Eine Straße im westlichen Ruhrgebiet:
Altbauten, denkmalgeschützt. Stuck. Hohe Decken. Ehrwürdige Fassaden.
Ich bin bei der Torfrau eingeladen. Wir haben Raclette gemacht – die Torfrau, ihr Björn, die Sozialmaja, das Parterrepärchen und ich. Nun geht es gen Mitternacht. Wir schenken Crémant aus und beobachten den Tischwecker. Dann wird es Zwölf. Großes Hallo, frohes neues Jahr, Stößchen, Schuhe an, hinunter auf die Straße.
Zur Portugiesen-Battle.
Der Portugiesen-Battle.
Dem Grund, warum wir hier feiern und nicht woanders.
Wegen der traditionellen Feuerwerksschlacht der Familien de Silva und de Zosa.
Beide wohnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, weitläufig verwandt und mittelbar verschwägert. de Silva lebt in Nummer 7, de Zosa bewohnt hangaufwärts die Nummer 11. Zu Silvester bestehen sie aus einer unübersichtlichen Zahl von Kindern, hinzu kommen Eltern, Großeltern, Brüder, Schwestern, Vettern und Basen in jeglichem Alter.
Familie de Silva ist bereits vor der Tür, uns direkt gegenüber. Sie wird wie jedes Jahr angeführt von einem pummeligen Mittdreißiger mit gegeltem Haupthaar und gestreiftem Hemd. Er ist Besitzer eines ertragreichen Zehn-Quadratmeter-Büdchens 400 Meter stadteinwärts, zu dem er allmorgendlich mit einer tiefergelegten Ludenflunder pendelt. Heute steht er, die Kippe im Pinzettengriff vor die wulstigen Lippen haltend, auf dem Bürgersteig und gibt den Anzünder für die Böllerbatterien.
Familie de Zosa haben wir nicht so gut im Blick. Mit geschätzt zwei Fußballmannschaften hat sie sich vor dem Haus versammelt, so viel können wir von Nummer 4 aus sehen. Schmächtige Jungspunde positionieren sich dort in der Straßenmitte und geben mit Chinakrachern erste Statements ab.
Dann geht es los. De Zosa legt vor, de Silva zieht nach. Oben wie unten gehen Goldregen und Diamatraketen in die Luft. Bodenfontänen und Leuchtwirbel sprühen. Die 100-Schuss-Feuerwerk-Batterie donnert. Black Rain, Blue Diamonds, Coroner und Fire Combat, Avalon und Babylon. Büdchen-de-Silva raucht eine Fluppe nach der anderen, hält die glimmende Asche an die Zündschnur, wirft die Rakete in eine bauchige Sangria-Flasche – und sie zischt in den nebligen Neujahrshimmel. Weiter oben lassen die Jünglinge die Raketen direkt aus der Hand steigen, die Hand in den Pulloverärmel gerollt. Die Silva- und Zosa-Frauen drücken sich gegen die Hauswände, ihre Kinder vor den Beinen, die flachen Hände vor den kleinen Oberkörpern verschränkt. Wir stehen da, nippen Sekt und schwenken Wunderkerzen.
Bestimmt 30 Minuten geht es so, dann beginnt Teil Zwei der Battle, das Synchronfegen. Die Männer, die eben noch im Akkord Raketen in die Luft gejagt haben, greifen zum Besen und bieten Ballett. Fegen, ausholen, fegen, ausholen, die Borsten schieben Berge durchweichter Pappe und gesprengter Kartons zusammen. Die Teenies flankieren den Auftritt mit weiteren Krachern.
Es ist 0:55 Uhr, als sich ein de Zosa aus der Gruppe hügelanwärts löst und durch den Rauch der letzten Böller den Hang hinab schreitet, die Hände in den Hosentaschen, als sei er grad vom Pferd gestiegen. Büdchen stellt sich in der Straßenmitte auf und stützt sich breitbeinig auf seinen Besen. Als sie beinahe Nasenspitze an Nasenspitze stehen, bleibt de Zosa stehen. Er und Büdchen blicken sich einige Sekunden reglos in die Augen. Wir befinden uns genau auf Höhe des Duells, verglommene Wunderkerzen in den klammen Händen. Dann wendet de Zosa seinen Blick und fragt uns: „Und? Wer war dieses Jahr besser?“
„Ihr“, sagt die Torfrau. „Ihr“, sagt Björn. „Finde ich auch“, sagt die Sozialmaja. „Yep“, sage ich, „ganz klar.“ Das Parterrepärchen nickt.
De Zosa grinst und blickt Büdchen an. Die beiden sagen nichts und umarmen sich brüderlich. Zeitgleich lösen sich die Frauen von den Hauswänden und lassen ihre Kinder los. Sie laufen auf die Straße, rennen und schreien. Jetzt wird angestoßen, alle miteinander, alle durcheinander.
Wir gehen rein. Denn für uns ist das Schauspiel nun vorbei. Seit heute steht es 1:2 für de Zosa – soweit wir das beurteilen können. Wir sind ja erst seit zwei Jahren dabei.
365 Tage noch bis zur nächsten Schlacht.
Kommentare
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sowas rockt den Abend. wunnebar.
Und Ihnen Frau N. ein erfolgreiches 2012!
*verneig*
j.
Ihnen auch!
//*knicks
Herrlich!
Darf ich mich für’s nächste Silvester schonmal einladen? ;-)
Ich bin in dem Fall nicht Gastgeberin. Aber ich frage gerne für Sie nach.
Oh ja bitte! Ich bringe auch mein formidables original Schweizer Raclette-Gerät mit. Und mindestens fünf Kilo Käse.
Vor lauter Begeisterung habe ich doch tatsächlich vergessen, ein glückliches und gesundes neues Jahr zu wünschen, dies sei hiermit nachgeholt! :-)
Klasse Geschichte :-)))
Fairer Ausgang und akzeptable Bedingungen.
So etwas ähnliches gibt es hier auch.Der Mann war einmal Zeuge, als der Albanerklan, der in Brandbekämpfung arbeitet, von gegenüber sich mit dem Vietnamesennudelabholstübchen duellierte. Ob eine von den Raketen legal war , ist heute noch die Frage. Und gefegt wurde auch nicht. Der Müll lag am nächsten Morgen einen halben Meter hoch.
Das haben die Portugiesen besser im Griff und der Unterhaltung halber direkt in die Battle mit eingebaut. Da freut sich die Stadtreinigung, und die Nachbarschaft applaudiert.
großartigst, danke frau nessy.
schönes neues jahr aus dem skizzenblog
Ihnen auch ein frohes Neues.
Ich wünsche auch ein schönes neues Jahr. :-)
Das danach gefegt wird find ich klasse, hätte ich nicht erwartet.
Das ist alles total gutbürgerlich dort.
Fairer Wettstreit keine Frage, mit so einer Show sind aber auch die Silvester in naeherer Zukunft klar gebucht, kann ich mir vorstellen. (Und grossartige Darstellung des Vorgangs, streckenweise klingt es nach Helmpflicht)
Das einzige Problem, dass ich sehe: wenn die Torfrau mal wegzieht – muss sie dann die Nachmieter informieren, dass sie zu Silvester als Punktrichter gebraucht werden?
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie der Sieger sonst ermittelt wird. Vielleicht durch eine ordentliche Keilerei?
Ich glaube nicht, dass Leute, die nach der Raketenschlacht fegen wirklich per physischer Gewalt entscheiden muessen. Eher bringt ‚Buedchen‘ den letzten Kunden mit, oder sie messen die Hoehe der Papierstapel, oder so.
Wieso dachte ich bei dieser Schilderung sofort an „Villaribo“ gegen „Villabajo“?
Als Fan großer Feuerwerke: Darf ich mich für dieses Jahr schon einmal anmelden?
Haha, Villariba und Villabajo – wieso habe ich daran nicht gedacht? Vielleicht gibt’s an Neujahr auch eine Abspül-Battle, wer weiß.
Erinnert mich an die Szene bei „werner-beinhard“ in der Werner das Marktplatz Fußballspiel kommentiert. Haben Sie auch Kommentatoren dabei?
ich liebe dieses Fussball-Spiel auf dem Marktplatz.
@ Frau Nessy: nächstes mal nehmen sie das mal auf und stellen das auf youtube. :-)
Liebe Grüsse und allen ein gutes neues Jahr!!!
asty
@Frau Charlotte: Wir haben das in unserer kleinen Gruppe wortreich kommentiert – sofern es angesichts der Lautstärke ging.
//Eurovisions-Hyme
„Willkommen liebe Zuhörerinnen und Zuhörer an den Radiogeraeten und auch die zugeschalteten Teilnehmer in Oesterreich und der Schweiz. Wie jedes Jahr begruessen wir sie zu unserem Jahresabschluss-Derby hier im westlichen Ruhrgebiet zum Klassiker zwischen de Silva und de Zosa. Die de Silvas, die letzten Jahre erfolgverwoehnt, bekommen dieses Jahr erhebliche Konkurrenz, da fuer die de Zosas neue Cousins nachgerueckt sind und somit eine breitere Basis fuer parallele Aktionen zur Verfuegung steht.“
//im Hintergrund: 12-Uhr Laeuten
„Und da erfolgt auch schon die Freigabe des Spielfelds. Die de Silvas in klassischer Formation mit ‚Buedchen‘ an der Spitze, ein erprobtes Rezept, ein immer wieder erfolgreiches Setting. Die de Zosas wie wir sehen koennen diesmal in lockerer Formation, die neuen Cousins im Mittelfeld angesiedelt. Und nun: Eroeffnungsschuss de Silva! Hervorragend angebracht Blue Diamond. Was tun *Bumm* die de Zosas. Ah, Erwiederung mit einem Goldregen, seh clever. Wie *zisch*, der *Pfeif* von *Bumm* in *aaaah*. Wegen *Bumm* bei *Bumm* und *rumpel* in *ooooh* durch *sprueh*.“
….
So in etwa, oder?
Grandios. Ich sehe es vor mir. Ich höre sogar die Musik und das Läuten dazu.
*nickt zufrieden* genau so.
Frau Nessy, ein frohes Neues wünsch‘ ich! Ist es möglich, dass dieser Teil des westlichen Ruhrgebiets sehr an den Niederrhein grenzt?
Nee, dazwischen ist noch Duisburg.
Also die Stadt, die zur Zeit eine Oberbürgermeisterin hat, deren Familienname im Anfang ähnlich klingt wie der Name der Stadt? DIE ist aber sowenig „Pott“ wie Düsseldorf das ist, finde ich.Trotzdem kommt mir die brillant beschriebene Szene seeehr bekannt vor.
Klingt interessant…
Auch von mir ein fröhliches, gutes 2012!
Ebenso!
das ist ja wie villa bajo gegen villa riba! lustig. gutes neues jahr!
Ihnen auch ein gute neues Jahr.
Phantastische Geschichte! Danke!
Saucool!! Und am besten finde ich auch, dass hinterher der ganze Mist gefegt wird. Von mir bekommen deswegen beide Familien 100 Extrapunkte!
Und Sie – woher haben Sie Ihr fundiertes Feuerwerkswissen? Aus dem Netz oder gar aus einem Gespräch mit dem Ludenflunderpendler?
Ein frohes Neues! :)
Ich habe vor der Niederschrift kurz recherchiert, welche Großfeuerwerke so im Handel erhältlich sind. Denn die müssen es gewesen sein. Weniger kommt den Duellanten nicht unters Feuerzeug.
Wie, noch eine „Torfrau“?
es sind sogar noch 366 Tage bis zur nächsten Schlacht!
Schaltjahr.. :)
Ein gesundes neues Jahr wünsche ich
Und vielen Dank für das tolle Blog
Gruß aus Japan
Perli
Einfach nur genial geschrieben. Geiler gehts nicht. Und ich habe ein neues Wort heute gelernt: *schlapplach* *schnappatmung* *hält sich den Bauch vor lachen* L U D E N F L U N D E R *heult vor lachen*
Sorry. Ich muss mir jetzt erstmal die Augen wieder trocken legen.
*SCHENKELklopf*
Hab ich schonmal erwähnt, dass ich dieses Blog liebe?
Hach, wunderbar.
Frohes Neues Jahr, und bleiben Sie, wie Sie sind, Frau Nessy!
(Wir haben auch Wunderkerzen geschwenkt. Enthusiastisch, natürlich.)
Neue Variante :
Ich habe ein Bündel Wunderkerzen in eine Sektflasche fallen lassen, ergibt sehr schöne Lichteffekte.
Ein sehr schöner Bericht. bei dieser Gelegenheit möchte ich für all die schönen, lustigen und auch traurigen Beiträge des letzten Jahres Danke sagen. Ich wünsche Ihnen ein gutes Jahr 2012, das so wird, wie Sie es mögen.
Frohes Neues Jahr:)
Groß!
Also diese Seite hier sowieso, aber auch die beiden Feuerwerk-Duelantenfamilien; Respekt!
Spitzenchoreographie, Feines Finale und Abtritt mit Stil; Superplusplus…
Die Torfrau würde ich mir zu Sylvester immer warm halten (vermutlich auch sonst; gute Torfrauen sind rar.)
Bis zur nächsten Schlacht wünsche ich eine zeitliche Überbrückung der Extraklasse ;-)
Ein schönes neues Jahr liebe Frau Nessy!
Danke für die Berichterstattung des Feuerwerkbattles! Sehr gelungen geschrieben, wie immer!
Es gibt auch eine
griechische Variante. Vielleicht liegt es an dem sprichwörtlich feurigen Charakter in den südlichen Ländern.
Hübsche Geschichte. Letztes Jahr endete es unentschieden, ja?
Verspätetes frohes Neues!