Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »Lebenslage«

Irgendwas zwischen Schluss machen und heiraten

25. 04. 2016  •  18 Kommentare

Es gibt Tage, an denen trage ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht. Dann erzählen mir die Menschen Dinge, nach denen ich nicht gefragt habe.

Dieser Tage sitze ich mit meinem „Erzähl mir was“-Gesicht in der Bahn; wir sitzen zu Zweit nebeneinander, die junge Frau, die vielleicht 23, vielleicht 28 Jahre alt ist, und ich. Wir lächeln uns kurz an; ich lächle in solchen Situationen immer, denn lächeln kann man nie genug, besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie fragt, wohin ich fahre, dann erzählt sie, dass sie unterwegs zu ihrem Freund sei. Dabei wisse sie gar nicht, ob er noch ihr Freund sei, vielleicht mache sie bald Schluss, was allerdings schade sei, denn sie habe zuvor viele Jahre auf ihn gewartet, weshalb er vielleicht auch bald ihr Mann werde, also nicht sehr bald, aber in der Zukunft.

Ich wende ein, dass „Schluss machen“ und „Heiraten“ aber doch zwei Pole einer Skala seien; und von „Schluss machen“ bis „Heiraten“, dazwischen sei eine ziemliche Strecke – erfahrungsgemäß. Dazu muss man wissen, dass ich, wenn ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht trage, niemals Fragen stelle, sondern immer nur Dinge feststelle, denn ich möchte nicht aufdringlich sein. Mittlerweile vermute ich, dass genau das die Menschen dazu ermutigt, weiterzuerzählen.

Sie sagt, ja, natürlich, das sei schon ein Unterschied, das sei ihr klar, aber ich müsse wissen, dass ihr erster Freund – nicht dieser, sondern der davor, der habe ihr immer eine runtergehauen. Zwar nicht ins Gesicht, denn dann wäre sie schon nach dem ersten Mal gegangen, weil: ins Gesicht gehe gar nicht, aber in die Rippen habe er geschlagen und am Arm habe er sie gepackt, deshalb habe sie es einige Jahre mit ihm ausgehalten, aber dann, als sie ein paarmal in die Notaufnahme musste, habe sie ihn doch irgendwann angezeigt. Nach ihm habe sie erstmal keinen Freund gehabt, denn sie habe auf ihn gewartet, also auf den jetzigen, vier Jahre lang. Weil: Er war damals noch liiert, aber sie habe immer gewusst, dass das auseinander gehe, nur er habe das nicht sofort erkannt.

Aha, sage ich. Was will man auch anders sagen.

Jetzt sei er frei für sie, sagt sie, aber er finde, er sei auch frei für andere, also allumfassend frei für alles, für eine Frau und für noch eine und für seine Kumpels und seine Familie, weshalb er sich nicht für sie entscheiden könne, noch nicht, sondern seine Zeit hier und dort verbringe, aber nicht mit ihr – nicht immer. Eigentlich nur selten mit ihr, dieses Wochenende zum Beispiel auch nicht. Doch das komme bestimmt bald, das Schicksal habe ihn ihr ja schon in die Hände gespielt, der Rest werde sich ergeben, wenn sie nur lieb genug zu ihm sei.

Ich denke: Wo will man da anfangen?, hole Luft und setze gerade zu einer vorsichtigen Zusammenfassung der Situation an, als sie fortfährt und meint: Das Problem sei auch, dass sie gerade einen neuen Job angefangen habe, als Pflegehelferin, was an sich super sei, aber wenn sie jetzt schwanger werde – sie müsse ihre Familie versorgen, zwar kein Kind, denn das Kind damals, das von dem ersten Freund, das habe sie verloren. Aber ihre Mutter sei angefahren worden und habe sich das Becken gebrochen und das, wo doch ihr Bruder gerade fort gezogen sei; sie könne sich das einfach nicht vorstellen, jetzt eine Familie zu gründen.

Mir schwirrt der Kopf, es wird auch langsam sehr warm im Zug. Wir sitzen in einem ICE, und ein ICE hält nicht an vielen Orten, manchmal nur einmal in der Stunde, weshalb nicht so oft Leute ein- und vor allem  nicht aussteigen. In einem Regionalexpress hätte ich sie jetzt schon irgendwo zwischen Hamm und Bochum-Wattenscheid ins Draußen verabschiedet.

Ich sage etwas wie „Ach herrje, das ist aber vertrackt“, denn mal ehrlich: In all das jetzt und hier tiefer einzusteigen, übersteigt meine Kapazitäten, die meines Gleichmuts und die meines Sendungsbewusstseins. Sie beginnt gerade, mir von ihrer Kindheit zu erzählen, wie sie mit neun Jahren nach Deutschland kam und sich mit niemandem unterhalten konnte, als ihr Telefon ein Geräusch macht. Sie schaut aufs Display; ihre Gesichtszüge werden weich, sie tippt etwas, ich sehe im Augenwinkel Herzen und Emojis, dann schaut sie auf und sagt: „Na endlich. Er liebt mich.“

Die Tage, sie nehmen so ihren Lauf

19. 04. 2016  •  15 Kommentare

Die Tage, sie nehmen so ihren Lauf, und ich finde es sehr schön, weder über- noch unterfordert zu sein. Dieser wohlige Zustand des nicht Vor- und nicht Zurücklehnens, sondern des Aufrechtsitzens, mit freudiger An-, aber ohne Verspannung, den hatte ich in den vergangenen Jahren nicht so oft. Ich genieße ihn.

Die Gartenarbeit hat begonnen, im positivem Sinne: nichts abreißen, nur aufbauen, anpflanzen und hübsch machen. Das trägt zur Stimmung bei – zusehen, wie etwas wächst, und fördernd eingreifen, die meiste Zeit aber einfach: sich freuen und ein bisschen vor sich hinwurschteln.

Die Kalendergirls sind aufgestiegen, ich also auch: von der untersten in die zweitunterste Liga – es war quasi unvermeidlich. Verstärkung für die kommende Saison steht auch schon vor der Turnhallentür. Die Sportskameradinnen haben seinerzeit Bundes- und Verbandsliga gespielt und wollen nun in der Kreisliga angreifen, zu einer Bewegungstherapie mit Kompetenzhintergrund und wegen des ganzen Flauschs, den die Mannschaft verbreitet. Sie ahnen ja nicht, wie heimelig wir es in unserer kleinen Thekentruppe haben; ein Snoozelraum für Handballrentnerinnen, plüschig und wohlig.

In der kommenden Saison bekommen wir einen neuen Trainer. Ich bin ein bisschen verunsichert, ob er die Intention des Teams richtig deuten wird, denn wir wollen ja nichts gewinnen – also: eigentlich. Ein erneuter Aufstieg wäre natürlich schön, aber nur, wenn es nicht zu anstrengend wird. Da muss er eine Balance finden, das ist nur ein My breiter Streifen zwischen Partytruppe und aufflackerndem Ehrgeiz, auf dem wir da unterwegs sind.

Was an der ganzen Handballsache erfreulich ist: Ich habe die Saison gesund überstanden, keine Wehwehchen, im Gegenteil, alles geht besser denn je. Auch dem Rücken geht’s prima, er kann das noch alles – sich in die Abwehr schmeißen und herumgerissen werden, werfen, fallen und sich schubsen lassen. Das war eine fette Kopfsache, Schmerzgedächtnis und Schmerzerwartung, und auch die Bänder in den Sprunggelenken halten.

Frau Sylz kommentierte mein erneutes Handball-Engagement seinerzeit übrigens sehr treffend:

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Was die ruhigere Freizeit angeht, die auf dem Sofa, habe ich meine Liebe zu Grey’s Anatomy wiederentdeckt, diese wunderbare Serie, in der es saftige Operationen mit viel Blut gibt, Beziehungsgedöns und Liebe und Menschen in allen Größen, Formen, Farben und Geschlechtern, die ohne viel Stereotypzeugs miteinander reden. Seit der ersten Staffel sind sie alle ein bisschen älter geworden, innerlich wie äußerlich, genauso wie ich. Das ist wie Lindenstraße im Krankenhaus, Schwarzwaldklinik auf Amerikanisch und ohne Käti. Allerdings ist der schönste Mann der Serie kürzlich verstorben, der Neurochirurg mit Dackelblick und Dreitagebart. Das war ein herber Schlag; ich bin noch nicht ganz drüber weg.

Was ich insgesamt also sagen will: Die Tage nehmen ihren Lauf, und bald ist wieder Sommer, dann Bootcamp, dann Saisonbeginn und dann Weihnachten. So wird es kommen.

Sein Kumpel Ioan

20. 01. 2016  •  7 Kommentare

Sechs Sprachen spreche sein Kumpel, sagt er. Sechs! Er hält die gespreizte Hand und einen Daumen hoch und deutet mit einem Kopfnicken auf den alten Mann, der neben ihm auf dem Gehsteig steht.

Bulgarisch und Serbisch und Rumänisch. Und Türkisch. Und Russisch. Und Deutsch natürlich. Obwohl, naja, Deutsch, damit sei es so eine Sache. Aber verstehen könne er alles, sagt er und rammt dem Alten, der Ioan heißt, den Ellbogen in die Seite.

Ioan brummt, stopft sich Blätterteiggebäck in den Mund und leckt sich die Finger ab. Er ist auf eine Art und Weise alt, bei der man das Alter nicht schätzen kann; Almöhi-alt – wie jemand, der niemals jung war. Sein Gesicht ist gegerbt und sein Haar grau, aber nicht erst seit gestern grau; es ist ein erfahrenes, struppiges Grau. Ich sehe ihn hier im Viertel öfter – meist wenn er auf seinem zu kleinen Fahrrad fährt. Dann tritt er sich mit den Knien in den Bauch, sein Oberkörper hängt gebeut über dem Lenker, so wie ein Rennfahrer, wenn er den Berg hinunter brettert – nur dass Ioan gerade so schnell fährt, dass er nicht umfällt.

Warum sprichst du so viele Sprachen?, frage ich und sehe Ioan an.

„Ich gewachsen“, sagt er, schiebt sich Blätterteig in den Mund und schmatzt vernehmlich. „Bei Grenze. Bulgaria und Serbia und Romania.“ Er malt einen Kreis in die Luft und sticht mit dem Finger hinein. „Aber Vater“, er deutet auf sich, „Vater türkisch. Mama Bulgaria. Freunde Bulgaria und Serbia und Romania. Ich – alles.“ Er wischt sich die Hand an der Hose ab. „Und dann, Russia. Ich -„, er marschiert mit Zeige- und Mittelfinger durch die Luft, „Sibiria. Häuser bauen für Arbeiter. Gas. Nowij Urengoj. 16 Jahre.“

Und nach Deutschland, sagt sein Freund, bist du wegen der Liebe gekommen, oder? Er stupst Ioan wieder in die Seite. Wegen der Liebe bist du doch hergekommen.

Ioan errötet und lächelt verlegen, seine hundert Falten knittern. „Liebe, Frankfurt, ja. Dann, Dortmund. Zehn Jahr, hier.“

Und die Liebe?, frage ich. Ist die jetzt auch in Dortmund?

Ioan schüttelt den Kopf. „Große Liebe, hier“, er klopft sich mit der Faust auf seine Brust. „Da ist Liebe. Für Frauen. Alle Frauen.“ Er lacht.

Ich lache auch. Ioan zwinkert mir zu, und sie machen sich wieder an die Arbeit.

Fragebogen 2015 mit einigen mir sinnvoll erscheinenden Streichungen und Ergänzungen

1. 01. 2016  •  6 Kommentare

Haare länger oder kürzer?

Kürzer. Ich habe jetzt die gleiche Frisur, wie ich sie mit 14 hatte, womit ich nicht sagen möchte, dass ich nun wieder aussehe wie mit 14. Seinerzeit fand ich den Haarschnitt schrecklich peinlich, weil ich dachte, ich sehe damit aus wie mit Anfang 30. Heute bin ich Ende 30 und finde die Frisur hervorragend.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?

Weitsichtiger, aber nicht im hypermetropischen Sinne. Dabei warte ich minütlich auf Unleserlichkeit, Armaustreckbedarf und graue Haare, schließlich gehe ich stramm auf die 40 zu. Doch bislang keine Anzeichen, und seit ich von der Erfindung von Gleitsichtkontaktlinsen weiß, geht es mir bei dem Gedanken nahender Doppelsehschwäche deutlich besser.

Darüber hinaus verbuche ich jede sich einstellende, altersbedingte Unzulänglichkeit als eine Auszeichnung, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe.

Mehr bewegt oder weniger?

Mehr und schneller, aber nicht im sportlichen Sinne. Die Sportlichkeit hat mit einsetzendem, neuen Job abgenommen, wohingegen meine Flexibilität und Entscheidungsfreude deutlich zugenommen haben – eine Gnade von Erfahrungen, die mich gelehrt haben, nicht lange an Dingen ebenso wie an Menschen festzuhalten, die mehr Schmerzen als Freude bereiten.

Der hirnrissigste Plan?

Da meine Pläne selbstredend allesamt durchdacht und großartig sind, gibt es keine hirnrissigen. Es gibt höchstens solche, die ich während des Tuns ändere, weil sich die Umstände ändern, weil sich die Intention wandelt, ich das Ziel deutlicher erkenne oder andere Ereignisse eintreten. Permanente Entwicklung, Sie wissen schon.

Die gefährlichste Unternehmung?

Wieder Handball zu spielen.

Das leckerste Essen?

Beinahe alle Essen, die ich zu mir nehme, sind ausnehmend wohlschmeckend, denn ich bin dazu übergegangen, die Dinge, die ich esse, weitestgehend selbst zuzubereiten. Das war keine bewusste Entscheidung, das ist einfach so passiert. Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich drei Fertigpizzen gegessen, alle an einem Freitag, aus Gründen.

Richtig gute Essen sind Mahlzeiten, die ich im Jahr 2015 mit Freunden teilte. Sie schmecken nicht nur dem Magen gut, sondern auch der Seele – selbst wenn es lediglich eine Portion Nudeln mit Soße ist; mithin sind Nudeln mit Soße dann sogar die besten Essen.

Besonders hervorheben möchte ich die großartigen Stammtische, die ich pflege und von denen sich inzwischen drei, beinahe vier eingestellt haben; sie sind mir ein Quell der Freude. Danke an alle, die ich zu Gast haben und bei denen ich Gast sein durfte.

Das beeindruckendste Buch?

Auch in diesem Jahr habe ich wieder viel gelesen: An die 60 Bücher werden mit den kommenden, noch ausstehenden Rezensionen im Blog stehen, das ist mehr als eins pro Woche. In der Rückschau erstaunlich. Es ist für mich einfach die beste Art und Weise, mich zurückzuziehen und zu entspannen.

Von diesen Büchern möchte ich Ihnen fünf besonders ans Herz legen:

  1. Fabio Geda: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts
  2. Fabio Volo: Zeit für mich und Zeit für dich
  3. Guiseppe Catozella: Sag nicht, dass du Angst hast
  4. Pieter Webeling: Das Lachen und der Tod
  5. Victoria Schwartz. Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde (Rezension kommt noch)

Der ergreifendste Film?

Ich schaue nicht viele Filme, ich lese eher – siehe oben. Einen Film, den ich sehr gut fand, habe ich beim Kinofest in Lünen geschaut: „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Außerdem habe ich mit Freude Robert Redfords Solo „All is lost“ gesehen.

Vorherrschendes Gefühl 2015?

Selbstsicherheit.

2015 zum ersten Mal getan?

Yoga gemacht.  Mit der Bahn durchs Rheintal gefahren. Frau Mutti getroffen. Herrn Skizzenblogger getroffen. Ge-instagrammt. Bei #12von12 mitgemacht. Szarlotka getrunken. Rouladen und Sauerbraten gekocht. Das Dortmunder Studentenorchester spielen gehört. Frau Zimt getroffen. Die Frische Brise getroffen. Das Kinofest Lünen besucht. Einen Baum gepflanzt. Einen Gartenbauer engagiert. Nach Polen gereist.

2015 nach langer Zeit wieder getan?

Den Job gekündigt. Den sozialpsychiatrischen Dienst verständigt. Ein Patenkind getauft. Ein Bett zusammengebaut. Wände verspachtelt.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?

Mich einzustellen.

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?

„Das ist ja eine tolle Überraschung.“

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?

Das müssen andere sagen.

Die Vorsätze, die ich hatte?

Sind gut gelungen. Ausreichend Schlaf, weniger Termine, schön gegärtnert. Eine tolle Reise gemacht. Das große Patenkind tanzen gesehen. Das kleine Patenkind begrüßt, getauft und über das Jahr ausführlich beknuddelt. Nur ein erneutes deutsch-russische Treffen mussten die Freundin und ich ins kommende Jahr verschieben.

2015 war mit einem Wort …?

Passabel.

Die Suche nach der Hefe

14. 12. 2015  •  65 Kommentare

Sprechen wir über Hefe. Nicht über Hefe in Bier, sondern über Backhefe.

Es gibt diese Produkte in Supermärkten, die man immer sucht. Kokosmilch ist so ein Fall.

Kokosmilch ist Zeug in der Konserve. Doch sie steht nicht bei den Konserven. Sie steht auch nicht im Themenspektrum „Uncle Ben’s“, obwohl sie Teil asiatischer Gerichte ist. Stattdessen schieben Supermärkte gut integrierte Kokosmilch in ein Ghetto für Migrationslebensmittel – eine Art Nahrungsmittelbanlieu am Rande der einheimischen Waren, zusammen mit Avjar, russischen Marmeladenkeksen und einem in Thailand von Johann Lafer handgeschöpften Öl.

Neben Migrationslebensmitteln gibt es Produkte, die zwar sinnvoll verräumt werden, die aber, weil jeder sie benötigt, nicht auffällig beworben werden. Deshalb sind sie quasi unsichtbar. Eines dieser Mimikry-Produkte ist Alufolie, die sich immer irgendwo zwischen Abflusssieben, Staubsaugerbeuteln und Zündhölzern befindet. Sie hat sich – bar jeglicher Aufsteller, Etiketten oder farbiger Verpackungen – so perfekt ihrer Umgebung angepasst, dass sie auch für geübte Augen kaum zu entdecken ist.

Ich bin sicher, dass es in der Ausbildung zur Einzelhandelsfachkraft einen Kurs gibt:

Denken wie ein Regaleinräumer

Implikationen der Relevanzlogik in praktischer Anwendung auf Nahversorgungsstätten unter konsequenter Nichtberücksichtigung gelernten Endverbraucherverhaltens

Ein ebensolches Chamäleon wie Alufolie ist Backhefe. Bei Backhefe kommt erschwerend hinzu, dass Supermärkte heutzutage Kühlabteilungen antarktischen Ausmaßes haben. Man will nur 42 Gramm Hefe kaufen und denkt, man betritt Königin-Maud-Land. Irgendwo zwischen Südgeorgien und Mount Sidley, hinter fünf Adelie-Pinguinen, befindet sich also ein zwei Quadratzentimeter kleiner Würfel, den es Shackleton-gleich zu finden gilt. Wie geht man da vor?

Ausschlussverfahren! Beim Pudding? Nein. Beim Fertigfleischsalat? Unwahrscheinlich. Bei der Butter? Kann gut sein!

„Moment“, sagen Sie jetzt, „bei mir im Supermarkt ist die Hefe beim Käse“, und da haben wir schon das Problem: Hefe ist das unverstandendste Produkt im Supermarkt; Hefe ist die Ware, die am willkürlichsten verräumt und der die wenigste Standortkontinuität zugesprochen wird. Ich schätze, jeder Aushilfseinräumer, der Joghurts mit Knusperpops und Spekulatiusgeschmack und Chilinote und die neue Buttermilchsorte mit Guarano und besonders streichfreudige Butter aus handmassierten Eutern Vorderwälder Hochalm-Kühen in den Kühltheken platziert, gelangt irgendwann an die Hefewürfel und denkt sich: „Was’n das? – Ach, egal. Ich guck gleich mal, wo’s noch hinpasst.“

Für die Hefe ist das vielleicht ganz schön. Sie kommt ein bisschen rum, schließt neue Bekanntschaften, kann ihren Horizont erweitern. Bananen zum Beispiel können das nicht von sich behaupten; sie bekommen ja nicht mal wechselnde Abwiegenummern, sondern immer und überall nur die Eins.

Für den geknechteten, hefeinteressierten Endverbraucher ist der Hefekauf hingegen ein Suchspiel, das ihm den Verstand aus dem Kopf treibt.

Deshalb: Mehr Rechte für Hefe! Aktionsbündnis für ein neonbeleuchtetes Hefefach!

Televisionen bei Männerschnupfen

5. 11. 2015  •  12 Kommentare

Die Nenngröße TT mit einem Maßstab von 1:120 war in der DDR die beliebteste Spurbreite unter den Modellbahnfreunden. Da staunen Sie, was? Das wussten Sie nicht, ne?

Der Männerschnupfen, auf dem Sofa auskuriert, ist auch immer ein Bildungsschnupfen – und der so ziemlich einzige Anlass, wochentags am Nachmittag fernzusehen. Doch gerade das eröffnet neue Welten, Modellbauwelten.

In einer Wiederholung der Sendung „Eisenbahnromantik“ aus dem Jahr 1997 lerne ich zum Beispiel, dass es Modellbahnloks im Wert von 19.000 Mark gibt; zwei Männer in Wollrollkragen müssen so ein Objekt tragen. Eine Modellbahn kann übrigens eine Geschwindigkeit von 42 km/h erreichen, wenn man sie nur richtig betankt – mit Gas; das ist aber eine diffizile Sache, das kann nur ein ausgebuffter Modellbaubetankungsspezialist. Die Lok fährt dann auch nur kurze Strecken, und sie kann dann lediglich das eine, nämlich schnell fahren, niemals langsam und auch nicht mittelschnell und auch keine Kurven. Das ist natürlich ein Nachteil, so vom Spaßfaktor her.

Außerdem, anderes Thema, weiß ich nun etwas über die Riesenlinde von Heede. Und über die Süntelbuche in Hemsheim. Und die Balderschwanger Großvatertanne. Sie ahnen nicht, was an und in und mit diesen Bäumen los ist; was die alles schon erlebt haben – das geht auf keine Kuhhaut. Irgendwann, ich weiß es, werde ich bei Günther Jauch auf dem Stuhl sitzen, ich werde keine Joker mehr haben, er wird mich fragen, was das Besondere in Limmersdorf sei, und ich werde sagen: „Meinen Sie die Tanzlinde? Ach, lesen Sie erst die Antworten vor, dann sehen wir ja.“ Damit gewinne ich eine Million Euro und kann mir ein Profi-Waffeleisen kaufen; so ein schweres aus Edelstahl mit Eisenguss-Backplatte, das fluffige, eckige Waffeln macht.

Zum ersten Mal sehe ich außerdem diese Sendung, in der Frauen auf anderer Frauen Hochzeiten gehen und dort herummaulen. Zum Beispiel über die Braut, die keinen Schleier trägt, dafür ein Kleid mit Glitzer und einem Volumen, das an explodierte Sahne erinnert – es bekommt trotzdem ganz lieb gemeinte sieben Punkte; oder über die Torte, die zu süß ist, dabei ist sie eine Torte, und man fragt sich, was sie sonst sein soll. Mir erschließt sich das alles nicht oder sagen wir: die Regeln schon, aber die Intention nicht, dort mitzumachen. Doch es ist wie ein Unfall: Wegschauen geht nicht.

Am Ende nicke ich ein. Das macht im Detail keinen Unterschied, es ist alles ein seichter Fluss, Spurweite 3000 mm, ein breiter, mäandernder Strom, auf dem ich in Richtung Genesung treibe.

Kürbis, Kanallauf, Kampfmaschinen

28. 09. 2015  •  13 Kommentare

Die Handballmädels haben gespielt, ich saß am Kampfgericht zum Knöpfedrücken. Die Saison läuft noch nicht rund. Auch am Wochenende lagen sie zur Halbzeit 8:17 zurück, eine Riesenklatsche bahnte sich an. Ich summte schon, am Zeitnehmertisch vor und zurück wippend, kathartisch in meinen Ärmel. Am Ende haben die Mädels mit 29:28 gewonnen. Ich weiß nicht, was sie in der Pause bekommen haben, eine Ich-föhn-euch-sowas-von-die-Haare-weg-Ansage oder eine Flasche Sekt: Sie kamen aus der Kabine und waren Kampfmaschinen. In der 59. Minute dann der Siegtreffer. „Mit neun Toren führen und dann verlieren – wie gut, dass das auch mal anderen passiert“, meinte die Rechtsaußen. Ich bin immer noch verzückt.

Blutmond, Mondfinsternis – pfff. Um 4 Uhr nachts befinde ich mich im Kernschatten meines Bettes, da kann kommen, was will. Die einzige Ausnahme: Das Aufstehen dient dem Zweck des In-den-Urlaub-Fliegens und ich kann mich in den darauffolgenden 336 Stunden umfänglich und ganzheitlich von diesem chronobiologischen Irrsinn erholen, dann meinetwegen. Ansonsten vertraue ich auf die Dokumentationspflicht professioneller Medien und auf den Eifer von Twitterern. Ich wurde nicht enttäuscht.

Mehr Druck. Seit etwa fünf Monaten arbeite ich in der Nähe des Datteln-Hamm-Kanals. Das ist sehr idyllisch, wenn man die Kulisse des nahen Kohlekraftwerks großzügig ignoriert. Es gibt Auen und Spazierwege, Felder, Wiesen und seichtes Wasser, herumstehende Pferde, Binnenschiffe und eine Schlossruine – eine geradezu bezaubernde Kulisse, um joggen zu gehen. Nur, dass ich schon länger nicht mehr joggen war und dramatisch außer Form bin; Yoga alleine genügt nicht, trotz aller Herausforderungen. Also nehme ich jetzt Sportklamotten mit zur Arbeit, ziehe mich dort um und laufe direkt nach Arbeitsende los: bloß nicht erst nach Hause fahren. Ich habe das einer Kollegin erzählt: „Oh, gut, dann gehe ich demnächst abends am Kanal walken, das setzt uns gemeinsam unter Druck.“ Verdammt nochmal, das wird es tun.

Fünf Kilo. Kürbis. Habe ich am Wochenende geerntet. Sie ahnen ja nicht, wie viel fünf Kilo Kürbisfruchtfleisch sind. Das reicht für eine Fußballmannschaft. Mit Auswechselspielern. Und Trainerstab. Und Spielerfrauen. Diese Woche steht also nicht nur im Zeichen des Joggens, sondern auch im Zeichen des Kochens: Kürbis mit Kartoffel, Kürbis mit Nudeln, Kürbis mit Feta. Ich werde selbst aussehen wie ein Kürbis, meine Mitte wird ein Kürbis, mein Kopf wird ein Kürbis. Die Rezepte demnächst im Gärtnerinnenblog.

Alltagsschnipsel

23. 09. 2015  •  4 Kommentare

Viel Arbeit. Ich spüre erste Urlaubsreife. Drei Monate noch bis zum Weihnachtsurlaub. Das ist, wenn ich es so aufschreibe, eine ziemlich lange Zeit. Andererseits ein Zeitraum mit vielen kleinen Meilensteinen, der verfliegen wird.

Außerdem sind die Bürowolken immer sehr schön.

Der Himmel über dem Industriegebiet

Viel Freude. Die Arbeit, sie macht Freude. Ein ausgefüllter Tag, gut zu tun, kein Leerlauf, aber auch nur wenig Stress, der zehrt. Dafür tolle Kunden, interessante Projekte und ein klasse Team – ein wirklich grandioses Team. Sagte ich schon, dass meine Kollegen super sind?

Wild und gefährlich. Beim Yoga verunglückt, auf der Fußmatte der Yogalehrerin ausgeglitten. Supinationstrauma! Außenbandeskalation! Aber alles im Rahmen, nichts im Vergleich zu einem Männerschnupfen. Dennoch: ein weiterer Grund, diese brutale Risikosportart nicht zu unterschätzen.

Bewegungstherapie. Erneut mit den Kalendergirls trainiert. Den Juni und den Juli kennengelernt. Tempogegenstöße gelaufen. Oder sagen wir: Zeitlupenstöße. Aber hey: So kann der Zuschauer meine … uhmm, Ästhetik länger genießen.

Pflaumen döppen. Am Wochenende habe ich den ersten Pflaumenkuchen des Jahres 2015 gebacken. Nur lecker mit Quark-Öl-Teig.

Ich sollte allerdings besser im eigenen Blog recherchieren, denn ich habe das falsche Rezept genommen. Außerdem ist mir der ganze Haufen Quark in die Schüssel gefallen. Fluffigkeitsfiasko! Ich werde die Backung wiederholen müssen, so ein Ärger.

Geschmack: 2-, Boden: 5+, Optik immerhin: sensationell.

Pflaumenkuchen mit Quark-Öl-Teig

 

Aufgeschnappt:

Gehirne von Kreativen haben eine erhöhte Anfälligkeit für Verzweiflung, da sie pausenlos Probleme höchster Komplexität lösen.*

Ich empfinde es eher als das Gegenteil: Weil ich ständig Fragen von hoher Komplexität vor mir habe, ist meine Verzweiflungstoleranz enorm gestiegen. Et hätt noch emmer joot jejange.

Septembersonntag am See

7. 09. 2015  •  6 Kommentare

Wenn es stürmisch ist, mag ich den See am liebsten.

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An warmen Tagen, wenn die Sonne scheint und der Himmel wolkenlos ist, flanieren Mann und Maus um den Phoenixsee, die Strukturwandelpfütze Dortmunds. Der See liegt da wie im Wasserglas, die Wiesen und Wege sind voll, ein träges Spaziergehwieweitnochichwilleineisgefühl wabert ums Ufer.

Ist es aber regnerisch, sind die Spazierwege leer. Nur ein paar unerschrockene Hundebesitzer zerren ihren Fiffi ums Gewässer, zügig, zügig, nicht zu lange schnuppern, damit sie bis zum nächsten Schauer wieder am Auto sind. Der Wind weht in Böen über die Fläche. Bäume biegen sich, Haare wehen ins Gesicht, werden wieder herausgestrichen, wehen wieder vors Auge.

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Der See mag den Wind und der Wind mag den See. Das Wasser kräuselt sich, es klatscht an die Stege, das Schilf wiegt sich, Enten schunkeln auf den Wellen, Möwen werden durch die Luft gepustet, Wolken türmen sich über dem Ufer.

Ein Luftballon weht über das Wasser, rot, mit einer Botschaft am Geschenkbändchen. Er sinkt hernieder, mitten auf dem See, das Papier berührt das Wasser, einmal, zweimal, dreimal, dann kommt eine Böe und trägt ihn wieder empor, über den See, über das Ufer und fort.

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Das ganze Panorama wirkt zerzaust, und vielleicht ist genau das der Grund, warum ich den See bei Sturm mehr mag als bei schönem Wetter: Die Natur sorgt für Unaufgeräumtheit in der reißbrettgeplanten Naherholungsidylle.

Julisturm

25. 07. 2015  •  5 Kommentare

Der Morgen beginnt sonnig.

Um 7 Uhr geht die Jalousie im Schlafzimmer hoch. Mit müden Augen blicke ich in den Garten, in die Baumwipfel und in einen Himmel mit Schäfchenwolken. Die Sonne scheint.

Es soll doch stürmen, denke ich. Aber ach, egal. Ich nicke noch einmal ein.

Am Mittag gehe ich an den See und in den Ort.

Phoenixsee, Sturm

Ich mag diese Tage sehr, an denen es stürmt, es aber so warm ist, dass ich eine kurze Hose tragen kann. Diese Freiheit für die Waden – ich werde demnächst noch etwas dazu schreiben.

Im Ort die erste Botschaft, dass auch dieser Sommer irgendwann enden wird.

Kastanien auf der Erde

Die Straßen sind leer. Beim Optiker: niemand. In der Drogerie, wo sich an anderen Samstagen zwei Kassenschlangen bis zum Nagellack drängen: fünf Kundinnen. Beim Bäcker gegenüber sortiert die Verkäuferin die Auslage neu.

Auch Top-Angebote locken heute niemanden.

Plakat: Dortmunder Hansa 0,32 + Pfand

Auf dem Ortsplatz hüpfen zwei Kinder auf einem Trampolin, das ins Pflaster eingelassen ist. Eine Radlerin legt ein großes Paket auf ihren Gepäckträger und schiebt in Richtung Apotheke.

Eine Frau sammelt eine umherfliegende, leere Tüte ein. Eine andere sieht ihr dabei zu, murmelt: „Dat dat heut noch einer macht“, und schlurft weiter.

Zettel: Man sollte viel mehr aufpassen. Am besten auf sich selbst.

Einzig beim Kaffeeröster ist es voll. Es ist Schlussverkauf: übrige gebliebene Sportkleidung, Dekoration und allerlei Unnützliches gibt es zum halben Preis. Ein Mann möchte eine Kapsel-Kaffeemaschine kaufen und lässt sich die Mechanik erklären. Danach möchte er direkt drei Maschinen kaufen, zum Verschenken.

Der Wind draußen frischt auf. Vor dem Blumenladen gegenüber kippen die Vasen um.

Phoenixsee, Sturm

Auf dem Hügel am See bin ich allein. Die Spaziergänger unten am Ufer: allesamt Hundebesitzer. Zügigen Schrittes marschieren sie aneinander vorbei.

Ich stehe im Wind und sehe den Wolken zu. Das Wasser kräuselt sich. Böen drücken das Grad nieder. Bäume wiegen sich. Dann beginnt es zu regnen.



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