicht angemeldet sind: Letzte Chance, von Anfang an dabei zu sein!

*

Etwas über die spektakulären Hintergründe des Hör-Abos geschrieben, das Christian und ich Euch ab sofort jeden Monat anbieten: „Ein Mann. Eine Frau. Ein Gespräch.“

Danke für Euer bisheriges Feedback. Das ist super. Ich kann nämlich nicht einschätzen, ob wir das gut machen und ob das interessant ist. Totale Betriebsblindheit. Deshalb hilft jeder Kommentar.

Drei Leute haben schon unabhängig voneinander geschrieben: „Ihr müsst lockerer werden!“ Werden wir, ganz sicher. Anfangs ist es wirklich sehr, sehr fremd, vor einem Mikro zu sitzen und die eigenen Ansprüche zu erfüllen. Ich wurde ja schon ein-, zwei-, dreimal interviewt; doch bei einem Interview ist das etwas anderes: Da muss man nicht das Gespräch führen und auch nicht das Thema im Blick behalten, da muss man nur antworten.

Ich denke, es wird sich mit der Zeit eingrooven und wir werden in der Situation heimelig werden. Ich bin ja eigentlich ein ganz lockerer Typ, so.

*

Aktuelle Lektüre ist das kleine Buch von Michalis Pantelouris: Liebe zukünftige Lieblingsfrau. Nachdem er die Texte zunächst als Kolumne fürs SZ-Magazin schrieb, liefen ihm die Frauen die Bude ein. Ich versteh’s (auch wenn er sehr viel raucht in dem Buch, aber irgendwas ist ja immer). Gestern Abend beim Einschlaflesen einen schönen Satz darin entdeckt:

Die wichtigsten Beziehungen in deinem Leben hast du nicht wegen dem, was du bekommst, sondern wegen dem, was du wirst, weil du geben musst.

Ob „müssen“ hier das passende Verb ist? Ist es nicht vielmehr „dürfen“? Oder einfach nur: „weil du gibst“? Egal: Recht hat er.

*

Sehr laut gelacht, als ich bei Sven las, dass er laut gelacht habe, als er etwas bei den Buddenbohms las. Aber lesen Sie selbst:

Sehr laut gelacht, als ich den Gartenkalender von Familie Buddenbohm sah. Gartenkalender sind die Pest. Habe ich dieses Jahr auch, so einen Tageskalender mit Klugscheißer Tipps für den Garten und alle Tipps da sind völlig unrealistischer Mist. Jeder Tag generiert Arbeit für eine ganze Woche, es ist ein Traum. Gestern sollte ich Tomaten pflanzen, in einem Gewächshaus, das müsste ich aber erst noch bauen. Davor irgendwelche Stauden schneiden, aber nur, wenn die schon Frost hatten. Wer Scheitern liebt, wird mit einem Tages-Gartenkalender sehr glücklich, denn nix davon kann ich im Alltag umsetzen, dafür bräuchte ich mehr Personal.

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Gesehen: tag7 – Vom Außenseiter zum Sternekoch. Über Serkan Güzelçoban, der in Öhringen bei Heilbronn ein Gourmetrestaurant eröffnet und dort Menschen mit Behinderung beschäftigt. Weil er selbst Außenseiter war und eine Chance bekommen hat.

Jetzt Livestream der Goldenen Blogger und Daumen drücken für die Kaltmamsell, den Kinderdok und das Nuf.

Special Audio Feature: Lesung

5. 08. 2017  •  3 Kommentare

Gestern habe ich auf Einladung des Ladies‘ Circle 63 gelesen: aus meinem Buch und dem Kännchenblog.

Aussicht vom Lesetisch aus ins Café

Das Ganze fand in Dortmund  im schönen Café Oma Rosa statt. Der Erlös ging an Kinderlachen e.V.: Wir haben insgesamt 300 Euro erlöst. Danke an alle, die dabei dazu beigetragen haben!

Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, hier die meine Bloglesetexte als Audio. Das sind Probendateien: Wenn ich übe, nehme ich mich dabei auf.

Senminuten

Spät am Abend in der kleinen Pizzabude im Vorort.

Krieger, grüß‘ mir die Sonne!

Wie ich Yoga machte.

Auf der Suche nach der Hefe

Backhefe – das unverstandenste Produkt im Supermarkt.

Der mit dem Käse spazierte

Eine Begegung am Fluss.

Diesen Text habe ich nicht gelesen. Nach der Lesung kam Initiatorin Melli zu mir kam und sagte: „Warum hast Du den Käse nicht gelesen? Ich hätte so sehr den Käse gehört!“ Hier deshalb nun nachträglich: Käse.

[Rezension] Die Liebe ist ein schlechter Verlierer

25. 02. 2017  •  Keine Kommentare

Es gibt diese Bücher, die man gut runterlesen kann, ohne Tiefgang, die aber immerhin so konstruiert sind, dass sie nicht total oberflächlich und stereotyp werden. Dieses Buch ist so eins.

Katie Marsh: Die Liebe ist ein schlechter Verlierer

Hannah ist Lehrerin und lebt mit Tom zusammen. Der Job in der Schule ödet sie an. Sie möchte gerne nochmal ins Ausland, nach Tansania, und dort Kinder unterrichten. In ihrer Ehe läuft’s auch nicht besonders: Tom ist Workaholic, und auch sonst ist die Luft raus aus der Beziehung. Hannah fasst den Entschluss, Tom zu verlassen und nochmal neu anzufangen. Kurz, bevor sie geht, wird er krank: Schlaganfall. Die beiden müssen ihre Beziehung neu ordnen.

Die Geschichte birgt keine wirklichen Überraschungen, aber sie ist sauber runtererzählt, und auch die Protagonisten sind so konzipiert, dass sie nicht allzu flach sind. Es gibt zwei Zeitebenen – heute und den Anfang ihrer Beziehung -, das macht die Sache ganz fluffig.

Fazit: geeignet als Strand- oder Zuglektüre und bei schlimmem Männerschnupfen.

Das Buch wurde mir zur Rezension zur Verfügung gestellt. Ich rezensiere nur Bücher, die ich mir auch kaufen würde. 

Die besten Bücher 2016

7. 01. 2017  •  9 Kommentare

Zuletzt habe ich selten über Bücher gebloggt. Jetzt geballt die Empfehlungen aus den vergangenen zölf Monaten:

Diane Brasseur: Der Preis der Treue (Hörbuch)
übersetzt von Bettina Bach, gelesen von Ulrich Noethen
Er ist gut situierter Anwalt und verliebt in Alix, die deutlich jünger ist als er. Er liebt aber auch seine Ehefrau. Eines Morgens zieht er sich, dessen Namen wir im Buch nicht erfahren, in sein Arbeitszimmer zurück, um eine Entscheidung zu treffen – und lässt uns im inneren Monolog an seiner Beziehung zu Alix und zu seiner Frau teilhaben. Ich glaube: Dies ist ein Buch, das man entweder mag oder total doof findet. Ich fand’s gut. Mal habe ich Sympathien für den Ich-Erzähler empfunden, mal habe ich gedacht: So ein Arsch. Diese Ambivalenz gefällt mir.

Lisa Genova: Still Alice
übersetzt von Veronika Dünninger
Alice Howland ist Harvard-Professorin und hat frühzeitig einsetzendes Alzheimer. Zunächst fallen ihr Wörter nicht mehr ein, dann verlegt sie Dinge, dann weiß sie auf ihrer üblichen Joggingrunde plötzlich nicht mehr, wo sie ist. Autorin und Neurologin Lisa Genova beschreibt sehr bewegend den Krankheitsverlauf von Alice, ihre Gefühle, ihre Hilflosigkeit, aber auch das, was bleibt, wenn der Geist nachlässt. Ein beeindruckendes Buch. Der Film mit Julianne Moore, Alec Baldwin und Kristen Stewart ist ebenfalls gut. Das Buch hat aber mehr Tiefe.

Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind & Alle sieben Wellen (Hörbücher)
gelesen von Andrea Sawatzki und Christian Berkel
Eigentlich ein alter Hut, aber in 2016 wieder als Hörbuch gehört. Sofort hat es mich wieder gepackt – unglaublich. Emmi Rothner schreibt versehentlich eine E-Mail an Leo Leike, die beiden beginnen einen E-Mail-Dialog, der erst kratzbürstig, dann liebevoll, dann verliebt wird. Na gut: Emmi bleibt immer kratzbürstig, weshalb ich oft „Oaaar!“ und Boah, neee!“ rufe, wenn ich das Hörbuch höre. Trotzdem: die Bücher mit und für Liebe.

Dörte Hansen: Altes Land
Gemein mit ihrer Mutter flieht Vera ins Alte Land nahe Hamburg. Dort kommt sie auf dem Bauernhof von Ida Echkoff unter. Sie erfährt Ablehnung, es gelten andere Regeln als daheim – es wird ein hartes Leben. Fünfzig Jahre später kommt Veras Nichte mit ihrem Sohn auf den Hof. Das Buch wechselt zwischen heute und damals. Ich mag den sachlichen Erzählstil von Dörte Hansen, ihren Blick für die Figuren, die Entwicklung der Geschichte, ohne sich anzubiedern.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
Die Tagebucheinträge des Schriftstellers Wolfgang Herrndorfs („Tschick“), nachdem bei ihm ein Glioblastom, ein Hirntumor, diagnistiziert wurde. Herrndorf schreibt mal bruchstückhaft, mal ausführlicher. Mal hatte ich den Eindruck, er schreibt nur für sich. Mal, dass er sich bewusst an seine posthumen LeserInnen wendet. Er analysiert seine Krankheit, seziert Überlebensraten, begegnet dem Tumor einerseits kühl, andererseits verzweifelt und damit sehr menschlich. Daneben: seine Arbeit, sein Alltag – die Besessenheiten, Dinge zu Ende zu bringen. Eine Konfrontation mit dem Sterben und noch mehr mit dem Leben.

Hjorth & Rosenfeldt: Die Sebstian-Bergman-Krimis
Inzwischen gibt es fünf Bände. In 2016 gelesen: „Das Mädchen, das verstummte“  (Band 4) und „Die Menschen, die es nicht verdienen“ (Band 5). Hauptfigur ist Kriminalpsychologe Sebastian Bergman, ein unnachahmlicher Egoist, für den ich aber inzwischen ein Sympathien hege. Naja, nur ein paar. Aber mehr als in Band 1. In der Kriminalhandlung geht es immer um irgendeine Art von Serienmörder, das ist nicht weiter erwähnenswert. Doch der Wechsel zwischen Krimi und den persönlichen Geschichten der Ermittler kreiert einen schönen Spannungsbogen. Gute Unterhaltungslektüre.

Daniel Speck: Bella Germania
Julia ist Modedesignerin und schafft nach längerer Durststrecke endlich den Durchbruch. Gleichzeitig tritt ein alter Mann in ihr Leben, Vincent. Er berhauptet, ihr Großvater zu sein. Sie geht der Sache auf den Grund und folgt der Geschichte ihrer Familie – und der Geschichte Vincents. Er reiste 1954 als Vertreter von BMW nach Italien. Dort lernt er Giulietta kennen. Eine deutsch-italienische Liebe beginnt. Doch schon früh ist das Glück getrübt. Die Geschichte ist locker runtererzählt, kurzweilig, hat auch etwas Tiefgang. Gute Unterhaltung.

Jan Weiler: Kühn hat zu tun (Hörbuch)
gelesen vom Autor
Ein Krimi mit einem Kommissar, der ein normales Leben hat: Martin Kühn wohnt im Reihenhaus in der Vorstadt, gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Er ist nicht desillusioniert, hat sich allerdings mit einem leichten Seufzen in seinem Leben eingerichtet: mit dem Gehalt, das chronisch zu nierdig ist, und der Tochter, die trotzdem gerne ein Pferd hätte. Dann wird in seiner Nachbarschaft ein toter Mann gefunden. Kühn nimmt die Ermittlungen auf: ohne Extravaganzen, beinahe hausbacken und deshalb so wohltuend. Ich mochte den Roman in seiner Abbildung der Normalität, und die Krimihandlung ist auch solide. Gerne mehr Krimis Martin Kühn, Jan Weiler.

Über Wibke Bruhns‘ Buch über ihren Vater habe ich ausführlich geschrieben. Auch dies eine Empfehlung.

Zu guter Letzt:

Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft: Bookzines
Correctiv ist stiftungs- und spendenfinanzierter Journalismus: das erste gemeinnützige Recherchezentrum Deutschlands. Correctiv beschäftigt investigative Journalisten, Datenjournalisten und Programmierer und bereits zahlreiche Preise gewonnen, allein 2015 den Grimme Online Award, den Lead Award, den Deutschen Reporterpreis, den Ernst-Schneider-Preis, den Axel-Springer-Preis – und damit sind noch nicht alle Preise genannt. In ihrem Shop verkaufen die Correctiv-JournalistInnen unter anderem Bookzines mit ihren Recherchen. Als Fördermitglied bekomme ich die Bookzines kostenlos zugesendet. Das ist eine tolle Sache. Im aktuellen Buch „Ziele“ habe ich zum Beispiel die Undercover-Recherche im Pflegeheim und die Geschichte über geduldete und Drogen dealende, afrikanische Einwanderer mit viel Interesse gelesen.

Meines Vaters Land

21. 09. 2016  •  16 Kommentare

Im Frühjahr habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Es heißt „Meines Vaters Land“ und erzählt das Leben Hans Georg Klamroths.

Klamroth war am Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und wurde dafür in Plötzensee hingerichtet. Seine Tochter Wibke Bruhns hat seine Biographie aufwändig rekonstruiert.

Ich möchte Ihnen dieses Buch ans Herz legen.

Buchcover: Meines Vaters Land

Zunächst einmal, weil es sich sehr gut runterlesen lässt. Das trifft nicht auf viele Sachbücher zu, auf Biographien schon gar nicht. Das liegt daran, weil Biographien meist von Menschen handeln, die irgendwie berühmt sind, deren Leben aber außer der Sache, deretwegen sie bekannt wurden, wenig hergibt, schon gar nichts Widersprüchliches. Widersprüche machen einen Menschen aber interessant. Man sollte deshalb viel mehr Biographien von unbekannten, aber widersprüchlichen Menschen veröffentlichen, das wäre besser. Doch das ist ein anderes Thema.

Klamroth also. Stauffenberg, den kennt man, aber Klamroth eher nicht. Bis zum Ende des Buches bleibt auch offen, wie genau er am Attentat beteiligt war. Es ist aber auch nicht so wichtig.

Denn was ich am beeindruckendsten an dem Buch fand, waren die Gegensätzlichkeiten in Klamroths Charakter – und die Beschreibung der deutschen Gesellschaft zwischen 1918 und 1939, also zwischen den Weltkriegen. Hier leistet Wibke Bruhns etwas ganz Großes, indem sie am Beispiel ihres Vaters beschreibt, wie man gleichzeitig antisemitisch und freundlich gegenüber Ausländern sein kann, wie man die Nationalsozialisten ablehnt und sich doch stolz zur SS meldet. Da kann man viel übers Heute lernen.

Sie waren keine Antisemiten, jedenfalls nicht mehr als üblich und dem gesellschaftlichen Anstand angemessen. Juden waren nicht ihr Thema. Noch nicht. National waren sie in der Tat. Das schloß den Wunsch nach Verständigung mit anderen Nationen nicht aus, ihre Klassenzugehörigkeit trugen sie über Grenzen. Sie waren nett, rechtschaffen, in Maßen liberal und stolz nicht auf das „Blut“, sondern auf die Leistung der Vorfahren, die ihnen Verpflichtung bedeutete. (S. 218)

Hans Georg Klamroth – Bruhns kürzt ihn mit „HG“ ab – hat im ersten Weltkrieg gedient, hat dort traumatische Erfahrungen gemacht. Empfindet aber auch das tiefe Gefühl einer Niederlage, von Erniedrigung – wie viele Menschen in der deutschen Gesellschaft nach 1918.

HG ist weltoffen – seine Frau hat eine dänische Mutter und dänische Verwandtschaft -, er hat nichts gegen Juden – einige seiner wichtigsten Mitarbeiter sind Juden -, doch er blickt mit Stolz auf seine Vorfahren und das, was sie aufgebaut haben.

Er ist Unternehmer. Seine Familie hat immer in Richtung Adel gestrebt, so war das als Großbürger um die Jahrhundertwende. Er ist Jemand – und er lebt den Klassenunterschied:

Welten liegen zwischen den Deutschnationalen, den Großlandwirten, dem Reichsverband der Deutschen Industrie, die der Restauration das Wort reden, und dem Pöbel der Nazis. Mit denen setzt man sich nicht an einen Tisch. (S. 236)

Sich abgrenzen, das ist HG wichtig. Vor allem nach unten. Und unten: Da sind die Nazis. Mit denen möchte er nichts zu tun haben. Aber er muss auch ein Unternehmen führen, muss Gewinne machen, sich gut stellen. Er möchte wahren, was er und seine Vorfahren aufgebaut haben.

Die Atmosphäre im Land empfindet HG als „zunehmend schwül“. Das ist die verheerende wirtschaftliche Situation, die Konkurse häufen sich, Theater schließen aus Geldmangel. […] Ich sehe HG ratlos und auf der Suche nach Orientierung. (S. 239)

Die alte Ordnung bricht zusehends auseinander. Es gibt keinen Adel mehr, zu dem er aufschauen kann; keinen Kaiser, der alles regelt, der die Welt im Griff hat.  Die Alternative: Parteien. Doch sind sie eine Alternative?

Ich spüre die Vermeidungsstrategie hinsichtlich Hitlers Mannen. Was soll er auch machen, wenn ihm der Weg zu Sozialdemokraten oder – Gott behüte – Kommunisten versperrt ist? Katholisch ist er nicht, als fällt das „Zentrum“ aus, mit Bayern hat er auch nichts zu tun, das verschließt ihm die „Bayerische Volkspartei“. (S. 241)

Das ist mit dem Heute nicht vergleichbar. Es gibt keine vor Kurzem erlittene, verheerende Kriegsniederlage – die letzte ist lange her, und es besteht kein Zweifel, das es eine gute war. Aber da ist dieser Verlust an Orientierung: Niemand, der aus einer natürlichen Ordnung heraus für die Geschicke des Volkes verantwortlich ist. Niemand, der eindeutig sagt, wo es langgeht. Es gibt keine Identifikationsfigur, nichts, wo man hinstrebt. Alles ist plötzlich verhandelbar.

Wenn Parteien sich zu Wort melden, dann sind es nicht solche, von denen man sich etwas vorschreiben lassen möchte. Es sind solche, die fern vom eigenen Leben sind.

Und man muss ja auch ans eigene Wohlergehen denken!

Aber wenn schon dabei sein, dann besser frühzeitig, wird HG sich gedacht haben. Wie war das noch, als er seiner Einberufung zuvorkommen musste, damit er Junker werden konnte und nicht bei den Pionieren ohne Prestige landete? […] Frühzeitig also, sonst sind die Führungsposten besetzt. Und HG steht nach seinem Selbstverständnis eben vor einer Kompanie, nicht in der dritten oder siebten Reihe unter Leuten, die alle gleich aussehen. Fürs Geschäft ist es auch nicht verkehrt. (S. 249)

Klamroth schließt sich also den Nazis an, was soll es auch. Letztendlich bringt es nur Vorteile, und man muss ja nicht jede Haltung teilen.

Dabei gäbe es, wenn man genau hinguckte, tief Beunruhigendes zu entdecken. Da dürfen Juden, deutsche Staatsbürger, nicht mehr wählen […]. Juden wird die Lizenz als Dolmetscher, Wirtschaftsprüfer, Amtstierarzt und Schornsteinfeger entzogen […]. Juden können nicht mehr promovieren, Studenten ist es untersagt, bei jüdischen Repetitoren zu lernen. […] Doch wer guckt schon hin? Wer in einer Bevölkerung von 70 Millionen kennt denn einen jüdischen Repetitor oder einen jüdischen Schornsteinfeger bei bloß einer halben Million Juden in Deutschland, von denen 125.000 schon weg sind? Die Deutschen sind froh über die Nürnberger Gesetze von 1935, weil seither der Vandalismus der immer wieder aufflackernden Pogrome aufgehört hat und das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen irgendwie ordentlich geregelt scheint. (S. 278)

Vieles ist heute, in 2016, anders als in den 1920er und 1930er Jahren. Unsere Großeltern und Urgroßeltern wurden in eine andere Gesellschaft hineingeboren, haben andere Erlebnisse und andere Werte gehabt.

Doch manches ist gleich: Plötzlich öffnet sich die Welt, öffnen sich physische wie soziale Grenzen. Die Folge: Alles wird komplexer, jede Alltäglichkeit. Entscheidungen werden diskutiert. Lösungen sind kompliziert. Zwischen Schwarz und Weiß ist viel Grau – und das Grau, für das ich mich entscheide, kann ein anderes Grau als das meines Freundes sein; und doch ist es für den jeweiligen Menschen das richtige Grau. Das muss man differenzieren, und das muss man aushalten.

Vielen Menschen ging es damals nicht gut – und es ist nicht mehr gottgegeben: Armut ist nicht mehr von Kaisers Gnaden, Armut ist plötzlich selbstverschuldet. Es könnte uns besser gehen, wären wir selbst besser – besser in unserem Tun, besser im Sein. Auf der einen Seite also: die Verantwortung; die wirkliche oder die zugeschobene, das tut nichts zur Sache. Auf der anderen Seite: die Machtlosigkeit; die wirkliche oder die empfundene.

Denn die Lebensumstände seinerzeit sind tatsächlich schwierig: Inflation statt Wohlstand, Verlust statt Gewinn. Damals das Gleiche wie heute: Wer nicht vorne mit dabei ist, hat es schwer. Das ständige Gefühl, abgehängt zu werden. Da versucht jeder das zu kriegen, was er kann. Auch, wenn es zu Lasten des Nachbarn geht.

Dazu der verletzte Stolz. Früher, da war man wer. „Ich bin Deutscher“, das war ein Machtwort. „Ich bin bei Hoesch“, das war wie ein Orden. Doch jetzt? Ist es schwieriger mit dem Prestige. Hat man nichts, was man vorzeigen kann. Oder man hat weniger als andere – das ist fast noch schlimmer. Jetzt schwingt Scham mit, wenn man von sich erzählt. Die Gewinner, das sind die anderen.

Wie nur holt man sich am besten Selbstbewusstein? Indem man sich mit denen vergleicht, denen es noch schlechter geht. Oder die außen vor stehen, die nicht dazugehören. Gibt es niemanden, der draußen steht, grenzt man jemanden aus. Dann hat man sie: die Vergleichsgruppe, die man dringend braucht, gegenüber der man der Bessere sein kann, derjenige, der Recht hat.

Das bringt auch einen schönen Nebeneffekt: dieses kuschelige Gemeinschaftsgefühl, das bislang fehlte – beim Kampf um die knappen Ressourcen; beim anstrengenden Unterscheiden der Grautöne. Endlich mal wieder etwas Weißes und etwas Schwarzes. Endlich ein gemeinsames Ziel.

Am Ende, ich schrieb es weiter oben, wird der stolze Deutsche Klamroth von noch stolzeren Deutschen hingerichtet. Weil die Zweifel, die in ihm waren, neu erwachten.

Mögen unsere Zweifel niemals schweigen.



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