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Podien, Männer, Frauen und Wut

29. 11. 2016  •  6 Kommentare

Am vergangenen Freitag besuchte ich den DWNRW Summit 2016, den Tag der Digitalen Wirtschaft NRW, auf der Zeche Zollverein.

Aus vielen Gründen war das eine gute Veranstaltung: breites Themenspektrum, Vorstellung der neu entstehenden Hubs in Nordrhein-Westfalen – darunter das hub.ruhr – und eine tolle Location, die das reflektiert, worum es geht, den Strukturwandel. Eine Konferenz, die dem Ruhrgebiet gut zu Gesicht steht.

Doch eine Anmerkung möchte ich machen – exemplarisch für viele Veranstaltungen:
51 Vortragende, davon 45 Männer.

Das macht mich wütend.

Homogenität hemmt, wenn man Fortschritt gestalten möchte. In einem Markt, der heterogene Innovationen erfordert, weil Kundenwünsche immer individueller werden. In Unternehmen, die auf crossfunktionale Teams setzen, um aus unterschiedlichen Richtungen auf Produkte und Prozesse zu blicken – damit möglichst ganzheitliche Lösungen herauskommen. In einer Welt, in der wir alle leben. Und alle konsumieren.

Wenn es sich um die Jahreshauptversammlung pensionierter Bergleute oder um die „Fachkonferenz Hodenhochstand“ handeln würde: geschenkt. Aber doch nicht bei Themen wie digitale Transformationpolitische Kommunikation, meinetwegen auch Thrombose oder, ganz ironiefrei, die Macht des tradierten Denkens.

Die Unterrepräsentation von Frauen hat unter anderem mit der Sehnsucht nach Vorständen bei der Besetzung von Podien zu tun. Vorstände können mir interessante Dinge über strategische Ausrichtungen von Konzernen sagen. Sie sind damit aber auch nur eine Perspektive von vielen. Ich höre genauso gerne denen zu, die an der Basis arbeiten und operativ umsetzen.

Entsprechend waren beim DWNRW Summit die interessantesten Wortbeiträge diejenigen, in denen MacherInnen auf der Bühne standen: der Geschäftsführer von Foto Koch in Düsseldorf, der sein Einzelhandelsgeschäft umkrempelt. Oder Robin Metz, der mit Helmade online Individualisierungen für Motorradhelme anbietet. Die Haltung, möglichst viele aus der A-Riege auf der Bühne zu haben, damit es eine gute Konferenz wird, erschließt sich mir nicht. Es macht auch die anschließende Kontaktaufnahme und den kommunikativen Austausch schwierig. Denn möchte man MittelständlerInnen zusammenbringen, damit sie gemeinsam an Herausforderungen wachsen, hilft Augenhöhe – und nicht das Manifestieren von Hierarchien mittels unidirektionaler Vortragsformate mit Alpha-Entscheidern in Richtung einer breiten, lauschenden Masse. Paradoxerweise betonen alle in jeder Session, dass flexible Netzwerke unbedingt traditionelle Hierarchien ersetzen sollen, um innovatives, grenzenloses Denken zu fördern.

Ich möchte nicht behaupten, dass Frauen die klügeren Wortbeiträge haben. Es geht um etwas anderes: Da ist einmal die weibliche Perspektive, die bei gesellschaftlichen Debatten ebenso wie bei Produktentwicklungen und Prozessen fehlt. Genauso wie es Perspektiven aus verschiedenen Kulturkreisen und Altersgruppen gibt, basierend auf unterschiedlicher Erfahrung, unterschiedlichen Denkmustern, unterschiedlicher Prioritätensetzung und unterschiedlichen Bedürfnissen in unterschiedlichen Lebensphasen. Diversität zu berücksichtigen – und damit die Bedürfnisse verschiedener Kundengruppen, ist bares Geld.

Zum anderen ist da die Sache mit der Identifikation. Ich bin eine Frau, und ich möchte repräsentiert sein. Ich möchte mich identifizieren können. Ich möchte Meinesgleichen, die auf Podien sitzen, und mir zeigen, was sie geleistet haben. Oder: womit sie gescheitert sind. Und meinetwegen auch: wie dumm man auch als Frau daherquatschen kann.

Es ist wie seinerzeit an der Uni, als Nicht-Akademikerkind, als ich mich plötzlich in einer Welt mit einem fremden Habitus wiederfand, mit einer anderen Haltung gegenüber Wissen, das nicht direkt der handwerklichen Anwendung dient, und Studiengängen, die zu keinem Berufsabschluss führen. Ohne familiären Wegweiser. Ohne Vorbilder, die einem sagen, wie man’s macht und wozu man’s braucht. Oder die einfach nur da sind, als Wegmarke, die man auch erreichen möchte.

In einem Land, dessen Rohstoff Ideen und Wissen sind, brauchen wir Köpfe, die aus unterschiedlichen Richtungen Lösungen erdenken.

Ich identifiziere mich nicht gleichermaßen mit einem Mann. Männer mögen das nicht nachvollziehen können, denn sie sind auf Veranstaltungen ja immer repräsentiert. Versuchen wir es deshalb einmal so, Männer: Haben Sie gegenüber den Beachvolleyball-Olympiasiegerinnen das gleiche Gefühl wie bei gegenüber den männlichen Sportlern? Schauen Sie zu ihnen auf, sind sie ein Idol, geben Sie Ihnen eine Richtung vor? Oder orientieren Sie sich, was Erfolg angeht, doch eher am eigenen Geschlecht?

Symbolbild:

https://twitter.com/Dr_Mama_/status/788285269170647040

Mehr zum Thema: 

Von Pubertät und Podien (Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach)

„Um es klar zu sagen: Ich halte es für eine Veranstaltung für schädlich, wenn sie an einem Format festhält (also vor allem Vorträge, Vorträge, Vorträge, dieses pubertäre Format), das systemimmanent nicht nur überwiegend uninteressant ist, sondern auch viele Frauen, die ich kenne und für gute Lehrerinnen und Erzählerinnen halte, ausschließt.“

Mädchen mit Spielzeugen und ablenkende attraktive Wissenschaftlerinnen (Markus Pössel)

„Während solcher Karriere selbst gibt es dann viele andere kleine Puzzlesteine. Als einzige Studentin unter lauter Männern in Vorlesung oder Seminar zu sitzen. Dumme Sprüche zu hören bekommen. Häufig von männlichen Kommilitonen unterbrochen zu werden, wenn man etwas sagt. Sobald man darauf einmal begonnen hat, zu achten: Noch eine Podiumsdiskussion ohne weibliche Teilnehmer. Und noch eine. Und noch eine.“

Frauen zählen (Anne Schüßler)

„Wir leben nach wie vor in einer Welt, in der uns an jeder Ecke vermittelt ist, dass Mannsein der Normalzustand ist und Frausein das andere. Es ist ein bisschen subtiler geworden und man muss ein bisschen genauer und bewusster gucken (und zählen), aber dann ist es doch sehr einfach zu erkennen.“

Was schön war – Kalenderwoche 45 und 46, 2016

20. 11. 2016  •  7 Kommentare

Die vergangenen zwei Wochen: immer noch Husten und Schnupfen des Todes. Zweimal beim Arzt gewesen, weil der ganze Brustkorb schmerzte und ich befürchtete, dass etwas Ärgeres dahinter steckt: Entzündung der Lunge oder sonstwas. War aber nicht. Trotzdem: lästig. Husten ist jetzt weg. Schnupfen auch fast. Ich muss dringend wieder Sport machen, fühle mich wie ein rostiger Trecker. Nächste Woche ist Einsteigerfitness angesagt.

Was schön war:

  • Mit den Handballveteraninnen, von denen nur die wenigsten noch Veteraninnen sind, weil sie allesamt wieder angefangen haben zu spielen, „Bridget Jones‘ Baby“ angeschaut. McDreamy hat’s optisch rausgehauen, die Handlung ist ansonsten eher mau.
  • Mini-G gehütet, während die Mannschaftskameradin bei der Rückbildung war. Denn ohne Kinderhüterin kann sie nicht rückbilden und ohne Rückbildung kann sie nicht wieder Handball spielen. Da muss man zusammenhalten. Alles für den Dackel, alles für den Club.
  • A propos Club: Die Kalendergirls haben das zweite Spitzenduell gewonnen. Tabellenplatz Zwei – wegen eines Spiels weniger als der Spitzenreiter – ist vorerst gesichert. Der Trainer hat erstmals das A-Wort ausgesprochen. Wir haben so getan, als hätten wir es nicht gehört, und sind rasch ins Thema „Weihnachtsfeier“ gewechselt. Siegessekt nach Lokalderby:

Kalendergirls stoßen mit Sekt an

  • Auf dem Rückweg von der Halle durch den Herbst spaziert. Macht man viel zu wenig.

Herbstwald mit viel Laub auf der Erde

  • Mit dem großen Patenmädchen Kaffee im neuen Kaffeehaus in der Heimat getrunken. Die Kleinstadt hat ihr traditionelles Alte-Damen-Café renoviert, es ist jetzt ein Alte-Damen-Café in modernem Plüsch. Das ist sehr gelungen, ich mag den Ort. Vielleicht, weil ich über viele, viele Jahre jeden Freitagnachmittag mit meiner Oma dort war. Sie: Blätterteigröllchen mit Hackwurst. Ich: Zimtschnitte und die Kondensmilch ihres Kaffees. Warme Wangen, wohliges Gefühl.
  • Das Kinofest Lünen besucht und drei Filme angeschaut: „Fritz Lang“, „90 Minuten – bei Abpfiff Frieden“ und „Kästner und der kleine Dienstag“. Erstaunlich, wie anders Fernsehfilme wirken, wenn man sie im Kino anschaut. Und erstaunlich, wie viel mehr man sich im Kino auf  die Handlung einlässt – im Gegensatz zum eigenen Wohnzimmer. „Fritz Lang“ hat mir stilistisch sehr gut gefallen: die Adaption des Stummfilm-Stils für einen Film über die Entstehung des ersten Tonfilms des Stummfilm-Regisseurs Lang. Falls das nicht verständlich war: anschauen. Finzi, Ferch, Regie, Bild und Ton sind sensationell. Nach dem Erich-Kästner-Film (toll! toll! toll!) war ich ein bisschen neben der Spur, was nicht nur daran lag, dass Florian David Fitz den Kästner spielt, sondern auch, weil er es sehr gut tut. Ein Teil der Filmcrew (kein Fitz, aber zweimal kleiner Dienstag):

Ein Teil der Filmcrew vor der Kinoleinwand des Kinofestes Lünen

  • Mit Freundinnen Pizza gegessen, Sushi gegessen, mit Institutsveteraninnen und -veteranen erstaunlich lange und mitten in der Woche (Sodom und Gomorrha!) umgetrunken und mit den Clübchen Stammtisch gehalten. Es waren sehr gesellige zwei Wochen.
  • Zum ersten Mal selbst Sommerrollen gemacht. Es war eine riesige Sauerei, aber irgendwann hatte ich die Technik raus. Lecker.

Sommerrollen fertig und in der Herstellung: Collage aus vier Bildern

  • Die Initiale besucht, viele Gespräche geführt, Dinge ge- und erarbeitet und sehr viel weitergekommen. Gruß an die Dortmunder Wirtschaftsförderung, die machen wirklich einen guten Job. Mehr zu gegebener Zeit.

Die Wahl der Entmachteten

10. 11. 2016  •  48 Kommentare

Schaut man aufmerksam hin, ist es nicht überraschend: dieses Rücken nach Rechts, das Suchen nach Extremen, der Wunsch nach jemandem, der die sichere, kleine Welt ins eigene Leben zurückholt. In den USA nicht, und hier in Deutschland auch nicht.

Es ist die Summe kleiner Niederlagen, die viele Menschen hinnehmen müssen – und es ist der Finger, der nach jeder Niederlage auf sie zeigt: selbst schuld. Egal, ob sie arbeitslos oder alleinerziehend werden. Ob ihre Rente nicht ausreicht oder sie so wenig verdienen, dass sie eben zurechtkommen. Die gesagt bekommen: Hättest du mal mehr geleistet, wärst nicht so unflexibel, hättest einen anderen Beruf gewählt, hättest du einen anderen Arbeitgeber gewählt, etwas Sinnvolleres studiert, wärst du nicht so unbedacht schwanger geworden, hättest zurückgesteckt und mehr für deine Ehe gekämpft, dann ginge es dir jetzt besser. Andere schaffen es doch auch.

Sie hören, wie immer und immer wieder an ihre Eigenverantwortung appelliert wird, während andernorts Menschen auf Positionen sitzen, weil sie den Habitus der Etablierten von Klein auf erlernt haben und in ihn hineinerzogen werden, weil sie von den Kontakten profitieren, die ihre Herkunft ihnen verschafft, weil sie nicht nur einen besseren Start hatten, sondern auch, weil es Helfer gibt, die ihnen die Hindernisse aus dem Weg räumen, in die andere hineinrennen.

Doch wenn sie dies ansprechen, hören sie das zweite Argument nach „Selbst schuld!“. Es ist: „Du bist doch nur neidisch!“

Dabei geht es nicht um Neid. Nur die wenigsten Menschen sind neidisch auf diejenigen, die sich ihren sicheren Wohlstand mit Arbeit, Bildung und Cleverness, ja sogar mit dem Glück des Zufalls erarbeiten. Es geht nicht um das, was die anderen haben. Sondern um das, was viele auch mit bester Leistung niemals erreichen können. Dem Anderen Neid zu unterstellen, weil er Kritik übt, ist das gleiche wie der Verweis auf die Eigenverantwortung: die Umkehrung der Kritik zur Wahrung des Ungleichgewichts.

Denn bei allem geht es um soziale Ungleichheit. Und es geht um Verhältnismäßigkeit. Dem Verhältnis vom Durchschnittsgehalt zum Gehalt des Bankvorstandes, dem Verhältnis der eigenen Mühen zu den Mühen derjenigen, die als Funktionäre auch nach kläglichem Versagen immer neue Posten angedient bekommen, dem Verhältnis des Erbes, das die Kinder dieser Funktionäre und Vorstände erhalten, zu dem Erbe, das die Kinder von Thomas Mustermann erwartet, nachdem sie ihren Vater gepflegt und ihre Mutter im Heim versorgt haben.

Jener Thomas Mustermann, der als Maschineneinrichter oder Industriekaufmann, als Ingenieur oder als Krankenpfleger arbeitet, der zwei Kinder hat, geschieden ist, der mit der Scheidung das Eigenheim der Frau überlassen musste und trotz 40-Stunden-Job, mit Wechselschicht und Überstunden, nur mittelmäßig über die Runden kommt. Thomas, der jedes Jahr seinen Rentenbescheid bekommt, auf dem die Zahl 1.413 steht – wenn nichts dazwischenkommt, kein Krebs, kein Rückenleiden und keine Frühverrentung, denn noch hat er 14 Jahre, und von der Zahl 1.413 muss er später noch etwas an seine Ex-Frau abdrücken, Versorgungsausgleich, da bleibt nicht mehr viel. Thomas Mustermann schaut mit Sorge auf seinen Arbeitgeber, der umstrukturiert, abbaut und outsourced, der vor der Übernahme durch ein ausländisches Unternehmen steht. Best of both, sagen sie dort, das Beste aus beiden Unternehmen wird das Neue formen. Thomas war noch nie der Beste. Was soll aus ihm werden, wenn er jetzt, mit 51, entlassen wird? Seine Tochter hat vergangene Woche erfahren, dass sie nach ihrer Ausbildung nicht übernommen wird, wie soll er sie unterstützen? Sein Sohn hat den zweiten befristeten Vertrag – und das trotz guten, naturwissenschaftlichen Studiums. Dabei ist der Junge 28 – ein Alter, in dem Thomas schon ein Haus gebaut und zwei Kinder gezeugt hatte.

Dieser Thomas Mustermann hat einst SPD gewählt. Doch die SPD hat ihn verraten, hat ihm die Angst vor dem sozialen Abstieg eingebrockt. Wenn Thomas arbeitslos wird, hat er nicht einmal zwei Jahre, dann wird er seine Wohnung kündigen, in eine kleinere ziehen, sein Auto verkaufen und von 404 Euro im Monat leben müssen. Was soll er nächstes Jahr also tun? Die Grünen wählen, die sich um Veganer und Windräder kümmern? Die Linke, diese Kommunisten aus dem Osten? Die FDP kommt nicht in Frage und auch nicht die CDU, die nur eine Partei der Unternehmer und neuerdings auch der Asylanten ist.

Er fühlt sich machtlos, denn egal, was er tut: Er kommt nicht weiter. Es ist niemals richtig nach oben gekommen, es geht in letzter Zeit eher nach unten, und auch seine Kinder werden nicht weiter aufsteigen, wenn sie denn überhaupt so weit kommen, wie er gekommen ist. Ein Eigenheim kann sich ja heute kaum noch jemand leisten, in den Großstädten, dort, wo die Arbeit ist und wo sein Sohn wohnt. Der kann ja kaum die Miete bezahlen. Und als ob das alles nicht schon ungerecht genug wäre, hört und liest er in den Medien nur: „Arbeitslosigkeit auf Rekordtief“, „Fachkräftemangel bremst Firmen aus“, „Wohlstand in Deutschland so groß wie nie“.

Was aber will er eigentlich, der Thomas? Er lebt in einem Sozialstaat, er hat eine Arbeit, eine Krankenversicherung, eine Wohnung. Er kann sogar einmal im Jahr in den Urlaub fahren, zehn Tage Griechenland in der Nebensaison. Er wird auch im Alter versorgt werden – nicht üppig, aber dennoch: auskömmlich. Was hat er also, dieser undankbare Mann?

Er hat Angst. Er hat Wut. Und er hat niemanden, der ihn unterstützt. Wie viel besser würde er sich fühlen, wenn jemand da wäre, der zu ihm hält, der für ihn kämpft. Sein Vater damals – er hat auch malochen müssen. Aber er hatte einen Betrieb, der ihn versorgt hat, einen Firmenchef, der all seine Leute mit Namen kannte. Der Vater bekam zu Weihnachten ein Präsent von der Firma, alle Arbeiter bekamen eins, auch als sie schon in Rente waren, und am Geburtstag hatte er frei. In Thomas‘ Firma  hingegen wurde vor fünf Jahren das Weihnachtsgeld gestrichen, sein Vorgesetzter ist der dritte in vier Jahren, und der Urlaub am letzten Geburtstag wurde ihm verwehrt – zu viel zu tun. Am Ende hat er an dem Tag Däumchen gedreht, Fehlplanung von oben.

Was bleibt also für ihn, Thomas, 51, geschieden und mehr Mittelmaß als Mittelschicht? Er sucht sich jemanden, der ihn vertritt, der laut ist, der gehört wird, dessen Meinung in den Medien widerhallt, der endlich einmal dieses unsägliche System hinterfragt und an den Stühlen der Etablierten wackelt – um sie wach zu rütteln. Er wählt die Rechten, weil es die Linken nicht mehr gibt, weil es keine mächtigen Betriebsräte und Gewerkschaften mehr gibt, weil es die Grenzen nicht mehr gibt, die seinen bescheidenen Wohlstand zusammenhalten, weil es nur noch „Wir schaffen das!“ gibt. Natürlich wird das Land es schaffen – auf seine, Thomas‘, Kosten, so wie es in den vergangenen fünfzehn Jahren immer war. Wenn er Zuspruch bekäme statt immer einen reingewürgt, wenn es noch Moral und Zusammenhalt und Wertschätzung gäbe, dann wäre vieles anders. Aber so? Was soll er auch tun?

Linktipps:

Trump, eh?
„Diesbezüglich ist die Wahl von Trump auch als Rache am korrupten Neoliberalismus zu lesen, die gleichzeitig den Verlust linker Werte spiegelt: Die Wähler der weißen Mittelschicht verweigern ihren schwarzen und muslimischen Nachbarn die Solidarität und ermöglichen damit letztlich eine Institutionalisierung und Normalisierung rassistischer Strukturen […]“

Was macht die Autoritären so stark? Unsere Arroganz
„Es stimmt ja, wir haben viel Gutes in die Welt gebracht, Gerechtigkeit und Freiheit für Frauen, Migranten, Behinderte, Homosexuelle, das alles ist unsere Tradition. Doch die Klassen haben wir nicht abgeschafft. Wir haben uns nur an die Spitze der Klassengesellschaft gesetzt, und jetzt kommt es uns so vor, als hätten alle Schranken sich geöffnet. Von unten dürfte das Ganze anders aussehen […]“

Was schön war – Kalenderwoche 44, 2016

8. 11. 2016  •  Keine Kommentare

Die Erkältung geht nicht weg. Sie ist jetzt eine Bronchitis, und das ist alles recht unerfreulich. Seit mehr als zwei Wochen taumle ich schwer angeschlagen durch den Tag. Aber immerhin: Heute geht es erstmals besser. Denn: Die kleine Bronchitis hat fast durchgeschlafen. Jetzt wird es Zeit, dass sie auszieht.

Was schön war: der Arztbesuch und das Paket Medikamente, das ich in der vergangenen Woche bekommen habe. Toll, dass es das gibt. Nach Nutzung des Bronchialsprays hatte ich endlich wieder Lungenvolumen – und zwar direkt so eins, dass ich über eine Teilnahme den olympischen Spielen nachdachte. Hamma, was da möglich wäre.

Was sonst noch schön war:

  • Beim Bowling gewonnen. Bäm!
  • Die kleine Geburtstagsfeier beim Nachbarn, mit Hot Dogs und guter Gesellschaft. Es geht doch nichts über eine gute Nachbarschaft und eine gute Freundschaft. Was das angeht, bin ich Herdentier. Verschenkt: Schuss. Die geheime Dopinggeschichte des Fußballs von Thomas Kistner. Habe ich als Hörbuch gehört, klare Empfehlung.
  • Mit den Kalendergirls gewonnen und Tabellenplatz 2 gesichert. Krankheitsbedingt nur passiv. Dafür beim Kinderdienst von K (2) vertrauensvoll bekuschelt und bespielt worden. Ich schrieb schonmal darüber: Es gibt Kinder, die ich unglaublich gut leiden mag, weil sie total super sind. Sie haben einfach ein freundliches Wesen, da ist direkt eine Verbindung, das hat auch nichts mit Bravsein oder sowas zu tun. Können Sie nachvollziehen, was ich meine? K gehört jedenfalls dazu. Sein Bruder auch. Tolle Typen.
  • Weihnachtskekse mit T gebacken. Mit Marmelade, Crunchy Erdnuss, Weißer Schokolade und Cornflakes. Wie immer sensationell. Leider werden die Kekse Weihnachten nicht erleben. Wahrscheinlich noch nicht einmal die Adventszeit. Was natürlich nur daran liegt, dass ich so viele verschenke. //*hüstelt
  • Dem Einzug ins Achtelfinale der Champions League beigewohnt. Mit Menschen, von denen ich nur ihre Spitznamen kenne. Solche Leute kennen Sie sicherlich auch, oder? Irgendwann nennt mal jemand den richtigen Namen, und niemand weiß, wer gemeint ist.

Hach:

https://www.instagram.com/p/BMUeQ0cheXm/

 

 

Selbstbestimmt geknetet, selbstbestimmt gegessen werden – eine Studie zur multikulturellen Kekskultur

7. 11. 2016  •  13 Kommentare

Dortmund. (nes) Sie sind viele, und sie haben eine klare Vorstellung davon, wie sie leben und wie sie sterben möchten: die Kekse des Jahres 2016. Das zeigt eine Studie aus Dortmund. Wir Menschen können ihnen dabei helfen, ihre Ziele zu erreichen. 

Pünktlich zur Adventszeit hat das Dortmund Research Institute for Suicidale Cookies (DRISC) eine Studie veröffentlicht, die uns alle aufatmen lassen kann. Ihr Ergebnis: Kekse wissen genau, was sie wollen. Und es ist ganz im Sinne aktueller Entwicklungen.

Das DRISC hat in aufwändigen Untersuchungen mehr als 5.000 Kekse verschiedener Sorten befragt. Schwerpunktthemen waren in diesem Jahr ihre Einstellung zu einer multikulturellen Kekskultur vor dem Hintergrund eines vermehrten Zuzugs auswärtiger Plätzchensorten. Außerdem ging es um ihre Vorstellung eines selbstbestimmten Sterbens unabhängig von religiösen Traditionen.

Zustimmung zu einer weltoffenen Keksgesellschaft

Die Studie zeigt: Kekse befürworten mit großer Mehrheit ein Leben in einer heterogenen Gesellschaft und den Zuzug von Keksen aus anderen Ländern. Nur Kekse aus dem konservativ-etablierten Milieu, darunter die traditionellen Vanillekipferl, stimmten der Aussage zu, dass es eine Obergrenze für den Kekszuzug geben solle. Alle anderen Kekse äußerten sich weltoffen.

In qualitativen Leitfadeninterviews gab sich sogar der ansonsten als traditionell geltende Gewürzspekulatius eindeutig: Seine Zutaten seien seinerzeit allesamt aus dem Orient zugezogen und bereicherten seither die europäische Küche. Dieser Tatsache gelte es nun, Rechnung zu tragen, indem man auch Kekssorten wie Crunchy Peanut, die dem prekären Milieu zuzuordnen seien, wohlwollend aufnehme.  „In Gottes Keksdose ist Platz für viele Cookies“, werden die Teilnehmer der Studie einhellig zitiert. Vielfalt stärke letztendlich die Kernkompetenzen der einheimischen Sorten.

Genuss ohne religiöse Schranken

Zweites Thema der Studie war die Frage eines selbstbestimmten Sterbens unabhängig von religiösen Traditionen. Bereits jetzt, Anfang November, beginnt in vielen Küchen das Backen. Die Folge: Zahlreiche Kekse erleben die Adventszeit gar nicht erst.

Auch hier zeigten sich die Befragten tolerant. 89 Prozent stimmten der Aussage zu, dass ein religiöser zeitlicher Hintergrund nicht notwendig für den Genuss von Weihnachtskeksen sei. „Es geht auch ohne brennende Kerze auf dem Adventskranz“, heißt es aus Spritzgebäckkreisen. Vielmehr helfe der Akt des Essens, egal zu welchem Zeitpunkt, den Keks als solchen zu würdigen. Das sei Religion genug. Weitere 72 Prozent der befragten Plätzchen sagten sogar, dass ein frühes Ableben ganz in ihrem Sinne sei. „Viele Kekse wollen sofort gegessen werden“, wird ein Zimtstern zitiert. „Da geht es nicht um den passenden Zeitpunkt. Der ist für mich schon gekommen, wenn ich noch warm bin.“

Na dann: Guten Appetit! Auch jetzt schon, Anfang November.

Senminuten

2. 11. 2016  •  48 Kommentare

Im Vorort, neben Einszehn, in Reichweite des Kleingartenvereins „Einigkeit“, gibt es einen Pizzaimbiss. Ein Ladenlokal: Theke, Ofen, davor drei festgedübelte Tische. Über den Köpfen läuft N24.

Die Bude sieht unscheinbar aus, doch jeden Abend stehen die Leute bis auf die Straße. Sie kommen aus dem ganzen Viertel und darüber hinaus; ich wohne inzwischen woanders, fahre aber trotzdem dorthin: Die Pizza ist die beste der Stadt, die Preise sind unschlagbar, die Öffnungszeiten gehen bis Mitternacht.

Die Kundschaft ist illuster: Mit einer leicht angeschlockerten Joggingbuxe ist man für den Laden perfekt gekleidet, aber auch Abendkleider und Zweireiher wurden schon gesehen. Kinder kommen alleine, schieben Einsfünfzig über die Theke und bekommen eine kleine Margherita. Es finden erste Dates statt; junge Menschen sitzen sich an den Plastetischen gegenüber, ihre Hände spielen miteinander, minutenlang blicken sie sich an, während die Pizzen vor ihnen kalt werden. Ab und an hält ein Streifenwagen: Die Polizei kauft hier gerne Zwei zum Mitnehmen.

Der Laden gehört zwei Singhalesen. Sie malochen wie die Bergarbeiter, von mittags bis Mitternacht, rollen Teig, füllen Pizzaschnecken und nehmen die Bestellungen entgegen. Es gibt keinen Ruhetag, die Beiden hatten noch nie zu und sind immer da.

Ruft man dort an, melden sie sich mit einer Lautfolge, die alles bedeuten könnte – vielleicht „Simsalabim“, vielleicht „Da simma dabei“. Man trägt die Nummern vor, die man bestellen möchte. Sie antworten „Senminuten“. Alles dauert immer „Senminuten“, egal ob man eine oder acht oder zwölf Pizzen bestellt. Abholen muss man selbst, geliefert wird nicht – wie auch, die Beiden müssen ja Pizzen rollen, eine nach der andern.

Vor ein paar Tagen sitzen wir dort, die Turnschwester und ich, in Blazer und Kleidchen. Es ist fast Mitternacht, wir kommen von einem Festakt – einer prima Veranstaltung, doch leider haben wir beim Flying Buffet mehrmals den Check-In verpasst: Unsere Mägen hängen in den Kniekehlen. So sitzen wir in der kleinen Pizzabude, draußen die Großstadt bei Nacht, glücklich mit zwei Minipizzen, die wir dankbar mit den Fingern essen.

Die Singhalesen haben die Außenbeleuchtung schon ausgeschaltet: Schluss für heute, nur noch aufräumen – als drei Halbstarke hereinkommen, Trainingshose, Bomberjacke, Undercut, Silberkettchen, irgendein Migrationshintergrund.  Man könnte nun Angst bekommen, doch sie fragen lediglich: „Guten A’md, ’schuldigung, wir ha’m voll Hunger. Könn’wa noch was bestellen, geht das?“

Die Pizzabäcker nicken und machen Margherita und Vegetale und noch etwas, und als die drei Jäuster ihre Pizzen bekommen, wendet sich der Bullige mit der gepiercten Augenbraue zu uns und fragt: „Guten A’md, die Damen“, es klingt nicht ironisch, sondern sehr höflich, „’schuldigung, kann isch mal die Tabasco haben, bitte?“

Ich gebe ihm die Flasche Tabasco, und er sagt: „Danke, ne, und guten Appetit noch, ne. Sie sehen sehr schick aus.“ Die Drei kleckern Tabasco auf ihre Pizzen, dann gehen sie zur Tür. Der Große sagt: „Schüss, ne, und gute Nacht und voll danke, ne“, und die beiden anderen, wie die Chorknaben: „Dankeschön.“

Sie sieht unscheinbar aus, die kleine Pizzabude im Vorort. Aber sie hält viel Schönes bereit.



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