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Tag Zwölf auf La Gomera: Ich kraxelte eine Wand hinauf und schaute hinunter

16. 1. 2020 16 Kommentare Aus der Kategorie »Expeditionen«

Steilwandkraxelei | Die Wanderung hatte im Wanderführer den Untertitel „Durch die Steilwand von Agulo“, und das Wort „Steilwand“ hätte mich nachdenklich machen müssen. Hat es aber nicht, und so stand ich am Vormittag vor der Wand:

Steilwand, davor einige Häuser

Wandern hat ja durchaus etwas lebenspraktisch Philophisches. Denn wenn man vor so einer Steilwand steht, denkt man zunächst: Das geht nicht. Wie soll ich da hochlaufen? Das kann nicht funktionieren. Und wo soll ich überhaupt anfangen?

Dann geht man los, und man sieht plötzlich einen Weg, der die Wand hinaufführt. Man fängt an, den Weg hinaufzugehen, und stellt fest: Geht doch.

Steinweg, Blick hinunter aufs Dorf Agulo

So wie man sich auf den Weg begibt, sieht die Welt plötzlich anders aus. Das, was vorher groß war, ist nun klein, und das, was vorher unerreichbar war, ist nurmehr eine Frage des Durchhaltens. Man sieht Muster und Strukturen, die vorher nicht da waren, die Farben und die Zusammenhänge verändern sich.

Dann geht man höher hinauf, es wird steiler und anstrengender, aber weil man bereits auf dem Weg ist, weiß man: Irgendwie geht’s weiter, bis hierhin habe ich es schließlich auch geschafft.

Steinweg den Berg hinauf

So kraxelte ich die Steilwand hinauf. Mal war der Weg rechts.

Panoramabild, Weg rechts, Blick ins Tal

Mal war der Weg links.

Panoramabild, Weg links, Blick ins Tal

Dann war er wieder rechts.

Panoramabild, Weg rechts, Blick ins Tal

Mal waren Steine aufgestapelt, mal waren es die Felsen, die einen Weg formten, mal waren es kleine Stufen, mal waren es große Schritte, die es brauchte, um hinauf zu kommen.

Zwischendurch begegnete ich Aoenium. Aoenium wächst ab 500 Metern. Da wusste ich: 300 Meter bin ich schon hinaufgekraxelt.

Die Perspektive blieb immer die gleiche. Ich kletterte die Wand hinauf wie auf einer Leiter. Nie war ich weiter links oder weiter rechts vorm Dorf. Immer war ich genau darüber.

So ging das knapp zwei Stunden lang. Dann war ich oben.

Auf der Steilwand, Blick hinab aufs Dorf und aufs Meer

Es ist schon ziemlich cool, nach so einem Aufstieg oben auf der Wand zu stehen. Ich kann das nur jedem empfehlen. Der Wanderführer sagt, man brauche für dieses Erlebnis „Trittsicherheit und Schwindelfreiheit“. Das kann so formulieren; Höhenangst ist bei dieser Tour nicht hilfreich. Ansonsten kann man es einfach machen.

Kurz nach dem Gipfel der Wand erreichte ich den Mirador de Abrante. Das ist ein Skywalk, eine Aussichtsplattform über dem Abgrund.

Skywalk, der über den Abgrund hinaus ragt

Auf dem ersten Bild dieses Beitrags, dem Bild der Wand, sehen Sie den Skywalk in der linken oberen Bildhälfte klein ins Blau hineinragen.

Man kann einfach hineingehen. Die Plattform ist an ein Restaurant angegliedert. Mittags ist dort noch nicht viel los. Auch der Boden des Skywalks ist aus Glas. Das macht es spannend.

Blick durch das Bodenglas des Skywalk in den Abgrund

Ich fand den Weg die Wand hinauf und auch die Aussicht aus der Wand allerdings spannender. Mag auch an meinem persönlichen Einsatz gelegen haben.

Das Angenehme an Touren dieser Art ist, dass ich keine überflüssigen Kapazitäten für Irgendwas habe. Mein Hirn hat schlichtweg nicht genug Sauerstoff, um sich mit Arbeit, Problemen oder Kummer zu beschäftigen. Es produziert nur Gedanken wie „Uff!“, „Oha!“, „Heidenei!“ oder „Ach Gottchen“, und ist ansonsten auf seine Grundfunktionen reduziert.

Nach dem Mirador de Abrante ging ich weiter. Ziel war das Besucherzentrum des Nationalparks. Auch der weitere Weg führte bergan; bei dieser Tour ging es nur hinauf oder hinab, niemals gerade. Die Landschaft änderte sich zu einem roten Erosionsfeld.

Panoramabild: Rote, zerfurchte Erde mit vereinzelten Büschen, ein Weg führt hinauf

Nach dem Erosionsfeld folgte ein Taleinschnitt mit Terassenfeldern, außerdem etwas Wald.

Terassenfelder, daneben ein roter Weg

Dann war ich am Juego de Bolas, dem Zentrum des Nationalparks.

Dort gab es einen Kiosk, in dem eine Frau Getränke und Gofiokekse verkaufte. Gofio ist ein pflanzliches Nahrungsmittel der Altkanarier, wird aus geröstetem Getreide, meist Gerste, gemahlen und mit Ziegenmilch vermischt. Ich kaufte mir einen Keks und eine Cola, und zusammen mit meiner Butterstulle belebte mich beides.

Danach ging es wieder bergab, zurück ins Dorf Agulo.

Blick auf einen flachen, aber hohen Bergrücken

Wenn man eine Wand hinaufkraxelt, freut man sich ja immer schon darauf, dass es hinterher wieder hinuntergeht. Aber runter ist nicht besser. Denn es geht natürlich genauso steil und genauso viel runter wie rauf – und auch genauso lange. Knie und die Beimmuskulatur gründen während des Abstiegs einen Betriebsrat und denken über Warnstreiks nach.

In Schleifen ging es einen Camino hinunter, zum Glück nicht kraxelig. Über dieses kleine Geschenk war ich glücklich. Irgendwann erreichte ich das Meer und das Dorf.

Camino den Hang hinab, rechts eine Steilwand, links das Meer, geradeaus das Dorf

Ich lief über den Friedhof nach Agulo hinein. Das sieht so aus:

Friedhof: Kolumbarien mit Blumengestecken und Namen, im Hintergrund das Dorf

Auf dem Rückweg von Agulo zum Eremitenhäuschen hielt ich mit dem Auto in Vallehermoso, kaufte ein und genehmigte mir das erste Eis des Urlaubs.

Infos zur Tour: Rother Wanderführer Tour 59 oder Wanderführer „Kanarische Inseln – Botanische Wanderungen“ Tour 16 / 9 Kilometer netto, 12,5 Kilometer mit allem Drum und Dran / 700 Höhenmeter / 4 Stunden reine Gehzeit; 5,5 Stunden insgesamt mit Pausen


Inselprofil | Im Besucherzentrum gab es ein Modell der Insel. Ich habe einen schwarzen Punkt gemalt, wo das Eremitenhäuschen ist, in dem ich wohne.

Profilmodell der Insel
Kommentare

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  1. antagonistin sagt:

    Respekt für die Kraxelei. Den Bildern nach hätte ich die völlige Panik und würde sekündlich mit meinem Absturz rechnen. Tolle Aussicht jedenfalls.

    1. Vanessa sagt:

      Bei den Bildern ist es so:

      Gute Nachricht: Der Weg ist in der Realität sicherer, als er aussieht. Schlechte Nachricht: Das Gefälle ist dafür größer, als die Bilder es darstellen.

  2. Thomas Notzon sagt:

    … auch meinen Respekt für die Anstrengung!
    Beim Anblick des gläsernen Skywalks hatte ich allerdings schon ein „Nein, niemals!“ auf den Lippe.
    Nicht für Geld und gute Worte

    1. Vanessa sagt:

      Es hält aber. Ich hab’s ausprobiert.

  3. Nihilistin sagt:

    „Heidenei“. Ü50 ändert sich dieser Monolog übrigens in: „war ich bekloppt?“ „nie wieder“ und „was kostet der Einsatz eines Bergretters?“

    1. Vanessa sagt:

      Mmmh. Naja, „nie wieder“ denke ich zwischendurch auch. Oder zumindest: „Nicht mehr in diesem Urlaub“. Und dann gehe ich doch wieder los.

  4. Holly sagt:

    Ich lese so gerne über deine Ferien und freu mich immer schon auf den nächsten Tag. Alles, was du da tust, ist auch meins. Bin mir nur nicht sicher, ob es mir mit mir allein so lange gefiele.

    1. Vanessa sagt:

      In Dortmund bin auch allein. Dann kann ich auch auf La Gomera allein sein. Hier scheint zumindest die Sonne.

  5. Alexandra sagt:

    Auch ich freue mich sehr, auf diese Weise teilzuhaben an Deinen Ferien – auch, weil sie, genau wie letztes Jahr „Italien“ ganz nach meinem Geschmack sind, ich urlaube ähnlich.

    Ob ich mich auf den Glasboden hinauswagen tät‘, finde ich eine spannende Frage, die ich tatsächlich ohne Ausprobieren nicht beantworten kann …

    Altsprachlicher Klugschiss: Du hast aus dem „Äonium“ ein „Aönium“ gemacht, hehe.

    1. Vanessa sagt:

      Das lassen wir jetzt so.

  6. Kai sagt:

    Vor Jahren bin ich auf Teneriffa ein wenig rumgekraxelt. Ähnliche Wege und auf den Gipfeln (nicht auf den Teide, um Himmels Willen) natürlich nur Deutsche. Mich inklusive. Aber die Aussicht! Die Aussicht!

    1. Vanessa sagt:

      Auf Teneriffa war ich auch schon zweimal, dort lässt es sich auch sehr gut wandern. In der Höhe natürlich nochmal anders. Dafür sind hier die Täler beeindruckender. Alles hat seinen Reiz.

      Ich stieg mal von 1.000 auf 2.000 Meter auf, unterhalb des Teide. Das war sau-anstrengend, vor allen wegen des Windes, der den Berg herabfiel. Nach ganz oben fuhr ich nur mit dem Lift. Dafür braucht’s dann doch gehörige Kondition – und vorher eine Gewöhnung an die Höhe. Ich habe das Weniger an Sauerstoff schon arg gemerkt.

  7. obadoba sagt:

    Die Bilder und die Texte dazu sind großartig. Wir sind 2004 mit dem Rucksack über die Insel gewandert (nach der damaligen ausgabe des Rother-Führers) und waren da auch überall.

    Den Bildern nach sieht das alles noch ganz genauso aus wie damals. Ich freue mich jeden Tag auf den neuesten Eintrag :-)

    1. Vanessa sagt:

      Das freut mich!

      Ich glaube, die Zeit, in der sich viel ändert, ist auch seit ein paar tausend Jahren vorbei.

  8. Rieger Martina sagt:

    Liebe Vanessa,
    kann es sein, das ich Ihnen die botanischen Wanderungen geschickt habe? Wenn ja, freut es mich, dass Sie sie gebrauchen konnten. Nach diesen Fotos Ihrer Wanderung bin ich mir sicher, dass ich NIE durch diese Wand steigen werde (trittsicher, schwindelfrei… äh, nicht mehr). Mir blieb alleine vom Anblick der Bilder die Luft weg. Doch ich freue mich jeden Tag auf Ihren Bericht und genieße die Fotos sehr.
    (Im Moment zeichne ich den spanischen Jakobsweg, falls Sie mal Bedarf an meinem Belegexemplar haben. Ich freue mich wirklich immer, wenn die jemand brauchen kann, anstatt dass sie in meinem Regal verstauben.)
    LG Martina

    1. Vanessa sagt:

      Ja! Vielen Dank nochmal für den Wanderführer! Er hat mich hierhin begleitet, ich benutze ihn in Kombination mit dem normalen Rother. Sehr, sehr prima!

      Jakobsweg … ich bin skeptisch. Weil alle den Jakobsweg laufen. Da muss ich nicht dabei sein. Lieber wohin, wo es nicht so gehyped ist.

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