Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

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Der Chuck Norris der Nachtschattengewächse

28. 11. 2012  •  24 Kommentare

Ruhrgebiet. (nessy) Die männlichste Tomatenpflanze Deutschlands wächst im Ruhrgebiet. Das haben amerikanische Wissenschaftler herausgefunden. Experten sprechen sogar vom „Chuck Norris“ der Nachtschattengewächse.

Auf den ersten Blick sieht er unscheinbar, sogar mitgenommen aus, sein Blattwerk ist zerrupft, das unpaarig gefiederte Laub braun und schlaff. Doch der Eindruck täuscht: Thorsten Zwo, Tomatenpflanze aus dem östlichen Ruhrgebiet, wurde von amerikanischen Wissenschaftlern zum männlichsten Tomatenbaum des Jahres gekürt. Er brillierte in den Kategorien Fruchtreife, Blütenstand, Ausdauer und Wollust mit der vollen Punktzahl 10,0. Gleichzeitig erhielt er eine Sonderehrung für sein Lebenswerk – nicht zuletzt, weil er sich nach einem schweren Unfall im August zurück ans Spalier gekämpft hat.

In einem internen Bericht, der dem Kännchencafé zugespielt wurde, heißt es: „Die Anlage von T2 ist krautig und wirkt zunächst unterdurchschnittlich ausgeprägt, doch bei näherer Rekogniszierung zeigt sich eine beträchtliche Virilität, die Ausdruck findet in einem fein drüsig behaarten Fruchtknoten, einem ausdauernden Blütenstand und aromatischen, zweikammerigen Früchten.“ Ein handschriftlicher Vermerk neben dieser Passage lautet: „Chuck Norris!“

Das Schrifstück ist brisant, denn unter Gemüse herrscht traditionell hoher Konkurrenzdruck. Schon Stecklinge beäugen sich argwöhnisch. Entsprechend hoch ist die Suizidrate, speziell bei Nachtschattenartigen.

Ein Besuch vor Ort zeigt: Die Bewertung der amerikanischen Forscher kommt nicht von ungefähr; Thorsten Zwo wirft auch jetzt, im November, noch Früchte ab. Seine Besitzerin konnte zuletzt am vergangenen Montag eine Handvoll Tomaten ernten. „Sie schmecken sogar noch“, sagt sie. Erstaunlich sei, dass Thorsten Zwo sowohl weiterhin Früchte reifen lasse als auch Blüten produziere – und das, obwohl fast Winter ist.

Thorsten Zwei, November 2012

Thorsten Zwo: „Krautig, aber von beträchtlicher Virilität“.

Der Tomatenbusch soll nun zur Zucht verwendet werden. Thorsten Zwo, so hört man aus Saatgutkreisen, habe ein Angebot aus Spanien vorliegen, um in Andalusien zur Veredelung eingesetzt zu werden. Der Landstrich gilt als die Primera División der Pflanzenauslese.

Von Thorsten selbst war keine Stellungnahme zu bekommen. Der Ausgezeichnete schweigt beharrlich.

Der Rest vom Ruhrgebiet: Dortmund-Hörde

23. 11. 2012  •  14 Kommentare

Nach Essen-West ein weiterer Stadtteil:
Dortmund-Hörde.

Es hat zwar schon jemand über Dortmund-Hörde geschrieben, aber das kann ich so nicht stehen lassen. Denn so ist Hörde nicht. Hörde ist herzlich. Hörde ist freundlich. Doch von vorn.

Der ganze Humor der Ruhrgebiets zeigt sich im Wahrzeichen der kleinen Hörder Innenstadt: der Schlanken Mathilde, einer dreiarmigen Laterne mit Uhr, der Mittelpunkt des Marktplatzes. Namensgeberin ist der Überlieferung nach eine Bürgermeistersfrau, die ziemlich drall war.

In Hörde ist manches nicht so, wie es scheint: Der Stadtteil hatte lange Zeit einen schlechten Ruf, denn Hörde, das sind einfache Arbeiter, das sind Türken und Italiener, das sind die Russen vom Clarenberg, das ist Hoesch, das Stahlwerk, die alte Hermannshütte, die Chinesen ab- und in China wieder aufgebaut haben. Vier Jahre später hat Dortmund an gleicher Stelle ein Loch gegraben, es war ein großes Loch, 2,5 Millionen Kubikmeter Bodenaushub, hat Wasser reingelassen, und heute ist dort ein See. Der See ist recht hübsch, er kräuselt sich gerne im seichten Dortmunder Wind, rundherum wird viel und teuer gebaut, und an sonnigen Sonntagen schiebt die neue Dortmunder Schickeria mit ihren Bugaboo-Kinderwagen in gleichgültiger Eintracht mit den alten, leicht hinkenden Gastarbeitern und ihren in wallende Gewänder gehüllten Frauen das Ufer entlang. Nebeneinander besteigen sie den zu einem künstlichen Hügel aufgetürmten Aushub und blicken versonnen über die reflektierenden Dächer der Autos, die hinter der Lärmschutzwand über die B236 nach Schwerte und Lünen brummen. Doch das ist, wie alles hier, nur eine Seite der Medaille: Drehen sie sich herum, sehen sie die herausgeputzte Hörder Burg, den gesamten Dortmunder Süden bis zum Westfalenstadion und zum Florianturm.

Von Hörde aus ist alles nah: die Vergangenheit und die Zukunft, der Schwerter Wald, der Botanische Garten, die Ruhr und das Stadion, der Westfalenpark mit seinen Lichterfesten, Industriekultur und Schrebergärten, drei Autobahnen und noch mehr Bundesstraßen, Pferdeweiden und die Hohensyburg.

Während sich alles renoviert, bleiben die Menschen, wie sie sind. Sie sind so normal, man möchte Politiker einladen, hier zu wohnen, in den Ghettolemmi zu gehen, den Wochenmarkt zu besuchen, an einem Sommersamstagmorgen zum Frühschoppen im Hörder Treff zu sitzen, sich von Ludmilla die Hose kürzen zu lassen und die Entenfamilie zu besuchen. Hörde ist alles, Hörde ist gestern und heute, war Stahl und Schmutz, ist jetzt mit der Hand fassbarer Wandel und wird die Zukunft sein, eine der möglichen Zukünfte, die es im Ruhrgebiet derzeit gibt.

Das Alte, das Neue, das Normale, die erstarrte Industrie, das erwachende Grün, die Zuversicht und die prollige Herzlichkeit der Menschen – das alles ist das Schöne an Hörde.

Die Mutterkuh

22. 11. 2012  •  40 Kommentare

Frau Barbamolle kommentiert, dass sie ihre erste Bühnenerfahrung als Baum sammelte, ein Einsatz, der leider in keine großen Karriere gemündet habe. Ein guter Anlass, um von meiner ersten Bühnenrolle zu sprechen. Es war im Kindergarten, und ich erinnere mich außerordentlich gut: Ich war die Mutterkuh.

Das Stück handelte vom kleinen Kälbchen Fridolin. Was dem Kälbchen widerfuhr, habe ich vergessen, aber nicht, wer die Hauptrolle bekam: Es war meine Kindergartenkameradin Sonja. Wir spielten recht gerne miteinander, ich besuchte sie oft zu Hause, sie hatte ein fantastisches, von ihrem Vater selbstgezimmertes Holzhaus im Garten, und ihre Familie besaß einen Dackel, für den die Bezeichnung „phlegmatisch“ noch deutlich zu lebhaft ist, der mir aber in tranfunzeliger Ergebenheit zugetan war.

Sonja spielte also die Hauptrolle in unserer Aufführung, und ich sollte ihre Mutter sein. Ich war ein groß gewachsenes Kind, was auch in den Folgejahren dazu führte, dass ich immer die Mutterrollen zugeschustert bekam, oder noch schlimmer: in Ermangelung schauspielinteressierter Jungen männliche Rollen spielen musste, was ich ziemlich daneben fand und mich letztendlich davon abhielt, mich intensiver dem Theater zu widmen.

Neben den Rollen des Fridolins und der Mutterkuh gab es eine Menge Bäume und Sträucher, die nach ausgiebigem Casting ebenfalls besetzt wurden. Letztendlich durfte ich mich glücklich schätzen, dass ich eine Sprechrolle hatte, auch wenn diese sich schlimmer anfühlte, als ein Baum zu sein, denn welchem Erwachsenen auch immer ich stolz von meinem bevorstehenden Auftritt berichtete, er reagierte stets mit einem gewissen Amusement – einer Belustigung, von der ich nicht viel, aber dennoch genug verstand, um sie als Spott zu empfinden. So kam es, dass ich mich während meines Auftritts als Fridolins Mama in Grund und Boden schämte.

Fünfzehn Jahre später spielte ich noch einmal eine Mutter: Frau Bergmann in Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“. Ich selbst hatte meinen Kindergarteneinsatz zu dem Zeitpunkt lange vergessen, wurde aber ziemlich bald nach Besetzung der Rolle mit verwandtschaftlichen Kommentaren daran erinnert: Auf Mutterkuh sei ich wohl gebucht. Danach habe ich das Theaterspiel aufgegeben.

Die Gelbe Wand

19. 11. 2012  •  31 Kommentare

An einem Wochenende Ballett, am anderen das Gegenteil:
Dortmund, Südtribüne.

Westfalenstadion, Südtribüne

Wohlmeinende Menschen hatten mir im Vorfeld Ratschläge gegeben, wie ich den Besuch auf der Süd unbeschadet überstehe. Ich solle mir vorab Bier über den Kopf kippen, denn ich müsse nach der Herde riechen, da seien Fans penibel wie Rehkitzmütter. Zwischendurch „den Mittelfinger nutzen! Das unstreicht jede Aussage! Auch ohne Anlass!“ Wenn mich während des Spiels etwas gelbes Nasses im Nacken träfe, „bete, dass es kalt ist!“

Dann der Tag der Tage, Samstagnachmittag, 14.30 Uhr. Der U-Bahn entstiegen weiß ich nicht recht, wohin. Ich laufe einfach den prolligsten Kuttenträgern hinterher, schon bin ich richtig. Eingang Südost: Die Stimmung ist freudig, die Flaschensammler sind gut im Geschäft, fünf Kerle pinkeln einen Fluss Stift’s Pils gegen einen Zaun.

Von vorne ruft jemand: „Hat hier grad einer ’ne Dauerkarte gefunden?“
„Wie heißt du denn?“
„Block 11?“
„Wie du heißt!“
„Block 11!!“
„Du Vollpfosten!“
Erstes Gerangel.

Drinnen habe ich Block 84 gebucht, oben unterm Dach, die Ultras sind links unter mir und singen sich warm. „Die Südtribüne bebt dazu // der Gegner weggeputzt im Nu!“ Dann die Mannschaftsaufstellung.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=GgV3h-swfMs&w=480&h=270]

Nach drei Minuten fällt das erste Tor, olé, olé, nach vier Minuten das zweite, der Ausgleich. Ich verpasse es, weil ich in der Gegend rumgucke, wer rechnet schließlich mit sowas. Hinter mir steht ein halsloser Gnom in schwarz-gelbem Nachthemd, eine Plauze wie ein Medizinball, das Bier fest an die Brust gepresst. Bei jeder Ballberührung bellt er heiser und hitlerhaft „Schön!“, mit kurzem Ö – das ist sein höchstes Lob, wozu mehr Worte. Kuba im Sechzehner. „Schön!“ Lewandowski zum 2:1. „Schön!“ Vorarbeit Blaszczykowski, „Schön!“,  Götze zum 3:1. „Schön!“

Sein Nachbarn lässt hingegen kein gutes Haar an allem. „Da läuft meine Schwiegermutter ja schneller“, krakeelt er. Die Dame muss mindestens 110 sein, denn er ist weit über 60. „Keiner geht mit! Da muss ma‘ einer mitgehen!“ Er wedelt mit seiner Krücke. „Verdorri noch eins!“ Die Reihe vor ihm duckt sich. Aber sonst: „Schön!“

Vor mir wippt die einzige Frau weit und breit – von mir abgesehen – auf ihren Fußspitzen, und ich muss mich ein bisschen für sie schämen, denn sie sieht heute ein anderes Spiel als der Rest der Tribüne. Mit schriller Kopfstimme ruft sie zufallsgetrieben: „Huch!“, „Ach!“ und „Oh nein!“, man weiß nicht, was sie dazu bewegt, das Geschehen auf dem Platz kann es nicht sein. „Schön!“

Nach dem Spiel gibt es eine „Bratwurst Rote Erde“, dazu ein Bier. Ich treffe Bunke aus der Herrenmannschaft. Er organisiert eine Kanne Kronen und noch eine. Ich bin bald ziemlich betrunken, aber was soll’s. Bunkes Tante ist heute zum ersten Mal im Stadion. Sie kommt aus Unna und muss wieder weg, muss beim Abendessen daheim sein, das hat sie ihrem Gatten versprochen.
„… und ich fahre dann zur Landgrafenstraße?“
„Markgrafenstraße, Tante Monika, nicht verwechseln.“
„Alles klar, also in die U-Bahn und dann Landgrafenstraße.“
„Markgrafenstraße!“
„Sag ich doch.“
Wir haben nichts mehr von ihr gehört.

Wir hängen noch ein bisschen rum, bis uns zu kalt wird, dann mache ich mich auf den Heimweg. „Schön!“

Der Rest vom Ruhrgebiet: Die Essener Weststadt

16. 11. 2012  •  45 Kommentare

Es begann alles in Hamburg.

Herr Buddenbohm schrieb über Hamburg, natürlich über Sankt Georg, worüber auch sonst, dort wohnt er schließlich. Danach hat er andere Leute dazu gebracht, über einen Hamburger Stadtteil zu schreiben. Frau  Anne findet, das sollte nicht auf Hamburg beschränkt sein; das schaffen wir für das Rubrgebiet auch. Ich schließe mich ihr an und schreibe über die Essener Weststadt. Wer mitmachen will, ob als Gastblogger oder auf seinem eigenen Blog, der melde sich bitte bei Frau Anne – sie sammelt das ein.

Die Weststadt, ein Niemandsland

Gebäude. Geäst. Essen-West.

Die Weststadt ist ein Niemandsland.

Eingekeilt zwischen einer der freudlosesten Universitäten des Landes und Deutschlands einzigem Innenstadt-Ikea auf der einen Seite, einer Bahntrasse, der Autobahnauffahrt nach Mülheim und dem Gebäude-Koloss des größten deutschen Regionalzeitungsverlags auf der anderen Seite ist sie selbst: nichts. Nicht Frohnhausen und nicht Holsterhausen, nicht Innenstadt und schon gar nicht Rüttenscheid, kein Stadtteil im eigentlichen Sinne, alles grenzt nur an. Die Essener Weststadt ist eine Ansammlung von Brachflächen, Elektronikmärkten und Möbelhäusern, kleinen Gewerbetreibenden und, ach ja, da war doch noch was, dem Collosseum, der ehemaligen Kruppschen Werkstadthalle, die bis 2010 monumentale Musicalstätte war und die man jetzt mieten kann. Zwischen all dem gibt es ein paar Wohnhäuser und zwischen all dem habe ich fünf Jahre meines Lebens gelebt.

Als ich hinzog, sagte die Torfrau, dass viele ihrer Kunden von dort wech kämen. Sie arbeitet in einem Kinderheim, einer Inobhutnahmestelle, dort, wo die Kinder zuerst stranden, wenn es in der Familie nicht mehr geht. Tatsächlich zog mir gegenüber bald die Ketchup-Familie ein, Stammgäste des Kännchen-Cafés kennen sie noch, eine Mutter mit ihren vier Kindern, der Vatta im Knast, so wusste es der Oberinspektor zu berichten. Drei Straßen weiter befindet sich auch heute noch die Essener Suchthhilfe, ausgerechnet in der Hoffnungsstraße.

Trotz aller Gegenargumente habe ich gerne dort gewohnt, denn die Weststadt ist zwar nichts, sie ist aber nah bei, nah an der Innenstadt, nah am Hauptbahnhof und nah an Rüttenscheid, diesem Prenzlauer Berg Essens – nun ja, so ungefähr. Nachts hörte ich von der einen Seite das Feuewerk, das die Musicalbesucher verabschiedete. In all den Jahren habe ich es nie gesehen, immer nur das Knallen und Knistern der Feuerwerkskörper gehört, ein Autohaus versperrte den Blick. Auf der anderen Seite erklang die Bahntrasse zum Hauptbahnhof, das Rattern und Klappern von Waggons in der Nacht, das Hupen von Lokomotiven, schwere Güterzüge. Dazu das unterschwellige Rauschen der A40, dieser Schlagader, die im Ruhrgebiet alles am Leben erhält und sich, chronisch verstopft, seit Jahrzehnten vorm Infarkt befindet. Es waren fast poetische Geräusche, leise hallend und vom Mond beschienen, die Geräusche einer Großstadt, der ehemaligen Schwerindustriestadt, Stadt der Konzernzentralen.

Essen-West, verschneit

Eine Enklave.

Ich lebte also im Niemandsland, aber wir haben auf uns achtgegeben, der Unterinspektor, der Mann mit dem kleinen, weißen Hund, der papierdünne Opa und ich – und alle gemeinsam haben wir nach dem Oberinspektor gesehen, der nach dem Tod seiner Frau zu vergehen drohte wie eine welke Tulpe; und nach der Ketchup-Familie, damit den Jungen nichts Böses widerfuhr, etwas, das ich der Torfrau hätte erzählen müssen, so dass die Ketchupkinder in ihre Obhut kommen. In der Weststadt lebte auch Angela, eine Frau mit Tetraspastik, deren Rollstuhl einen kleinen Elektromotor hatte, dessen Batterie immer nur für den Hinweg ausreichte. Ich traf sie stets, aus der Innenstadt kommend, auf der Alfred-Herrhausen-Brücke, ihre Hände drückten gegen die Räder, zitterten vor Anstrengung. „Die Batterie ist alle, nie reicht die Batterie“, sagte sie jedesmal, und ich schob sie nach Hause. Nicht ein Mal erkannte sie mich bei diesen zahlreichen  Begegnungen wieder, und so stellten wir uns stets von Neuem vor, während ich sie in ihre winzige Wohnung fuhr.

Irgendwann wurde neben den City-Ikea, in den ich für Teelichter immer zu Fuß ging, ein Shoppingtempel gebaut – mit 70.000 Quadratmetern eines der größten innerstädtischen Einkaufzentren Europas, etwas, das sonst nur auf der grünen Wiese entsteht. Aber Essen hat keine freien Wiesen, Essen ist voll, deshalb wurde erst etwas abgerissen und dann dieses riesige Rund, ein Ufo mit bunten Lichtkugeln, mitten in die Stadt gesetzt – mit Kraft, Lärm und Gewalt, so geht’s im Ruhrgebiet, auch wenn Stahl und Kohle nicht mehr hier zu Hause sind.

Mit dem Einkaufszentrum gab es plötzlich einen Bäcker in meiner Nähe – nicht nur einen, sondern gleich mehrere, wie das in einem Einkaufsparadies so ist, und ich konnte Samstagsmorgens dort hingehen und Brötchen holen. Wenn ich dann mit wirrem Haar und in Schlumperhose zwischen all den angestrengten Shoppingwütigen stand, war ich ganz Weststadt: irgendwie unsichtbar, irgendwie nicht schön, aber trotzdem da.

Neben das Ufo und die ehemalige Krupphalle Collosseum, auf das Areal eines Güterbahnhofs, wird seit meinem Fortzug eine neue Stadt gebaut. Die Planer nennen sie die „grüne Mitte Essens„, ein kleines Venedig mit Kanälen und teuren Eigentumswohnungen, ein Universitätsviertel, in dem keine Studenten wohnen werden. Das Niemandsland wird Hippsterland.

Als ich vor einigen Monaten wieder einmal in Essen war, ging ich auch durch die Weststadt – und habe natürlich den Oberinspektor getroffen. Es geht ihm gut.  Er war zuletzt sogar in Italien im Urlaub, ohne seine Frau, mit einer Busgesellschaft, das sei sehr traurig gewesen, aber auch schön. Er habe seine Lebensliebe im Herzen mitgenommen, sagte er, so sei es fast gewesen wie zu Zweit.

[Ergänzung von Elizabeth]

Ballett aus Sicht der zuschauenden Handballerin

10. 11. 2012  •  46 Kommentare

Das Patenkind tanzt alsbald Ballett.

Genau genommen tanzt die Patentochter das ganze Jahr über Ballett, aber dieser Tage findet eine große Aufführung statt: Ihr Ballettstudio gibt den „Nussknacker“, und sie wird auf der Bühne stehen.

Es ist nicht das erste Mal für sie. Seit Jahren schon führt das Ballettstudio in der Weihnachtszeit den Nussknacker auf – das Stück bietet ausreichend Rollen für ganze Horden von Kindern, die Kleinen tanzen die Mäuse und die Zinnsoldaten, die Großen sind Mascha, der Mäusekönig und Drosselbart. Wer als Maus anfängt, macht später den arabischen Tanz und ist am Ende eine Schneeflocke. Oder tanzt die Hauptrolle.

Für die Zuschauer ist das Prozedere über die Jahre freilich etwas ermüdend, denn wie gesagt: Es wird jeden November das gleiche Stück aufgeführt. Das Herzenskind hat zwar stets eine andere Rolle, jedesmal eine wichtigere Rolle; angefangen hat es als Maus, es trug eine Mausemaske und war von den anderen Bühnen-Mäusen nur vage zu unterscheiden (die kundige Patentanten hatte gleichwohl kein Problem); zuletzt hat es gar Spitze getanzt, aber es lässt sich nicht leugnen, dass auch bei der fünften und sechsten Darbietung der Nussknacker der Nussknacker bleibt – ein Stück, das in seiner gesamten Länge durchaus zweieinhalb Stunden einnimmt, der Saal ist dunkel, zwei schmackhafte Stücke Kuchen von Opa Konni machen es sich verdaulich gemütlich im eigenen Innenraum, eine behagliche Schwere senkt sich auf den Körper – Sie können die Problematik vielleicht erahnen.

Als Handballerin ist mir das sportliche Ziel des Balletts überdies zu diffus. Wer am Ende die Partie gewinnt, ist reine Interpretationssache, überhaupt bin ich mehr für aggressiven Vollkontaktsport, das macht auch als Zuschauer mehr Spaß, man kann dasitzen und pöbeln, aufstampfen, gestikulieren, Foulspiel reklamieren und vor sich hin granteln: Es geht zur Sache, nicht nur auf dem Feld. Während der letzten Male Nussknacker war ich versucht aufzuspringen und Dinge zu rufen wie:

„Schritte! Das war ganz klar ein Schrittfehler!“
„Zeitspiel! Die Soldaten wollen doch gar nicht!“
„Das ist Passiv! Passiiiiv!“
„Ey!! Foul! Er hat sie durch die Luft geschleudert!“
„Das ist Rot! ROOOT!!“
„Die dreht sich doch nicht von alleine! Der hat geschubst!“
„Wo ist eigentlich der Schiri? Schiriiii!“

Bis anhin hatte ich mich im Griff, doch ich weiß nicht, wie lange ich die Contenance noch werde wahren können oder ob es dieses Jahr plötzlich aus mir herausbrechen wird, ob ich nicht spontan aufspringe, auf den Fingern pfeife und raumgreifend pöble, allein schon, um ein bisschen Schwung ins akurat gekämmte, wenngleich apathische Auditorium zu bringen. Überhaupt, wo sind eigentlich die Mettbrötchen, gibt’s keinen Fressstand im Foyer? Wieso riecht’s nicht nach Bier und Frikadelle? Warum trage ich als einzige ’nen Jogger?

Aber das Patenkind, das wird natürlich der Matchwinner sein. Falls nicht, dann wurde ihm übel mitgespielt, das steht jetzt schon fest. Schiri, ich weiß, wo dein Auto steht.

Urlaubslektüre

7. 11. 2012  •  37 Kommentare

Bücher Oktober 2012:

Bücher Oktober 2012 (Bücherstapel mit Hund)

Nicolas Barreau: Das Lächeln der Frauen.
Ein Frauen-Kitsch-Roman der übelsten Sorte: flache Handlung, flache Charaktere, flacher Schreibstil. Der Inhalt in Kürze: Frau entdeckt ein Buch, in dem sie vorkommt. Ist verzückt. Will den Autor treffen und lieben. Trifft stattdessen auf seinen Lektor, der allerdings in Wahrheit der Autor ist. Ab Seite 20 dachte ich: „Alta, hast du keine Eier in der Hose, oder was? Sag ihr doch einfach, was los ist!“ Ich musste aber bis Seite 320 warten. Dazwischen: Geblubber.

Alex Capus. Léon und Louise.
Die Geschichte einer Jugendliebe, die verloren geht, sich wieder findet, nicht sein darf, sich wieder verliert, sich wieder findet. Kein besonders tiefgründiger Roman, aber durch und durch nett, gut zu lesen, nicht anspruchsvoll, aber dennoch schön geschrieben. Ich habe das Buch in einem Tag am Pool gelesen. Rundum prima.

Chad Harbach. Die Kunst des Feldspiels. 
Ein Buch über Baseball, übers Erwachsenwerden, übers Versagen, übers Zu-sich-Stehen, irgendwie über alles, nun ja, vielleicht nicht alles, aber immerhin vieles, was das Menschsein ausmacht. Ein großer Roman, perfekt komponiert, mit ausreichend Nähe und Distanz zu den Figuren. Er verknüpft das Leben von fünf Personen: Henry, dem jungen Baseballspieler, seinem Zimmergenossen Owen („Ich bin dein schwuler Mulattenmitbewohner“), Henrys Mentor Mike, dem College-Rektor Affenlight und dessen Tochter Pella. Absolut lesenswert.

Haruki Murakami. Naokos Lächeln.
Toru lernt Naoko kennen, aber Naoko kann keine Nähe zulassen, hat psychische Probleme. Toru lernt auch Midori kennen, die temperamentvolle Studentin, das Gegenteil von Naoko. Und doch zieht ihn alles zu Naoko. Aber auch ein bisschen was zu Midori. Der Roman ist still, aber stimmungsvoll. Die Charaktere bleiben angenehm im Vagen, es gibt viel Raum zur eigenen Interpretation. Das gefällt mir. Die Erzählung gleitet leider ein bisschen ins Pubertär-Pornöse ab. Es fehlt an Tiefe. Aber im Großen und Ganzen ist sie gut, kann man lesen. Ich werde es auf jedenfalls noch ein zweites Mal mit Murakami probieren.

Thomas Pletzinger. Gentlemen. Wir leben am Abgrund.
Absolut spannend: eine Saison mit dem Basketball-Bundesligisten Alba Berlin. Sie ist nicht unbedingt besonders abwechslungsreich, und auch Pletzingers Schreibe reißt nicht vom Hocker, aber etwas an dem Buch hat mich gefesselt. Vielleicht ist es die totale Subjektivität, mit der Pletzinger berichtet, die Nähe, die Authentizität. Vielleicht der einzigartige, intime Einblick in die Mannschaft und in die Mechanismen des Profi-Sports. Wie auch immer: ein gutes Buch.

Siba Shakib. Eskandar.
Die Geschichte des Irans, erzählt an der Geschichte des Lebens von Eskandar, einem Jungen aus einem Dorf im Südiran. Er erlebt die Entdeckung des Erdöls, die erste Ölförderung, die wirtschaftliche Okkupation durch die Briten, Militärputsch, die erzwungene  Säkularisierung des Landes, den Zweiten Weltkrieg, Mossadegh und den Angriff des Irak. Knapp 600 Seiten, nie langweilig erzählt, keine trockene Abhandlung, sondern ein lebendiges Buch, das hilft, Einiges zu verstehen, was Iraner bewegt.

Vom Fliegen

5. 11. 2012  •  59 Kommentare

Ich fliege durchaus gerne mit dem Flugzeug.

Wie die Erde beim Starten kleiner wird, wie wir durch die Wolken stoßen, wie wir der Sonne entgegen fliegen, wie wir auf die Erde hinabschauen können und plötzlich alles unbedeutend wird – das ist toll.

Natürlich ist es immer etwas eng im Flieger, besonders für Menschen über einsachtzig und solche, die keine Sitzriesen, sondern Stehriesen sind, also lange Beine haben. So wie ich. In den vergangenen Jahren ging das alles. Ich konnte meine Beine unter den Vordersitz schieben oder unter dem eigenen Sitz zusammenklappen. Der Vordermann konnte sogar noch seine Rückenlehne neigen. Es passte.

Seit meinen vergangenen Flügen deucht mir aber, dass die Sitzreihen immer enger werden. Bei meinen Flügen mit sunexpress und air berlin passte ich – und das ist keine Übertreibung – nicht in den Sitz (bei Germania übrigens schon). Selbst vollkommen aufrecht, mit dem Hintern fest an der Rückenlehne, drückten meine Knie dem Vordermann so sehr ins Kreuz, dass er sich zu mir herumdrehte und wütend darum bat, ich möge mich doch bitte „vernünftig hinsetzen“ und mich „aus seinem Rücken entfernen“. Ich selbst hatte nach kurzer Zeit das Gefühl, als säße ein Elefant auf meinen Kniescheiben.

Ich saß am Gang, also stellte ich das rechte Bein in selbigen und klappte das linke irgendwie darunter – mit dem Ergebnis, dass ein Bein und zwei Füße als Fleisch gewordene Poller den Weg der Saft-Wägelchen blockierten, mein Rücken völlig verdreht war und ich meine Flunken nicht immer binnen Sekundenbruchteilen einfahren konnte, wenn Getränke, pappige Sandwiches, Duty-Free-Zeug oder sonstwas angefahren kamen. Dem Herrn schräg hinter mir ging es genauso, wir bildeten eine natürliche Barriere. Die Flugbegleiterinnen wurden mit zunehmender Flugdauer immer ungehaltener, staksten wie Störche durch unsere herumliegenden Gliedmaßen und rammten uns ihre Wagen in Hacken und Zehen.

Nun bin ich als Bahnfahrerin mit einem geradezu stoischen Gleichmut sowie einer, auf einem sonnigen Gemüt gründeten Besonnenheit gesegnet. Bei derartigen Konstruktionen packt mich jedoch die Wut. Wie kann es bitteschön sein, dass es Fluggesellschaften um des Profits willen erlaubt ist, ihre Maschinen derart mit Sitzreihen vollzupacken, dass es Reisenden nicht mehr möglich ist, das zu tun, was sie bezahlt haben: zu reisen, sitzend. Gibt es für diese Sitzkonstruktion eigentlich eine Norm – und wer hat die gemacht? Zwerg Nase?

Lieblingstweets im Oktober

1. 11. 2012  •  13 Kommentare

Wegen Offline-Urlaubs mit einer kleinen Lücke zwischendrin.

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