Noch zwei Stunden bis zur Prüfung, der hoffentlich letzten Prüfung meines Lebens. Ich fahre mit dem Bus zur Uni. Etwas ungelenk lasse ich mich in einen Sitz neben eine ältere Frau plumpsen, pummelig, Outdoorjacke, graues Haar.
„Entschuldigung“, sage ich, als ich ihren Arm streife.
„Is‘ nich‘ schlimm“, sagt sie. „Is‘ schon wieder verheilt.“
Oh. Sie möchte, dass ich nachfrage. „Hatten Sie sich verletzt?“
„Ich sach‘ Ihnen! Die Treppe bin ich raufgefallen. Ausgerechnet beim Arzt.“
„Und da haben Sie sich die Hand verstaucht.“
„Prellung. Vor die Füße bin ich ihm gefallen. Aber dat Knie, dat war viel schlimmer. Und die Rippe!“
„Die auch?“
„Auch Prellung. Sechs Wochen konnt‘ ich mich nich‘ bewegen. Mein Mann musste mich sogar duschen. Ich konnt‘ ja nich stehen! Und mit dem kaputten Arm. Nä, dat ging nich‘. Und auf Toilette erst.“
Das möchte ich doch gar nicht wissen.
„Dat war aber nix gegen das eine Mal, wo ich vom Fahrrad gefallen bin.“
Das auch noch! Es sind noch sieben Haltestellen bis zur Uni. Sieben Haltestellen bis zum Showdown. Ich bin apathisch. Dieses Gefühl, nicht gut vorbereitet zu sein. Aber was hätte ich mehr tun können? Was hätte ich anders machen sollen? Wenn ich es wüsste, hätte ich es getan.
„Blut! Alles voller Blut! Dat ganze Bein lief’s runter! Bin wohl mit dem Knie auf einen Stein gefallen. Wie ein abgestochenes Schwein, sach‘ ich Ihnen.“
Ach je. „Und was haben Sie dann gemacht?“
„Ich? Nix! Ich konnt‘ ja nich‘! Mein Mann hat’n Krankenwagen gerufen. Und als der da war – bumms! Drückt der Sanitäter mir eine Mullbinde auf die Wunde, ich dacht‘, ich müsst‘ den schlagen.“
„So weh hat es getan?“
„Weeeeehhh? Schmerzen! Schmääär! Zen! Wie! Beim! Schlachter!“
Noch drei Stationen. Jetzt ist es eh gelaufen. Jetzt kann ich sowieso nichts mehr tun. Wenn es nur nicht so heiß wäre im Bus. Hier weht kein Luftzug. Ich bin schon total durch, bevor es überhaupt losgeht.
„Die ganze Ummantelung war wech. Vom Knochen die, wissen’Se? So tief ging dat rein. Kein Wunder, dat dat so geblutet hat. Bis runter auf den Knochen. Können’Se sich dat vorstellen? Ihren eigenen Knochen sehen?“
Warum eigentlich immer ich? Es ist ja alles prima, zum Bloggen und so, aber warum ich und warum jetzt – jetzt, wo ich gleich in den Ring steige? Wladimir Klitschko wird doch auch nicht zugesülzt, wenn er schon den Bademantel anhat.
Noch eine Station. Ich sage: „Ich muss dann jetzt auch aussteigen.“
„Stolpern’Se nich‘.“
Während der Prüfung gibt es einen Moment, in dem ich denke: „Wie! Beim! Schlachter!“ So muss es sein, wenn man zerlegt wird. Aber dann ich höre eine leise Stimme: „Stolpern’Se nich‘.“
Nein, nicht stolpern.
Nicht jetzt.
Geradeaus schauen.
Krönchen richten, weiterreiten.
Hat dann ja auch geklappt.
(So trug es sich zu. Jetzt wissen’Se Bescheid.)
Kommentare
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“Is’ nich’ schlimm”, sagt sie. “Is’ schon wieder verheilt.” – der erste Gedanke war: geil, ne Oma mit Humor. Aber dann sind sie ja leider doch irgendwie alle gleich.
Glückwunsch übrigens auch von meiner Seite! Ich habe in ein paar Stunden Kolloquium meiner Abschlussarbeit, von daher passt die Geschichte perfekt. “Stolpern’Se nich’.” – ich werde dran denken.
Viel Glück! Das wird schon. Das Schlimmste haben Sie ja bereits hinter sich.
Vielen Dank, hat überaus geholfen, Arbeit und Verteidigung mit sehr gut abgeschlossen. Total unrealistisch, aber ich mache ja zum Glück die Noten nicht. :)
Herzlichen Glückwunsch! Ganz aus der Luft gegriffen wird die Note schon nicht sein.
Gratulation!
Als ob es für die treue Leserschar jemals einen Zweifel daran gegeben hätte, dass Sie es schaffen.
Aber, dass das die letzte Prüfung in Ihrem Leben sein wird, da seien Sie mal nicht so sicher. Das hört nie auf.
Also: Stolpern Se nich!
Vielleicht studiere ich als Rentner nochmal, Seniorenstudium, damit mir zu Hause nicht zu langweilig wird, wenn der Garten gejätet und alle Kuchen gebacken sind. Aber jetzt ist erstmal Schluss.
Halleluja!
…viel Erfolg bei der letzten Prüfung!!!!
Falls ich gemeint war: vielen Dank! :)
Mir wäre bei der Erzählung der Frau echt schlecht geworden. Kann so etwas gar nicht hören!!
Ich dachte zwischendrin: Gleich erzählt sie noch, wie ihr Knochen durchs Fleisch stach, damals bei der Unterschenkelfraktur. Aber diese Story ist wahrscheinlich erst ab Haltestelle Zwölf vorgesehen.
Glückwunsch! :)
congrats. :)
Nochmals Glückwunsch, und danke für diese wunderbar lebendige Beschreibung: Das wahre Leben eben. Manchmal gleichen sich die physische und die metaphysische Ebene, und Sie haben es bemerkt und zu gutem Nutzen angewandt. Viele lange stolperfreie Zeiten wünsche ich Ihnen.
ja, die meta-, beta- und auch-sonst-physische, psychische, physikalische Ebene und alle Ebenen drunter und drüber.
Sowas gibts nur hier.
Dass Sie nicht einfach mal so Bus fahren können. Und: Noch mal allerherzlichsten Glückwunsch und Dr-Konfetti.
Ich fahre aus nur mal so Bus. Nur schreibe ich dann nicht darüber, deshalb fällt es nicht so auf.
Ach, herrlich. Tränchen. Glückwunsch!
Haetten Sie noch erzaehlt, dass Sie gerade fahren, um Doktor zu werden – ich mag mir nicht ausmalen, welche Details das noch zu Tage gefoerdert haette.
Das war auch das Erste, was ich dachte. Denn mit’m Doktor sind Sie Arzt. Punktum. Und wer verzichtete schon freiwillig auf drei-zwölft Meinung zur Krankengeschichte? Womöglich noch umsonst? Eben! Alte Damen erst recht nicht.
Viel Spaß beim Aussuchen des neuen Adresskopfes. Lassen Sie Ihren neu errungenen akademischen Grad im Perso eintragen? Wär‘ ja angemessen, bei dem Aufwand.
kenn ich: meine Schiwegermutter hat bis zu ihrem Tod beim promovierten Sohn nachgefragt: „du, die Frau Sowieso, die hat das so mit dem Knie, was meinst du, was man da machen kann?“ – er ist Mathematiker!!
Und mein damaliger Chef hat anlässlich der Veröffentlichung unserer Heiratsnachricht in den Standesamtsnachrichten gefragt: „Ihr Mann ist ja Doktor – ist er Arzt oder hat er nur studiert?“ (Betonung auf dem „nur“)
Kenne ich von Freunden. Ein befreundeter promovierter Geisteswissenschaftler wird nun bei seinem Hausarzt, nachdem dieser Kenntnis davon erhalten hat, einen „Doktor“ vor sich zu haben, nun als „Kollege“ ernst genommen und wird mit mehr Respekt und Sorgfalt behandelt als zuvor.
das wiederum kenne ich vom ehemaligen Vermieter ;-)
auch dort: Studentenpack, was wollen wir; dann nach der Promotion “ Herr Kollege“
Und das schöne ist: ich nutznieße ohne die Arbeit gehabt zu haben……
Stolpern darfst Du…nur nicht fallen!!!
Und wenn falls doch, einfach wieder aufstehen. Aber soweit wie Du gekommen bist, machst Du das wohl schon „ganz gut“! ;-)
http://www.youtube.com/watch?v=us3dQ0nnlHY
(Der hat irgendetwas Juckendes inner Büx)
Es hat doch keiner Ihrer Leser daran gezweifelt, daß man Ihnen diese höchste akademische Weihe verleihen würde! „Dr. des“…. mußte ich erst mal googeln. Wie lautet denn der endgültige Titel? Schon Visitenkarten drucken lassen?
Ich gratuliere von Herzen!
„Pummelig, Outdoorjacke, graues Haar.“
So ein Promotionsverfahren stresst, da kann man sich schon mal gehen lassen. Machen Sie sich nichts draus, Frau Nessy.
DIE OMA! Mensch!
Ich war schick!
Glückwunsch!! Konfetti! Sekt!
Bei Ihrer Zustandsbeschreibung musste ich mich SEHR an meine Verfassung vor meiner Disputation erinnern. Uff. Ich hab jetzt doch glatt wieder n Herzkasper bekommen und n mulmiges Gefühl im Bauch…
Schön, dass Sie es auch hinter sich gebracht haben. Und zwar mit gerade sitzendem Krönchen!!
Soviel Mut, mit dem Bus zur Prüfung zu fahren, muss man erst einmal haben… da kann ja sonstwas passieren!
Herzlichen Glückwunsch, Frau Doktor Nessy. Eine große Leistung, zumal mit Statistik…
Zeitreisemöglichkeit vorausgesetzt, würden Sie es noch einmal machen?
Busfahren beruhigt vor solch einer Prüfung. Dort ist alles so wunderbar normal und bodenständig.
Ich bevorzuge auch das Fahren mit den Öffentlichen vor Prüfungen. Nicht, weil wie Fr. Nessy sagte dort alles so normal ist, sondern, weil ich in meiner Aufregung nicht einparken könnte….
Herzlichen Glückwunsch! Ich sach ja: kann gar nicht schief gehen……
Das ist ja fast kafkaesk. Ihr Leben eine Parabel. Andere würden sich dafür das Knie kaputthauen!
:-)
Ich war immer stille Mitleserin, jetzt sage ich doch mal etwas: Herzlichen Glückwunsch :)!
Und keine Sorge, das mit den interessanten Geisteszuständen ist normal. Wer während seiner Diss nicht mindestens einen Nervenzusammenbruch hatte, der ist gar nicht wirklich promoviert! ;)
(been there, done that, bought the t-shirt…)
Ich hatte keine Nervenzusammenbrüche. Eher schwere Promotionsdepressionen („Wozu das alles?“, „Ich werde nie fertig.“, „Es ist alles so sinnlos.“)
Wenn es Sie tröstet – ich habe noch vor jeder wichtigen Uniprüfung jemanden gehabt, der direkt vor mir dran war und dann entweder durchfiel oder mir aber die Ohren vollweinte, dass die Prüfung soooo schwer gewesen sei und die Prüfer gaaaanz komische Fragen gestellt hätten, deren Bezug zum Prüfungsthema gaaar nicht klar gewesen sei …
Da hab ich mir dann auch immer gewünscht, die Finger in die Ohren stopfen und alles mit einem lauten „MIMIMI!“ übertönen zu dürfen. ;)
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUR PROMOTION!!!
Es ist wie beim Zahnarzt. Vor einem kommt immer der Typ mit dem blutverspritztem Hemd aus dem Behandlungszimmer, der so schlimm geschrien hat.
Auch vom Niederrhein herzlichen Glückwunsch Frau Dr. des. Nessy.
Auch hier nochmals allerherzlichste Gratulation. :-) So eine Doktorarbeit, das ist schon was, darauf kann man sich unbedingt auch etwas einbilden. Muss man nicht, kann man aber…
Zu Ihrer Frage: „Warum eigentlich immer ich?“: meine Freundin Anne wird – egal ob in ihrer Heimatstadt oder 6.000 Meilen entfernt davon – immer von allen möglichen Leuten nach dem Weg gefragt oder nach der Uhrzeit oder wieviel die Fahrkarte nach Wasweißichwo kostet…
Das liegt daran – so meine Theorie – weil sie so ungeheuer tüchtig und kompetent aussieht. Und Sie sehen – das leite ich auch aus ihren Blogbeiträgen ab – eben verständnisvoll aus. Da können die Leute einfach nicht anders und müssen Ihnen ihr Herz ausschütten. Nehmen Sie es als Kompliment. :-)
Nach dem Weg werde ich auch immer gefragt – TOP 3: Finanzamt, Naherholungsgebiet, Baumarkt.
Und wenn die Freundin nicht in der Nähe ist, gehen alle einfach in die nächste Buchhandlung und fragen da nach dem Weg. Ist ja auch irgendwie klar, da sind kluge Menschen die einfach alles wissen. ;-)
Ja, sehen Sie! :-)
Ha!
Es gibt Dinge, da kann ich mitreden.
Jawollja.
Klitschko.
Zitat: Wladimir Klitschko wird doch auch nicht zugesülzt, wenn er schon den Bademantel anhat.
Drum hat er das Dings an, damit er nicht zugesülzt wird.
Allerdings frag ich mich, was passiert wär, wenn Sie bebademantelt im Bus zum Prüfungsort gefahren wären.
Ich weiß nicht, ob das geholfen oder eher das Gegenteil bewirkt hätte.
Aber, fällt mir ein, Sie sind jetzt Kollegen, also Sie und der Klitschko. Der ist ja auch Dr.
Wenn ich dabei so grimmig aus meinem Bademantel geguckt hätte wie Herr Klitschko, hätte es vielleicht geklappt.
ja, und dazu noch so große Haudraufhandschuhe.
Ach, hätten Sie doch nur die Begegnung mit dem muskelbepackten Lastwagenfahrer gehabt, der mir heute Nachmittag äußerst charmant und irgendwie auch leidenschaftlich erklärte, wie man mit einem Zig-Tonner in eine ganz schmale Toreinfahrt kommt, ohne anzuecken. ;-)
Herzliche Glückwünsche zum Dr. des.!
Mit einem Zig-Tonner habe ich’s noch nicht probiert, nur mit 7,5. Ich fand das damals leichter als mit dem Auto – wegen der vielen schönen Spiegel.
Haben Sie es noch nicht erwähnt oder war ich unaufmerksam? Was für’n Doktortitel tragen Sie denn jetzt? *malneugierigfragt*
Einen verdienten.
ganz sicher.
Nur sagt das immer noch nichts über die Fachrichtung…
Herzlichen Glückwunsch Frau Nessy!
Herzlich willkommen im Kreise der Doktorinnen, liebe Nessy! Juhu! Nun auf zu neuen Ufern!
Wir bekommen im Laden auch immer alle Krankheitsgeschichten zu hören, die Meisten beim Kopierer. ;-)
Auch hier nochmal Glückwunsch zum Dr.
Was ’ne schöne Geschichte (bis auf das Blut und so). Erinnert mich immer wieder daran, wie einzigartig Ihr Blog doch ist. Nicht, dass ich es allzu oft vergessen würde, but still…
Eigentlich dürften Sie sich Dr.mult Nessy nennen, weil der Dr.phil zum schon vorhandenen Dr. hc* dazukommt.
* hc steht nicht für honoris causa sondern für hat cafe.