Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Klugscheißen mit Bienenstich und Erhellendes aus der Soziologie

7. 7. 2023 11 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Erhellend | Ich habe ein sehr gutes Buch gelesen. Ein optimistisches Buch. Ich habe jetzt wirklich gute Laune. Denn das Buch hat mir geholfen, Einiges zu verstehen.

Das Buch heißt Das Intergrations-Paradox und ist von Aladin El-Mafaalani. Aladin El-Mafaalani ist Soziologe, hat Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Pädagogik und Arbeitswissenschaft studiert und ist jetzt Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft. Also ein wirklich schlauer Mensch, was man allerdings weniger an seinen Titeln erkennt, sondern daran, dass er das, was er erforscht, gut erklären kann. Denn es ist wirklich komplex.

Die Hauptthese im Intergrationspradox ist: Weil die Integration in Deutschland so gut gelungen ist, gibt es mehr Konflikte. Aladin El-Mafaalani nimmt dafür das Bild eines Tisches. Die ersten Gastarbeiter saßen noch am Katzentisch. Die zweite Generation saß mit am Tisch und durfte auch vom Kuchen essen. Die dritte Generation möchte nun nicht nur den gleichen Kuchen essen, sondern sie möchten auch mitbestimmen, was gebacken wird und welche Regeln bei Tisch gelten.

An den gemeinsamen Tisch haben sich im Laufe der Zeit nicht nur für Migrantinnen und Migranten gesetzt, sondern auch für Frauen, schwule und lesbische Menschen, Transpersonen und Menschen mit Behinderung.

Im Gespräch mit Thilo Jung von „Jung & Naiv“ sagt Aladin El-Mafaalani: Dies sei der Grund, warum sich in allen europäischen Ländern die Sozialdemokratie so schwer tue, warum also die SPD seit vielen Jahren eine solch schlechte politische Leistung abliefert. Es gehe nicht mehr um Verteilungsfragen – eine Frage, die zum Gründungsmythos der SPD gehört und auf die ihre ganze Story aufbaut; es gehe nicht darum, wie der Kuchen aufgeteilt wird, sondern darum, was wir backen. Deshalb wirkt die SPD so strategielos und paralysiert.

Aber zurück zur Integration. El-Mafaalani sagt: Wir haben in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten so viel geschafft wie kaum eine andere Nation. Die Entwicklung in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, Integration von Migrant:innen unterschiedlichster Herkunft – Deutschland ist nach den USA das beliebteste Einwanderungsland – , Beteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, Ehe für alle, Rechte für Transmenschen, Inklusion von Menschen mit Behinderung – und eine Wiedervereinigung. Natürlich: Überall gibt es noch Luft nach oben. Aber wenn man sich allein die Zeit seit 1978 anschaut, meines und El-Mafaalanis Geburtsjahr, hat sich unheimlich viel getan. Ich selbst bin in einer westdeutschen Kleinstadt-Wirklichkeit aufgwachsen, in der die Frauen mehrheitlich zu Hause waren, ich bin in eine Halbtagsschule gegangen, in meiner Gynmasialklasse gab es keine Ausländer, Homosexualität war in meiner Kindheit und Jugend nicht existent, Transsexualität schon gar nicht, und wenn man eine Behinderung hatte, ging man auf die Sonderschule. Wir vergessen zu sehr, was wir alles schon erreicht haben, wenn wir auf die heutigen Defizite schauen.

Die Gesellschaft ist also offener geworden, viel offener. Gleichzeitig wird es enger und kuscheliger: Mehr Leute wollen mit an den Tisch. Deshalb ändert sich auch die Sprache, die wir sprechen, denn die Regeln bei Tisch werden neu verhandelt.

Man kann ja mal überlegen, ob es möglich wäre, sich zu Tisch mit „Krüppel“, „Schlitzauge“, „Weib“, „Schwuchtel“, „Ausländer“ oder „Neger“ auf Augenhöhe anzusprechen. An einem Tisch teilen die Menschen eine gemeinsame Sprache, und durch Teilhabe verändert sich die Sprache.

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox. Warum gelingene Integration zu mehr Konflikten führt. S. 237

Wenn sich nun Leute beschweren, dass man nichts mehr sagen dürfe, liegt das nicht daran, dass die Sprache komplexer geworden ist, sondern daran, dass die ganze Gesellschaft komplexer geworden ist. Tatsächlich darf man sogar viel mehr sagen als früher; es gibt aber auch mehr Widerspruch, weil die Gesellschaft vielfältiger geworden ist.

Viele Menschen sagen, es gäbe keine Meinungsfreiheit mehr, meinen aber eigentlich, dass sie kaum noch etwas sagen können, ohne dass ihnen jemand widerspricht. Meinungsfreiheit meint aber, dass man unendlich vieles sagen darf und damit unendlich Gelegenheiten für Widerspruch entstehen. Die Tatsache, dass heute widersprochen wird, wo dies in der Vergangenheit nicht der Fall war, ist ein starkes Indiz für mehr Meinungsfreiheit – und zugleich anstrengend für jene Menschen, die damals das Privileg hatten unwidersprochen zu bleiben.

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox. Warum gelingene Integration zu mehr Konflikten führt. S. 114

Die Leute, die sich beschweren, seien im Übrigen nicht nur Konservative, sondern auch ehemalige Wähler linker Parteien – Intellektuelle alten Schlages, Menschen aus der Mittel- und Oberschicht, aus Kultur und Journalismus, denen das Leben die Deutungshoheit entzogen hat. Das erklärt für mich die vielfältigen Wählerwanderungen zur AfD.

El-Mafaalani sagt im Interview bei Thilo Jung übrigens, dass die AfD und die Grünen die einzigen Parteien seien, die eine Antwort darauf haben, was gebacken werden soll – die also eine Antwort haben auf Offenheit oder Schließung. Deshalb seien es auch die einzigen Parteien, die in den vergangenen Jahren Wachstum zu verzeichnen hatten: All Leute, die „in between“ stehen, die sowohl die guten als auch die kritischen Seiten der offenen Gesellschaft sehen, entscheiden sich bei Wahlen, ob sie mehr Zukunft in der Schließung oder in der Offenheit sehen und wählen vermehrt Grüne oder AfD (während die SPD den Kuchen sucht).

Sie merken, ich lege Ihnen das Buch unbedingt ans Herz, ebenso wie die Folge Jung & Naiv – und auch die El-Mafaalani-Folge beim FAZ-Podcast „Am Tresen“. In allen Publikationen wird noch viel mehr Schlaues gesagt, als ich hier zusammengefasst habe. Leider weiß Aladin El-Mafaalani auch nicht, wie man die Menschen, die unser Land lieber wieder abschließen und unsere Gesellschaft zurück in die Vergangenheit führen möchten, davon überzeugt, dass das zum einen gar nicht mehr geht und zum anderen auch nicht hilfreich und vorteilhaft für unsere Gesellschaft ist.


Rundreise | In den vergangenen zwei Tagen las ich nicht nur, ich bin auch Fahrrad gefahren und war im Freibad. Radfahren, Freibad und lesen ist eine wirklich gute Kombination für einen Urlaub daheim; ich möchte an dieser Stelle eine Empfehlung aussprechen.

Fürs Radfahren habe ich mir meinen Vater geschnappt und habe mit ihm eine Sightseeing-Tour durch Haltern gemacht. Fünfunddreißig Kilometer in verschiedene Stadtteile, durch Felder, durch Wald, am See entlang, durch die Stadt, vorbei an Bauernhöfen und Hofcafés, mit Besuch im Biergarten und abschließender Pizza. Das gefiel uns beiden gut.

Am besten gefiel es uns im Biergarten, als wir ein Stückchen Bienenstich aßen und Kaffee und Cola tranken. Direkt neben dem Biergarten war ein Kletterwald, und in dem Kletterwald waren jede Menge Leute. Wir hatten direkten Blick auf eine knifflige Passage. In beträchtlicher Höhe lag eine Leiter horizontal in der Luft: Wer zum nächsten Baum wollte, musste sich von Sprosse zu Sprosse hangeln. Alternativ konnten man sich sofort in den Gurt fallen lassen und sich an einem Seil zur nächsten Plattform ziehen – eine Vorstellung, die für Mehrzahl der Teilnehmer offensichtlich entwürdigend war, denn alle versuchten sich im Hangeln.

Wir saßen also am Boden, schauten in die Höhe, stopften Gabel für Gabel Bienenstich in unsere Körper und kommentierten die Versuche der Probanden. Mit anderen Worten: Wir waren die Könige des Klugscheißens.

Ein Tisch unter Bäumen, mit Blick auf den Klettewald, im Vordergrund ein Tablett mit Kaffee, Cola und Bienenstich, im Hintergrund weitere Tische

Die Fahrt endete im Freibad, wo wir eine Pizza aßen und ich noch eineinhalb Kilometer schwamm. Ein erfrischender Tagesabschluss.


Und sonst | Und dann gab es da noch die Elterngelddiskussion. Sie wissen schon: Ein Paar, das mehr als 150.000 Euro zu versteuerndes Einkommen hat, soll keines mehr bekommen. Ich versuchte, mir dazu eine Meinung zu bilden. Es gibt Argumente dafür (wer 150.000 € versteuern muss, hat so viel Geld , dass man ihn nicht noch alimentieren muss) und Argumente dagegen (Care-Arbeit hat einen Wert, egal wer sie tut; Frauen werden noch abhängiger von ihren gut verdienen Männern). Ich bin dann zu dem Schluss gekommen, dass „Dafür oder Dagegen?“ die falsche Fragestellung ist.

In Deutschland kann man am besten von den wirklich wichtigen Fragestellungen ablenken, indem man entweder eine Nebelkerze zündet oder bei einem Thema in absurdeste Details geht und es zerredet.

Die eigentliche Frage ist doch: Warum pochen wir auf die Einhaltung einer Schuldenbremse, während es wichtig wäre zu investieren, unser Land energiepolitisch unabhängig zu machen, klimaneutral zu werden und in die Zukunft unserer Kinder zu investieren? Wir haben einen solchen Investitionsstau! Es ist völlig egal, ob für ein paar Wohlhabende das Elterngeld wegfällt. Das ist, gemessen am Gesamthaushalt, absolut wurscht. Was nicht wurscht ist, sind Kindergrundsicherung, massiv (!) notwendige Investitionen in Schulen und Bildung, in Forschung und Entwicklung, wichtig ist die Stärkung des BAFöG, um auch damit Zugang zu Bildung zu ermöglichen, wichtig sind Gesundheit und Pflege. Über all das diskutieren wir jetzt nicht.


Schweine | Die Herrschaften bei der Tea-Time.

Drei Meerschweine vor einem Napf mit Gras und Salat
Kommentare

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  1. mareibianke sagt:

    Vielen Dank für den Beittag über das Integrationsparadox. Die Argumentation erscheint mir durchaus nachvollziehbar, Podcast uns wohl auch Buch muss ich mir bald mal zu Gemüte führen. Der gute Mann ist ja Dortmunder und so hoffe ich, dass man ihn mal vor Ort hören kann – werde mir den Namen merken.

    Und dann waren Sie bei Jupp, wo es die legendär großen Kuchenstücke gibt. Meine Tochter und ich haben dort auf dem Damenklo die kommunikativen Hilfsmittel gefeiert. Wenn Sie jetzt nicht wissen, was ich meine, müssen Sie unbedingt noch mal hin und dort aufs Klöchen gehen!

    Grüße aus Hörde!

    1. Vanessa sagt:

      Ich habe die Klappe auf dem Klo ausgeschoben – aber auf der anderen Seite war niemand. :D

  2. Wie recht Sie haben, was Steuern sparen oder ausgeben angeht!

  3. Eva sagt:

    Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht in die Politik zu gehen? Ernstgemeinte Frage :)

    1. Vanessa sagt:

      Nein, nicht wirklich. Um ehrlich zu sein habe ich keine Lust, mich durch Ortsgruppen hochzudienen; ich hatte als Journalistin Einblick in die Kommunalpolitik. Das, was ich wahrgenommen habe, empfinde ich als abschreckend. Mir ist meine seelische Gesundheit wichtiger als die tägliche Auseinandersetzung mit den vielen kleinen und großen Friedrich Merz‘ in diesem Land.

  4. Uwe aus Schwerte sagt:

    …. weil ich den Sendetermin gerade entdeckt habe und Sie es sich vielleicht anschauen möchten:

    https://www.3sat.de/kultur/pop-around-the-clock/herbert-groenemeyer-das-ist-los-100.html

    Herbert Grönemeyer !

    1. Vanessa sagt:

      Danke für den Hinweis. Das werden wir uns ansehen!

  5. speybridge sagt:

    „Die Tatsache, dass heute widersprochen wird, wo dies in der Vergangenheit nicht der Fall war, ist ein starkes Indiz für mehr Meinungsfreiheit – und zugleich anstrengend für jene Menschen, die damals das Privileg hatten unwidersprochen zu bleiben.“
    Das stimmt nur zum Teil.
    Richtig ist, dass die Möglichkeit zum Widerspruch zum demokratischen Diskurs gehört und natürlich wünschenswert ist.
    Leider artet „Widerspruch“ aber oft und immer mehr in den Wunsch nach beruflicher und persönlicher Vernichtung aus. Unliebsame Kommentare werden Arbeitgebern gemeldet mit dem Befehl, die Person zu entlassen. Klarnamen und Adressen werden weitergegeben. Es wird bedroht.
    Der Suizid der Ärztin Kellermayr in Wien ist z.B. nach einem ausufernden medialen „Widerspruch“ erfolgt.
    In Burg müssen aktuell zwei Lehrpersonen umziehen, weil sie es gewagt haben, auf rechte Umtriebe hinzuweisen.
    Ich glaube tatsächlich nicht, dass man – gerade, wenn es um kritische Themen geht – heute wirklich frei reden kann.
    Man muss nicht nur mit Widerspruch rechnen, was natürlich ok wäre, sondern mit Hetze. Das erspart man sich lieber.

    1. speybridge sagt:

      Als Ergänzung und Erläuterung zu oben Geschriebenem frisch dieser Tweet:
      https://is.gd/0oRFAF

    2. Vanessa sagt:

      Was dem Lehrpersonal in Burg widerdfahren ist und auch der Ärztin Frau Kellermann war kein Widerspruch. Das war Hetze. Das ist der Grat, den wir hinkriegen müssen, juristisch und moralisch: Hetze als Hetze erkennen – widersprechen, sofort und heftig! Und juristisch verfolgen, wo Grenzen überschritten sind.

      Die Aussage, man könne nirgendwo mehr seine Meinung sagen, kommt ja erstaunlicherweise aus den Gruppen, die (anonym) hetzen.

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