Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Von Haltern am See nach Stuttgart

6. 10. 2023 5 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Der Weg nach Stuttgart | Obwohl ich nach Süden muss, fahre ich erst nach Norden. In Duisburg wird gebaut. Die Bahn fährt Umwege oder gar nicht, deshalb muss ich erst nach Münster, wenn ich nach Stuttgart will. Ich stehe am Bahnhof im Dorf und warte auf den Zug. Gerade habe ich mich von den Schweinen verabschiedet. Sie werden zweieinhalb Wochen ohne mich verbringen, bekümmert von den Schwiegereltern. Für einen Tag reise ich zum Kunden, von dort aus weiter nach Südtirol, Urlaub.

Der Zug kommt pünktlich. Regionalbahngeruch, aber in dezent. Es ist Mittag, der Waggon fast leer. Dülmen, Buldern, Appelhülsen, Bösensell. Endstation Münster, bitte aussteigen.

Münsters Bahnhof zeigt sich als Symbol des heraufziehenden, aber immer noch zu warmen Herbstes. Menschen in Stiefeln, Brauntönen und Daunenjacken mischen sich mit kurzhosigen Herren und Damen in Sommerkleidern. Eine Frau mit ausladendem Rock führt ihre Hausschuhe aus: goldene Schlappen mit fedrigen Puscheln, eine Anmutung von Derrick, die Füße nackt.

Die Anzeigetafel im Foyer zeigt alles an, was das Sortiment hergibt: Gleiswechsel, Verspätungen, umgekehrte Wagenreihungen. Die Zeugen Jehovas lächeln dagegen an. Sie haben sich unter der Anzeige platziert, neben dem Ticketautomaten, strategisch günstig, sollte man meinen. Doch in Zeiten von Bahn-App und Deutschlandticket lässt die Laufkundschaft zu wünschen übrig. Auf dem Handkarren der Zeugen steht, über den Zeitschriften: „Was ist Gottes Reich?“ Ich verstehe die Frage nicht. Was soll das heißen: Was ist Gottes Reich? Wo ist Gottes Reich, ja, das kann man sich fragen – aber was? Vielleicht wollen sie darüber ins Gespräch kommen, dass auch diese Bahnhofshalle Gottes Reich ist, ein Reich zwischen Yormas, Presse & Buch und dem Sanifair-Zwilling rail & fresh. Aber impliziert die Frage nicht, dass Gottes Reich irgendwo aufhört? Wenn es ein Was gibt, gibt es auch nicht Nicht-Was, gibt es auch die Frage: Was ist nicht Gottes Reich? Widerspricht das nicht dem Glauben des allgegenwärtigen Gottes? Ich bin versucht, die zwei Zeugen in genau diese Gedanken zu verwickeln. Ich habe 45 Minuten Aufenthalt, das ließe sich gut an. Aber ich entscheide mich dagegen und für den amerikanischen Kaffeeausschank, dort für einen Reisefrappuccino. 

Ich sitze schon im Zug, während ich diesen Text tippe. Immer, wenn ich „Gottes Reich“ tippe, macht mein Handy daraus „Gittes Reich“. Gittes Reich, wie die Schallplattensammlung meiner Mutter: Gitte Henning, was ist aus der eigentlich geworden? Ich schaue nach und ja, sie lebt noch. Sie ist heuer 77 Jahre alt, und ich bin erstaunt: War sie nicht in meiner Kindheit schon mindestens 60, oder fühlte sich das nur so an, aus der Perspektive des Kindes? Ich lese, dass sie in Aarhus geboren ist. Aarhus, auch so ein Reiseziel, das ich bald besuchen werde, in der ersten Januarwoche. Ich freue mich schon. Ich bin schon mehrmals im Januar verreist, meist allerdings nach Süden. Diesmal wird es Norden, wie damals nach Danzig, wo es erst um 9 Uhr hell und um 15 Uhr schon wieder dunkel wurde. Ich schlief damals viel, es war ein erholsamer Urlaub. Zum Nachmittag hin, wenn es dämmerte, trank ich eine heiße Zitrone mit Danziger Goldwasser, diesem Gewürzlikor mit Blattgoldflocken und 40 Volumenprozent Alkohol. Ich lernte die Mischung sehr schätzen. Während es draußen minus 14 Grad hatte, der Fluss zufror und dünner Schnee durch die historische Hanse-Kulisse wirbelte, saß ich in einem Kaffeehaus und speiste Teigwaren, während das Zitronengoldwasser meine Seele wärmte.

Im Zug eine Frau in Jeans und herbstlichem Mantel, an den Füßen nur Flip Flops. Sie steigt am Frankfurter Flughafen aus. Wo sie wohl hinfliegt? Sicherlich in ein Land, in dem leichte Fußbekleidung angeraten ist. Oder hatte sie nur eine Hammerzeh-OP und fliegt nach Kamtschatka? Ihr gegenüber zwei Herren, die fortwährend Bier trinken und Snickers essen, ein Riegel nach dem anderen, eine Flasche nach der nächsten. Auf ihren Köpfen prangen Zöpfe aus dünnen Haaren, um ihre Ohren und am Hinterkopf ist alles abrasiert. Auch sie steigen in Frankfurt aus. Neben mir ein Geschäftsmann im Anzug mit feinem Schuhwerk, hellbraunes Leder, die Schnürsenkel gewachst; es sind Senkel von der Sorte, die immer aufgehen, zum ungünstigsten Zeitunkt schlappen sie plötzlich um den Fuß herum. Während man mit dem Koffer durchs Bahnhofgedränge schiebt oder gerade zwei Becher trägt, flutschen sie aus der Schleife; man ist zur Doppelschleife gezwungen, damit das nicht geschieht, wie ein Sechsjähriger. Auch der Geschäftsmann trägt Doppelschleife, und er spielt ein Spiel auf dem Handy, Jump‘n‘Run, muss Geldstücke einsammeln. Er macht das gut, sehr routiniert.

Ich packe mein Brötchen aus: ein Kartoffelbrötchen mit Camembert und Marmelade, zu Hause geschmiert und in Butterbrotpapier verstaut. Die eigenen Stullen sind immer noch die besten. Ich höre Tatort Ostsee, die ersten drei Folgen einer Investigativrecherche zur Sprengung der Nord-Stream-Pipelines. 

Signalstörung im Raum Biblis. Wir bleiben immer wieder stehen, fahren Verspätung ein. Ich blicke in Gärten mit Apfelbäumen, an denen rot und schwer die Früchte hängen. Auf einzelnen Feldern steht noch Korn. Nebenan auf der Landstraße staut sich der Verkehr. 

Wir holen die Verspätung wieder auf und erreichen Stuttgart fast pünktlich. In Stuttgart das gleiche Bild wie in Münster, nur vereint in einer Person: Ein Mann, Kopf und Füße nackt, oben Glatze, unten Sandalen, dazwischen eine Daunenjacke. Auf dem Bahnsteig steht ein Mann im Hasenkostüm, er kann mit dem Schwanz wackeln. Ich googele später, wie man den Schwanz eines Hasen nennt; „Blume“, heißt er, das war mir entfallen. Ich begebe mich auf den Fernwanderweg 21, die hölzerne Allee ums Banhofsbauloch. Ein Junge hält sich an seinem leeren Kinderwagen fest und brüllt mir zu: „Wie schön, dass wir beisammen sind! Wir gratulieren dir, Geburtstagskind!“

Ich fahre mit der S-Bahn bis Feuersee und laufe den Rest zum Hotel. Es geht den Hügel hinauf und den Hügel wieder hinab. Ich hatte vergessen, wie wellig es hier ist.

Auf dem Weg liegen viele Stolpersteine: Manfred und Alice Straus und Sophie Fellheimer. Die Steine liegen vor einem Fabrikgebäude. Das ist ungewöhnlich, ich schlage später nach. Einige Meter weiter Sigmunde Friedmann, direkt daneben Karl-Bernhard Rothschild. Ich gehe die Treppe hinunter und treffe Paul, Wilhelm und Anny Kohn. Man muss sie alle sehen, diese vielen Stolpersteine. Das ist gut so.


Gelesen | Im Zug und im Hotel las ich wunderbares Buch. Ich habe es vor einigen Wochen auf dem Flohmarkt eines Supermarktes gefunden und für zwei Euro mitgenommen. Ursula März erzählt das Leben ihrer Tante Martl, feinfühlig und in einer poetischen Sprache. Es ist das Leben einer Frau, die als Lehrerin arbeitete, ihre Eltern versorgte und zeitlebens ohne Partner:in blieb. Ein zauberhaftes Portrait einer Frau und gleichzeitiger einer ganzen Generation. Das beste Buch seit langem. Große Empfehlung.

Gelesen | Christa Anita Brück: Ein Mädchen mit Prokura. Geschrieben in den 1930er Jahren, es spielt auch in den denselben. Erzählt wird die Geschichte von Thea Iken, die als Bankangestellte und rechte Hand des Chefs unter der Beobachtung der Männer steht. Als die Weltwirtschaftskrise auch das Bankhaus erfasst und jemand stirbt, gerät sie in Verdacht. Auch ein prima Buch, wenngleich nicht so nahbar wie Tante Martl. Aber ein interessantes Zeitdokument.


Neues Angebot | Das Seminar, das Katja King und ich in Chemnitz gegeben haben, steht nun auch auf meiner Website: Mit schwierigen Persönlichkeiten professionell umgehen und die eigene Gestaltungsmacht ausbauen. Wir sind käuflich und kommen gerne zu Euch in die Organisation.

Experiment | Für Frühjahr plane ich gemeinsam mit einer anderen Kollegin, Katharina Hermanns, ein Angebot speziell für Frauen mit Kindern: Stark durch den Alltag – ein Seminar für Mütter. Gemeinsam wollen wir Mütter stärken, die zwischen Beruf und Kindern jonglieren, die entkräftet sind von der Rolle als Familienmanagerin und ihre Denkmuster und Routinen hinterfragen möchten.

Der Preis für den Tag steht noch nicht fest – und der genaue Ort auch noch nicht. Ich werde in meiner Umgebung im Raum Dortmund/Münsterland anfragen. Ich würde gerne erstmal abschätzen, ob überhaupt Interesse besteht.

Das Angebot ist auch zur Vernetzung gedacht. Gerne können wir nach dem Programm den Abend gemeinsam verbringen (das wäre dann nicht mehr in der Leistung inkludiert, aber vielleicht sehr stärkend und unterhaltsam). Bei Interesse freue ich mich über eine E-Mail oder eine Interessensbekundung über die Seminarseite.


Schweinebild aus dem Archiv | Beim Snacken:

Kommentare

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  1. Nadine sagt:

    Die Frau in den Gold-Puschen erinnert mich an die Berliner Dame, die uns mal in einem privat geführten kleinen Hotel empfing: Mutter des Besitzers, alt, aber stark geschminkt, begrüßte uns in einem Morgenmantel und ebensolchen Gold-Schlappen mit Puscheln. Sie war ganz zauberhaft. Lustig fanden wir vor allem, dass sie scheinbar nicht wirklich aus ihrem Kiez rauskommt/raus kommen will. Das Hotel war in Neukölln und wir waren für ein Konzert in der Berliner Wulheide da, das ist ca. 1/2h mit Bus/Bahn entfernt und sie meinte, dass sie da ja noch nie war und stimmt ja, da gibt es auch Straßenbahnen. Da haben wir gelernt, dass es in Berlin Straßenbahnen nur im ehemaligen Ostteil der Stadt gibt

  2. Ich bin neugierig, wie das Goldwasser schmeckt. Ansonsten fällt mir dazu noch ein, dass Gold einfach unverdaut wieder ausgeschieden wird.

    Die Stolpersteine finde ich auch sehr wichtig. Sogar in dem kleinen Dorf, in dem ich lebe, gibt es so einige.

  3. Simon H. sagt:

    Aarhus ist eine sehr schöne Stadt, kann vor allem das Freilichtmuseum sowie das Moosgard-Wikingermuseum empfehlen. Letzteres ein echtes Highlight der Museumspädagogik, toll genutzte nfc-Technik um mit einem Holzschwert o.ä. jeweils einer von Reenactment-Darstellern gezeigten Lebensgeschichte nachfolgen zu können. Und vor allem alle 10min ein Platz zum verweilen und sitzen, so lässt es sich aushalten. Noch nie so erholt aus einem Museum gekommen! Drumherum dann ein Pausenbereich mit Sofas, Aussicht und Lesematerial, 10 von 5 Sternen.

  4. Marion Kauderer sagt:

    In Stuttgart am ehemalige Nordbahnhof ist eine Gedenkstätte für die deportierten Juden. Da sind alle Namen eingetragen und die Gleise enden hier. Dort zu stehen schnürt einem die Kehle zu.

  5. Susanne Kaiser sagt:

    Regionalbahngeruch! Das Wort triggert Memorys! Bin von 1998 bis 2021 beruflich zwischen Essen und Hagen mit der Regionalbahn gependelt. Zuerst noch mit den „Silberlingen“: alte Waggons der Bundesbahn mit Abteilen und Postersesseln darin, die rochen muffig-feucht. Danach kam Abellio mit brandneuen Zügen. Die rochen wie neue Autos, hatten eine funktionierende Klimaanlage und Licht, später auch W-lan. Nach dem Abellio-Rückzug kamen die roten Regionalbahnen der Bahn, die leider nicht so toll nach defekten Toiletten rochen.
    Viele Bahngeschichten, die ich hier lese lassen mich mitleiden und schmunzeln. Aber man erlebt immer was!!

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