Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Themenlage | Die Tage ziehen arbeitsreich dahin. Es gibt kaum einen Tag, der unter zehn Arbeitsstunden hat, besonders wenn man die Tätigkeiten rund um die Vermietung meiner Wohnung hinzuzählt.

Die verläuft nicht besonders erfolgreich. Ich schiebe das auf die Kombination von Dezember und zehn Prozent Inflation. Wer bemüht sich in der Vorweihnachtszeit um einen möglichen Umzug, wenn man es auch im neuen Jahr tun kann? Und wer nimmt bei zehn Prozent Inflation Umzugskosten auf sich, wenn er nicht muss? Kostet eh schon alles genug, da schiebt man auf, was nicht notwendig ist.

Die Besichtigungen, die ich hatte – ungefähr zehn – waren nicht erfolgreich. Ich werde inzwischen besser darin, zwischen Besichtigungstouristen und jenen Interessenten zu unterscheiden, die ernsthafte Kandidaten sind. Mit Besichtigungstouristen meine ich Menschen, die eigentlich eine andere Wohnung suchen – mehr Zimmer, ebenerdig, falscher Zeitpunkt -, die aber „mal schauen wollen“. Mit dem Ergebnis, dass die Wohnung nicht infrage kommt, weil sie zu wenig Zimmer hat, weil man eine Treppe hinaufsteigen muss oder weil man „schonmal gucken möchte, was so auf dem Markt ist, wenn wir in einem Jahr umziehen“. Zeitraubend, vor allem für mich – die andere Seite scheint ja Spaß an der Sache zu haben und sie als Bereicherung zu empfinden.


Broterwerb | Arbeitsaufenthalt in Osnabrück. Es war mir eine Freude.

Zwei Bemerknisse, Nummer Eins: Im Hotel war auffällig, dass fast keine weiblichen Geschäftsreisenden unterwegs waren. Dass ich als Frau in der Minderheit bin – in der Bar oder beim morgendlichen Frühstück -, bin ich gewohnt. Diesmal war es allerdings so augenfällig, dass ich während des Frühstücks die anwesenden Geschlechter zählte. Die Quote lag am Montag bei zwei Frauen zu zwanzig Männern, am Dienstag bei vier Frauen zu siebzehn Männern.

Gerne hätte ich abends den Wellnessbereich genutzt. Aber beim Abendessen fielen Männergruppen so unangenehm auf, dass ich keine Lust hatte, ihnen noch nackt in der Sauna zu begegnen (sie sprachen über einen Besuch in der Hotelsauna). Ich frage mich, ob jemals Männer von sich sagen: „Ich bin nicht in die Hotelsauna gegangen, weil schon im Restaurant diese unangenehmen Frauen waren, die laut Zoten gerissen haben.“

Bemerknis Zwei: Der Verkehr in Osnabrück ist bestialisch. Alles voller Autos, und ja, ich war Teil des Problems. Ich hatte überlegt, mit dem Zug zu fahren, aber die Kombinaton aus „viel zu transportieren“ (Koffer, Moderationskoffer, Flipcharts, Laptoprucksack), der durchgehend schlechten Performance der Deutschen Bahn und der Aussicht, morgens um 7:30 Uhr bei nieseligem Novemberwetter, bepackt wie ein Esel und mit ächzenden Bandscheiben, vom Hotel zum Kunden laufen zu müssen, war wenig erbaulich. Nichtsdestotrotz: Ein Wahnsinn, wie viele Autos dort morgens auf der Straße sind! Es reihte sich Wagen an Wagen an Wagen, alle mit Kennzeichen Osnabrück oder Umgebung. Das ist Irrsinn. Das kann keine Zukunft haben.


Zustand | Ich halte mich hartnäckig gesund – trotz grassierender Erkältungskrankheiten und kreisender Corona-Viren. Toi, toi, toi.


Gehört | Podcasts:  Frauke Liebs – die Suche nach dem Mörder, Lisas Paarschitt: Der Beziehungs-Podcast mit Lisa Ortgies und drei Folgen Alles auf Anfang – mit Tine Wittler (Ex-Deko-Queen, jetzt Landfrau mit Kneipe und Kleinkunstbühne), Angie Sebrich (ehemalige Medienmanagerin bei MTV, jetzt Herbergsmutter) und Simone Menne (erste Finanzvorständin in einem DAX-Unternehmen, jetzt Multiaufsichtsrätin und Galeristin).


Und sonst | Die Torfrau bekochte mich und weitere Gäste. Hier exemplarisch das Dessert:

Es war köstlich, und es war wunderbar, beieinander zu sitzen.

Der erste Frost | Endlich jahreszeitengemäße Temperaturen.

Sonne über gefrosteten Pflanzkübelns

Bemerknis | Ich vermiete ja meine Wohnung. Dazu nutze ich zwei Plattformen: Immoscout und ebay-Kleinanzeigen. Auf ebay-Kleinanzeigen bekomme ich viele Zuschriften von Familien mit sechs bis neun Personen. Das ist eine Personenzahl, die nicht zu den Möglichkeiten meiner Wohnung passt – aber offenbar gibt es in Dortmund kaum Wohnraum für diese Interessentengruppe, vor allem wenn er den Anforderungen des Jobcenters entsprechen muss. Die Angelegenheit ist für beide Seiten verdrießlich: Ich muss den Interessenten absagen (oft schreiben wir noch mehrmals hin und her, was an der Sache aber nichts ändert), und die Suchenden finden (wieder) keine Wohnung.

Das Ganze stimmt mich nachdenklich, denn die Interessenten scheinen mehr oder weniger wahllos Vermieter:innen anzuschreiben, sicherlich auch aus Verzweiflung. Ich halte es allerdings für ausgeschlossen, dass (viele) privat Vermietende ein Angebot für diese Personengruppe stellen können. Wer wie ich die Wohnung als Altersvorsorge hat, das wirtschaftliche Risiko trägt und eine Miete erheben möchte, die die Kosten trägt und der Ausstattung gerecht wird, kann kaum Teil der Lösung sein: Der niedrige Quadratmeterpreis, den das Jobcenter zahlt, ist unmöglich darzustellen, und das Risiko, dass die für diese Personenzahl eigentlich ungeeignete Wohnung sehr schnell abgewohnt wird, ist einfach zu groß; Rücklagen kann man für diesen Fall ja auch nicht bilden.


Broterwerb | Nachdem ich letztens schrieb, dass das kommende Jahr brach vor mir liegt, kamen in den vergangenen zwei Wochen zahlreiche Anfragen für 2023. Das freut mich sehr. Ich bin guten Mutes und voller Tatendrang.

(Vor diesem Hintergrund fühlen sich der Umzug und die damit verbundenen Kosten auch direkt etwas anders an.)

Darüber hinaus ist Jahresendgeschäft: In der Beratung ist viel zu tun; dreimal bin ich vor Weihnachten außerdem noch unterwegs, um Seminare zu geben oder Workshops zu moderieren. Erst in der Woche vor Weihnachten wird es ruhiger.


Sortierung | Derzeit sortiere ich meine Siebensachen und verkaufe Einiges – unter anderem dieses tolle, große Sofa. Ideal für Familien oder lange Menschen, die sich gerne ausstrecken; pflegeleicht. Der Preis ist VB – ich würde mich in erster Linie freuen, wenn es ein neues Zuhause findet. Also melden Sie sich gerne, auch wenn Sie weniger zahlen können.

Soeben habe ich für einen schmalen Taler zwei Ballkleider und einen Trenchcoat unter die Leute gebracht. Die Käuferin hat sich sehr gefreut; die Kleider gehen, nachdem sie sie einmal getragen und gereinigt hat, in den Fundus einer Tanzschule, um dort noch mehr Menschen Freude zu bereiten. Das ist doch toll.


No Plätzchen | Das Leben spielt sich also gerade zwischen Arbeit, ebay-Kleinanzeigen und Wohnungsführungen ab. Das ist sehr ausreichend für einen 24-Stunden-Tag. In der freien Zeit schaue ich The Crown, bin aber noch etwas unterwältigt von der Handlung. In der vergangenen Woche habe ich es sogar einmal geschafft, schwimmen zu gehen. Das war super. Plätzchenbacken wird dieses Jahr wohl ausfallen (oder sehr spontan geschehen).

Irgendwann, wenn das hier alles durch ist, schreibe ich ein Best of ebay-Kleinanzeigen-Erlebnisse.


Gelesen | Verkehrspolitik: Weniger Wagen wagen – ein Aufruf an die Politik, wieder mehr über Gesetze zu steuern, denn das Steuern über Markt, Moral und Eigenverantwortung funktioniert nicht:

Seltsam – in immer mehr Bereichen hat der Staat seine Verantwortung in den letzten Jahrzehnten aufgegeben, weil er glaubte, dass der Markt die Dinge effizienter regeln würde. Gleichzeitig erscheint in immer mehr Bereichen politisches Handeln dringlicher denn je. Ein frei drehender Immobilienmarkt ist schädlich. Unregulierte Datenkonzerne sind schädlich. Globale Steuervermeidung ist schädlich. Waren die Aufträge für Gesetzgeber schon einmal klarer als heute?

Gelesen | Wir machen das schon – Lausitz im Wandel von Johannes Staemmler (Hrsg.), eine Sammlung von Portrait, Interviews und Berichten über und mit Menschen, die in der Lausitz den Wandel gestalten. Was ich gut an dem Sammelband fand: Ich habe etwas über die Lausitz gelernt, nämlich wie viel Wandel dieser Landstrich seit vielen Jahrzehnten erlebt. Das war aufschlussreich. Was mich betrübt hat: Es werden zwar zahlreiche engagierte Menschen portraitiert – ob sie die Region aber umfänglich und nachhaltig gestalten können, erscheint mir fraglich.


Und sonst | Steverbucht, Novemberedition, und anschließender Snack:

Gebildet | In den vergangenen drei Wochen habe ich an mehreren Vormittagen eine Weiterbildung zum Qualified Negotiator beim Schranner-Institut absolviert und erfolgreich abgeschlossen. Ziel: Erfolgreich verhandeln – Vorbereitungen einer Verhandlung (das Wichtigste!), Agenda-Setting, Forderungen parieren, Teamaufstellung bei einer Verhandlung, Rhetorik, Best Practice. Eine super gute Veranstaltung, die ihr Geld wert war. Die Summe an Gelerntem ist ein echter Gamechanger.

Ich habe jetzt voll Bock, tiefer einzusteigen. Mal schauen, wie sich die Auftragslage entwickelt. In die eigenen Kompetenzen zu investieren, ist ja niemals falsch. Es würde mein Portfolio jedenfalls nochmal entscheidend erweitern (hat die aktuelle Weiterbildung ja auch schon).


Nationale Aufgabe | Als die heute-Sendung letztens die Nachricht brachte, dass wir zurzeit 40 Prozent weniger Gas verbrauchen als im vergangenen Jahr, bin ich kurz von meiner Wärmflasche aufgesprungen, habe die Becker-Säge gemacht und mich als Teil von etwas Großem gefühlt.


Auswärtsspiel | Wieder einmal rufen die Hotels einhundertachtzig, zweihundert, zweihundertfünfzig Euro für ein Zimmer auf – Ritz-Carlton-Preise für ein Vollplaste-Zimmer in Wuppertal. Also führt die Geschäftsreise mich in eine Airbnb-Wohnung. Die Umgebung lässt ein sanftes Favela-Gefühl aufkommen:

Straße voller Sperrmüll im Regen

Kleintransporter fahren durch die Straßen. Männer in schmutzigen Jogginghosen steigen aus, greifen sich Kleinmöbel und werfen sie krachend ins Heck. Ich besorge mir Abendessen im Discounter. Während ich esse, tanzt eine Nilpferdherde durch die Wohnung über mir. Aus dem Hof orientalische Klänge. Das WLAN ist kaputt, im Erdgeschoss der Häuserschlucht nur Edge. Im Bad ist Klopapier mit Eichhörnchenmotiv. Ich gehe ins Bett und schlafe bestens.


Gelesen |  Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert von Caroline Criado-Perez, aus dem Englischen von Stephanie Singh. Ich wusste ja anekdotisch, dass es in dieser Hinsicht Schwächen gibt – etwa bei der Diagnostik von Herzinfarkten: Lange war aufgrund fehlender Daten nicht bekannt, dass Frauen andere Symptome als Männer zeigen und deshalb – im Vergleich zur Häufigkeit des Auftretens – öfter an Herzinfarkten versterben. Dass sich die Nicht-Berücksichtigung von Frauen in der Datenerhebung allerdings durch quasi alle Lebensbereiche zieht, ist in dieser Fülle absolut erschreckend – und auch für die gesamte Gesellschaft von Nachteil, zum Beispiel in Hinblick auf Kosten, die dieser Sachverhalt verursacht. Ein sehr lesenswertes Buch, das mit it 1.331 aufgeführten Quellen, das meisten davon wissenschaftliche Studien, vollständig datenbasiert und kein feministischer Tüchertanz ist. Im Übrigen erfährt man auch, warum die Schlangen vor Damentoiletten immer länger sind (Spoiler: nicht nur, weil Frauen keine Urinale benutzen).

Geguckt | Geheimsache Katar. Jochen Breyer und Julia Friedrichs dokumentieren, wie Katar sich die Weltmeisterschaft erkauft – und wie auch deutsche Funktionäre willig mitmachen.

Geguckt | die story – Fußball und Bier. Dass beides zusammengehört, ist nichts Neues. Neuer Aspekt: Lobbyismus, der über Sponsoring hinausgeht.


Und sonst | Ich habe mir die Grippeschutzimpfung abgeholt; hat mich zwei Tage weggehauen. Ausgemacht: Termin für Corona-Impfung #4, Termin für TÜV (Auto). Ausstehend: Termin für TÜV meiner Zähne (Stichwort „Bonusheft“). Im Zuge des Umzugs noch zu erledigen: Kündigung Fitnessstudio, Kündigung Telefonanschluss, Kündigung GEZ. Im Kontext „Optimierung Finanzen“ zu erledigen: Umfang der Kfz-Versicherung reduzieren. Mache ich alles gar nicht gerne. Spaßfaktor: minus 10.

Kurz vor Advent | Die Sonne steht tief in den Straßen, über den Wiesen, auf der Terrasse – und erwärmt skrupellos diese Novembertage. Ich trage nur einen Pullover, während ich in die Stadt fahre, durch die Felder laufe, einkaufe, spazieren gehen. Ich gieße die Kübelpflanzen, mitten im Herbst, mitten im November – ein November, der vor wenigen Jahren noch nieselig und matschig war. Der Garten ist knochentrocken.

Auf der Terrasse blüht der Eibisch. Ich fülle die Vogeltränke auf. Meisen, Amseln und Elstern, auch der Eichelhäher sind glücklich. Dieses Jahr gibt es keine Novemberpfützen, keine nasskalten Nachmittage.

Gelbe Blüte an einem Eibisch-Busch

In zwei Wochen ist der erste Advent.


Veränderungen | Ich schrieb es bereits: Ereignisse werfen Schatten voraus. Der Reiseleiter und ich haben beschlossen, unser Zusammenleben zusammenzulegen.

Denn der Alltag in zwei Städten, dazwischen Geschäftsreisen, ist auf Dauer ziemlich anstrengend. Es ist ein Leben aus der Reisetasche, immer vier Schritte vorausplanend, eine Art Strategiespiel: Was muss ich einpacken, wenn ich am Mittwoch in Dortmund losfahre, wenn ich zwei Tage beim Kunden verbringe (Bluse, Blazer, Büroschuhe), dort im Hotel übernachte (Waschbeutel), wenn ich danach zum Reiseleiter fahre, dort einen Tag Homeoffice mache (Hoodie) und wenn wir am Wochenende schwimmen wollen (Badeanzug) und wandern (Wanderschuhe)? Zusatzfrage: Wenn ich dann am Sonntagabend nach Dortmund zurückfahre und am folgenden Dienstag wieder einen Geschäftstermin mit Übernachtung habe – wann wasche ich am besten wo welche Wäsche?

Wir legen also unsere Leben zusammen, aus Praktikabilität, aber durchaus auch aus Zuneigung, und ich ziehe ins Münsterland. Es erwartet Sie hier also demnächst Umzugscontent, im Januar dann Akklimatisierungscontent, ab dem Frühjahr Content aus dem neuen Garten.

Meine Wohnung in Dortmund vermiete ich. Falls Sie jemanden kennen, der eine 3,5-Zimmer-Wohnung mit Garten, Gewächshaus und großer Wohnküche sucht, Dortmunder Süden, schicken Sie ihm gerne diesen Hinweis.


Spiegelung | Spaziergang am Stausee.


Gelesen |  Marilyn French: Frauen, übersetzt von  Barbara Duden, Monika Schmid, Gesine Strempel. Ein Klassiker der emanzipatorischen Literatur, erstmals veröffentlicht 1977. Das Buch erzählt die Geschichte mehrerer Frauen, beginnend in den 1950er Jahre in den USA. Erzogen zu unterwürfiger Angepasstheit, gehen sie zunächst traditionelle, heterosexuelle Ehen ein und widmen sich dem Haushalt und der Kindererziehung. Nach und nach brechen sie aus. Die erste Hälfte des Buches habe ich sehr gerne gelesen; French schildert mit großer Präzision die Bedrückung der Ehen. Mit der zweiten Hälfte konnte ich allerdings wenig anfangen: Die Schilderungen der 68er-Bewegung haben mich nicht abgeholt.

Gelesen | Ambra Garavaglia: Tutte le famiglie felici. Ein Buch, das ich mir aus Bologna mitgebracht habe. Ambra Garavaglia erzählt in diesem Coming-of-age-Roman ihre Jugend mit einem schizophrenen Vater, einer liebevollen, aber überforderten Mutter und den älteren Brüdern, die rasch das Elternhaus verlassen. Das Buch lässt sich gut weglesen, es gibt etliche gute Passagen, insgesamt bleibt die Geschichte aber an der Oberfläche.


Bekanntmachung | Ich bin jetzt auch auf Mastodon: @dieliebenessy@fnordon.de.


Und sonst | In der digitalen Nachbarschaftscommunity ist „ein blondes Huhn entlaufen“. Das Inserat wirft Fragen auf. Meint der Inserent tatsächlich ein Huhn? Oder seine Frau? Wie kann ich mir ein blondes Huhn vorstellen? Ich recherchiere und entdecke, dass es tatsächlich eine blonde Hühnerrasse gibt, das Bionda piemontese, das blonde Huhn des Piemont. Es legt 180 bis 200 Eier pro Jahr; das Fleisch, heißt es, sei delikat. Einen Tag später die Nachricht, das Huhn sei wohlbehalten heimgekehrt. Erleichterte Kommentare aus der Community, schließlich wurden auch schon Füchse gesichtet, und bei entlaufenen Haustieren, egal ob Huhn oder Hund, ist die Community stets besonders mitfühlend.

Begegnungen | Wir gehen im Park spazieren, der Reiseleiter und ich, ein botanischer Garten. Seit einiger Zeit, vielleicht sind es auch schon Jahre, gibt es dort eine Düne, mitten in Dortmund. Es fühlt sich tatsächlich an, als sei man an der See: Sand, Gräser und Gesträuch – es ist alles da, was eine Dünnenlandschaft braucht. Nur Meer fehlt, aber als wohlwollende Besucher nehmen wir das Summen der nahen Bundesstraße wohlwollend als Meeresrauschen; man muss gedanklich nur ausreichend flexibel sein.

Steg mit einer Bank, ein Boot, Sand und Gras

In der Dünenlandschaft kommt uns ein Mann entgegen. Er trägt einen Bogen mit weißem Gestrüß. Darin baumeln die Worte: „Will you marry me?“ Gehetzt strebt er auf den Ausgang des Parks zu, die Frage schwingt hin und her, der Sand ist tief, das Fortkommen mühsam. Hinter ihm stapft eine Frau mit einem Strauß weißer Rosen. Auch sie wirkt angeschlagen.

An anderer Stelle, jenseits der Düne, werden Hochzeitsfotos gemacht. Unter Bäumen steht eine Frau. Oder nein: Dort steht ein Kleid, und in dem Kleid steht eine Frau, steif wie Barbie. Vielleicht steht sie auch gar nicht selbst, vielleicht steht nur das Kleid, und ihre Beine berühren nicht den Boden, so groß und steif und gestärkt ist der Rock. Man könnte die Braut, so wie sie ist, nehmen und als Figur auf ihre eigene Hochzeitstorte stellen.

Hinter ihr an einem Baum lehnt ein Mann in Weste und Anzug, mutmaßlich der Bräutigam. Er ist Beiwerk zur Frau, die Frau ist Beiwerk zum Kleid. So werden sie fotografiert, unter herbstbunten Bäumen.


Kunst | Das Nest der Meisen aus dem Nistkasten. Wunderschön.

Vogelnest aus einem Nistkasten mit viel Moos, Haaren und Gräsern

Broterwerb | Das Jahr 2023 liegt brach und jungfräulich vor mir. Bis auf kleine Aufträge wehen noch Heuballen durch meinen Kalender. Die Unternehmen haben zwar schon ihre Budgets fürs neue Jahr geplant, aber noch keine Aufträge vergeben. Es gibt lose Zusagen, unverbindliche „Wir würden gerne …“ Mitte Januar wird das schon anders sein. Aber jetzt ist alles unsicher. Das ist das Gefühl, das ich aushalten muss als Selbstständige; das kenne ich seit sechs Jahren. Es wird jedoch niemals angenehmer. Es hilft auch nicht, dass ich weiß: Die Situation ist jeden November so.

Ich schaue also in meinen Kalender, in die Nachrichtenlage, auf Grafiken zu Gaspreisen, Corona-Zahlen und ukrainischen Geländegewinnen und frage mich: Ist das der normale Gang der Dinge, ist das November oder ist das nun die Krise? Vielleicht ist die Frage aber auch falsch. Vielleicht müsste ich fragen, ob die Krise inzwischen der normale Gang der Dinge ist.


Gelesen | Elf Schwangerschaften, sieben Abbrüche: „Ich wollte jedes Kind“ [€]. Eine Frau ohne Halt – ein Text, der mich aus der Komfortzone rausgeholt hat.

Gelesen | Klimaschutz: Was getan werden muss, damit endlich was passiert [€]. Ein gutes Essay, verkürztes Fazit:

Die Lösung liegt darin, dass die Willigen in der Klimapolitik sich zu einem „Klimaclub“ zusammenschließen. Dessen Mitglieder beschleunigen den Kampf gegen die Erderwärmung und schützen ihre Wirtschaft gleichzeitig mit Zöllen gegen Länder, die billiger produzieren können, weil sie eben keine Klimapolitik betreiben. […] Ist der Club erst einmal etabliert, wird der Rest der Welt es sich kaum leisten können, nicht mitzumachen. 


Und sonst | Ich befinde mich in einer schweren Bienenstichphase – kulinarisch, ohne Insektenbeteiligung.

Dies und das | Das Offline-Leben ist momentan sehr verdichtet. Ich habe eine Entscheidung getroffen, Ereignisse werfen Schatten voraus, sowas. Es gibt viel zu planen, viel zu besprechen.

Außerdem ist Großarbeitsphase: Zwischen Herbstferien und Weihnachten sind kaum Kundinnen und Kunden im Urlaub, vieles soll noch bis Jahresende geschehen, etliche Menschen möchten Ziele erreichen, Dinge beenden, anstoßen oder aufplanen, Meilensteine schaffen, Klarheit bekommen fürs neue Jahr, je nachdem. Das ist erfreulich, davon lebe ich: Menschen helfen, etwas zu bewegen.

Seit einigen Monaten bekomme ich regelmäßig Anfragen für Coaching – wegen beruflicher, mitunter auch privater Anliegen. Das mache ich beides. Ich sage immer: Ich habe keine Coachingausbildung; wenn jemand trotzdem meint, ich könne ihm Impulse geben, tue ich das gerne.

Bis zum Jahresende bin ich noch mehrmals in Sachen „Zeitmanagement“ und „mehr Gelassenheit“ unterwegs. Vergangene Woche sagte eine Kundin zu mir: „Ich kenne niemanden, der strukturierter arbeitet als du.“ Das hat mich sehr gefreut; das versuche ich in Seminaren weiterzugeben. Es hat allerdings wenig mit Methoden wie Pomodoro-Technik zu tun, sondern mit Haltung und guter Selbstführung, sich abgrenzen können, Konflikte eingehen, sich selbst fühlen, die eigenen Stressoren kennen. Besonders in den Präsenzseminaren führe ich sehr intensive Diskussionen mit den Teilnehmer:innen über diese Dinge.


Allerheiligen |  Wandern im T-Shirt, irriterend und bestürzend. Die Klimakatastrophe in Goldfarben.


Twitter und Mastodon |  A propos Wandern: Es wandern jetzt alle rüber, weg von Twitter, hin zu Mastodon. Ich war ja noch nie ein Early Adopter; ich bin in solchen Dingen immer erstmal wohlwollend beobachtend, niemals aktionistisch. Überdies – siehe oben: viel zu tun, und Twitter ist nun wahrlich nicht auf Platz Eins meiner Prioritätenliste, auch nicht auf Platz Zwei bis Fünf. Ich werde mich beizeiten damit beschäftigen, aber nicht jetzt.


Weiterbildung |  Heute war der erste Tag meiner Weiterbildung in Verhandlungstechnik. Viele kleine Dinge, die ich mitnehme. So muss das sein.


Fünfundzwanzig | Am Wochenende fand das 25-jährige Abitreffen meines Jahrgangs statt. Wir trafen uns in einer Kneipe in der Heimat, lachten viel, hatten gute Gespräche und tauschten Erinnerungen. Zum Beispiel die an den Schüleraustausch nach Moskau, mitten in der russischen Verfassungskrise 1993. Das Weiße Haus brannte, große Nervosität in der Elternschaft. Die Schule verschob die Abreise. Dann der Anruf aus Moskau: „Es wird nicht mehr geschossen, ihr könnt kommen!“ – und wir kamen. Zur Vorsicht und als Signal an die Eltern fuhr die Direktorin persönlich mit, eine Nonne, was sollte mit dieser Begleitung schon schiefgehen. Na gut, zwischendurch verschwand Karl, irgendwo zwischen Bolschoj-Theater und der Metro-Station, mitten in der Nacht, und auf dem Rückweg musste Nadine ihr Handgepäck ausräumen, flankiert von Maschinengewehren, weil die Gewichte der Pendeluhr, die die Gastfamilie ihr geschenkt hatte, in ihrer Zapfenform den Eindruck erweckten, als seien sie Handgranaten. Sonst war aber alles prima.

Zu Gast waren auch Lehrer und Lehrerinnen, darunter der Co-Direx, der seinen Lehrerkalender 1992/1993 mitbrachte und jedem, der bei ihm Deutsch hatte, seine Note vorlas.

Das nächste Mal treffen wir uns in fünf Jahren wieder, 2027. Die spannendste Frage wird dann sein, wie jedesmal, ob Stefan endlich altert. Während wir nämlich allesamt faltig und grauhaarig werden, manche markanter, andere nur runder, sieht Stefan immer noch aus wie frisch dem Stufenfoto entstiegen. Mit Achtzehn wirkte er optisch schon wie Fünfunddreißig; seither hält er sich auf diesem Niveau – ein Phänomen.


Und sonst |  Samstagmorgen auf dem Fußballplatz der U11-Mädchenmannschaft:

Panoramabild vom Kunstrasenplatz im Gegenlicht, schemenhaft Spielerinnen

</Urlaub> | Wieder zu Hause. Die Rückfahrt ist schon ein paar Tage her. Ich habe sie genossen – wegen des Panoramas und wegen der schönen Abende in der Schweiz und in Freiburg.

Die Fahrt durch die Schweiz war mir eine Freude. Die Berge sind toll. Ich hörte Klaviermusik und erfreute mich an der Kulisse. Raststätte Gotthard-Nord mit Blick nach Süden:

Im Vordergrund ein Parkplatz mit Auto, im Hintergrund hohe Berge

Ich traf tolle Frauen. Wir plauderten über Ernstes und über Un-Ernstes, aßen, lachten, reflektierten über Zeitgeschehen und über Persönliches.

In der Schweiz wurde ich mit Käsefondue beglückt. Ich lernte, dass es mit schwarzem Tee genossen wird, dazu Weißwein. Nachtisch: Vermicelles – Maronenpürree, serviert mit Baisser und Schlagsahne. Es ging mir schon deutlich schlechter! Danke nochmal in den Kanton Bern.

In Freiburg traf ich eine Dortmunderin. Frau @joriste ist jüngst in den Süden umgezogen. Wir hatten uns kurz vorher zufällig im Dortmunder Freibad getroffen, wo sie ihren letzen Schwumm absolvierte und mir vom Umzug erzählte – und hatten uns kurzerhand verabredet. Ich hatte mir Freiburg nämlich schon als Halt auf dem Weg von Bologna ins Ruhrgebiet ausgeguckt. Wie passend!


Bemerknis zur Verkehrspolitik | Insgesamt fuhr ich an die 4.000 Kilometer durch die Schweiz und vor allem durch Italien – mit Tempolimit, entspannt und ohne Stau. Weder um Mailand, noch um Rom, noch um Florenz oder Bologna staute es sich nennenswert, auch nicht in der Rush Hour. Der Verkehr floss, alle Verkehrsteilnehmer trieben in annähernd gleicher Geschwindigkeit über die Autobahn. Kaum jedoch überfuhr ich die schweizerisch-deutsche Grenze, traten die Leute das Gaspedal durch, die Jagd begann. Nach zwanzig Kilometern in Deutschland: Stau aus dem Nichts, zwanzig Minuten Herumstehen wegen Auffahren, Bremsen, Auffahren, Bremsen. Keiner gewinnt, alle verlieren. Was ein Irrsinn! Es könnte so einfach sein.


Bemerknis zu einer Herberge | Im Umkreis von Freiburg hatte ich das Vergnügen, in einer auf mehreren Ebenen wunderbaren Herberge zu übernachten. Das Ambiente: Schwarzwald-Folklore in Vollendung, Eiche rustikal, Putten, Olgemälde, Buntglasfenster, Stammtisch in der Gaststube.

Treppenhaus und Zimmertür, geblümter Vorhang, Eiche rustikal

Das Publikum: ein Geschenk. Da war das Ehepaar, in Style und Habitus in einer Derrick-Folge aus 1986 gefangen. Er: pullunderig erklärend, Siegelring am kleinen Finger. Sie: goldene Schnallen allüberall, Drei-Wetter-taftige Bauschaumfrisur. Beide: den kleinen Finger abgespreizt am Besteck.

Daneben zwei Vertreter, das Haar silbrig, Verkäufer alten Schlages – vielleicht Badgarnituren („WC-Set – flusenarm, ultraweich und saugfähig“), vielleicht Töpfe. Mit ihren Doppelreihern und den Manschettenköpfen wirkten sie ungemein Dieter-Thomas-Heck-ig. Sie gingen Listen durch, aus Papier; im Geiste sah ich sie Telefonbücher wälzen: „M haben wir. Du heute N, ich O und P?“

An der Kaffeemaschine sprach mich ein Mann an, Kurzarm-Hemd, Krawatte, Nikotinatem: „Ihr Kaffee ist fertig.“ – „Er ist erst fertig, wenn die Maschine ‚Bitteschön!‘ sagt“, antwortete ich. Es tropfte noch Espresso ins Macchiato, wir warteten, dann erschien im Display der Maschine: „Bitte schön“, zwei Wörter, ohne Satzzeichen. „Eine Frau, die sich mit Maschinen auskennt, chapeau!“ Schappo.

Im Herrgottswinkel saßen sechs Sachsen, offensichtlich. Ihr Dialekt war weich wie ihre Fürsorglichkeit. Magst du mir die Butter reichen? Ich gehe nochmal zum Buffet, soll ich etwas mitbringen? Die Marmelade ist köstlich, mag jemand probieren? Warte, bleib sitzen, ich hole dir Saft. Wollen wir uns ein Brötchen teilen? Du siehst aus, als möchtest du noch Kaffee – bemüh dich nicht, ich schenke dir ein.

Ein weiteres Derrick-Pärchen betrat den Raum. Wäre Sascha Hehn vorgefahren, im Golf Cabrio, den Pulli über die Schulter gelegt, vor der Brust die Ärmel im Sylter Kringel – es hätte mich nicht irritiert, es wäre nur folgerichtig gewesen.

Im Ernst: Es war ein tolles Hotel. Das Zimmer war nicht neu, aber bestückt von jemandem, der weiß, dass die Summe der Kleinigkeiten schwerer wiegt als buntes Budget-Design: mit Kofferablage und Schuhanzieher, Flaschenöffner und einem guten Fön – keinem, der an die Wand gedübelt ist, die Kordel so kurz, dass das Gerät kaum bis an den Kopf reicht; mit guter Seife und einem Verdunkelungsrollo, Steckdosen am Bett und einer Flasche Wasser; mit einer Matratze und einem Kissen, die Orthopäden Tränen der Rührung abringen; mit einem Fenster, das sich öffnen lässt, und einer Heizung, die man regulieren kann; mit frischem, weich-knusprigen Brot zum Frühstück.


Broterwerb | Direkt am Tag nach der Ankunft arbeitete ich ab, was liegen geblieben war, schickte Terminvorschläge zu Anfragen und ließ mich abholen zu dem, was geschehen war.

Heute habe ich konzentriert beim Kunden gearbeitet, beraten, zugearbeitet und zwischendrin Flurgespräche geführt, Neues erfahren. Das war sehr gut. Morgen Workshop, Donnerstag Seminar, in der kommenden Woche der erste Vormittag meiner Ausbildung zum Qualified Negotiator, einer Weiterbildung in Verhandlungstechnik.

Übernachtungsambiente fernab des Schwarzwaldes:

schlichtes Hotelzimmer, im Vordergrund auf deme Tisch ein Convenience-Salat, zwei Dosen Coke Zero, Himbeeren

Wein einkaufen | In diesem Urlaub habe ich mich einer Sache bislang nur wenig gewidmet: Wein. Deshalb fahre ich am Vormittag zum Weingut des Vertrauens, dem Ort des besten Rotweins.

Kennengelernt habe ich dieses Weingut 2018, als mich der Pfadfinder aus Quattro Castello dorthin fuhr. Seither bin ich großer Fan, und auch Freunde bringen, wenn sie in Italien sind, regelmäßig zwei bis zehn Kartons mit zurück nach Hause.


Modena | Auf dem Rückweg halte ich in Modena. Es ist Mittag und nichts los. Aber das macht nichts; ich möchte nicht shoppen und brauche keine offenen Geschäfte. Ich möchte nur etwas durch die Straßen flanieren.

Modena ist klein, deutlich kleiner als Bologna, hat aber ebenso hübsche Gassen und Arkaden. Ich steuere direkt die historische Markthalle an. Dort soll es Snacks geben, und ein Snack ist genau das, was ich jetzt brauche.

Der Mercato Albinelli wurde in den 1930er Jahren für die Händler der Piazza Grande gebaut – eine Eisenkonstruktion mit Marmorböden, fließendem Wasser (sehr modern und hygienisch damals) und mit einem Brunnen in seinem Zentrum. Hier gibt es Brot, Parmesan und andere anderen Käse, Fleisch, Obst und Gemüse, Zeitschriften und Spezialitäten.

Vor der Markthalle finde ich ein Plätzchen in einer Trattoria, esse ein Panini, lese und schaue den Menschen im Markt zu. Danach streife ich noch durch die Straßen. Dann fahre ich zurück nach Castenaso.


Broterwerb | Am Abend arbeite ich ein wenig. Es haben sich einige Mails angesammelt, die ich trotz Abwesenheitsnotiz beantworten möchte. Sonst wird das nach meiner Rückkehr alles zu kompliziert – für mich oder für meine Kunden, und das will ja niemand.


Gehört | Der Markisenmann von Jan Weiler. Klappentext:

Die fünfzehnjährige Kim hat ihren Vater noch nie gesehen, als sie von ihrer Mutter über die Sommerferien zu ihm abgeschoben wird. Der fremde Mann erweist sich auf Anhieb nicht nur als ziemlich seltsam, sondern auch als der erfolgloseste Vertreter der Welt. Aber als sie ihm hilft, seine fürchterlichen Markisen im knallharten Haustürgeschäft zu verkaufen, verändert sich das Leben von Vater und Tochter für immer.

Die Geschichte hat ein paar Schwächen, aber alles in allem habe ich sie gerne gehört. Ob ich sie auch gerne gelesen hätte, kann ich nicht sagen (wahrscheinlich weniger) – fürs Autofahren ist das Hörbuch aber prima: Es kommen nicht zu viele Personen vor, ich konnte der Handlung auch stückweise gut folgen, und es gibt ein Geheimnis, dem man auf den Grund gehen möchte.

Bologna |  Ich hatte mir schon gedacht, dass Bologna eine tolle Stadt, aber mal ganz ehrlich: Wow. Überwältigend.

Vor allem: So viele Menschen. Gestern mache ich den Fehler und fahre erst gegen 13 Uhr nach Bologna. Es ist so voll, dass ich gar nicht ins Parkhaus komme. Um drei Kurven stehen die Wagen, man kann nicht vor und nicht zurück. Ein Mann in einer gelben Weste regelt, wer hinein darf in die Tiefgarage unter die Piazza VIII Agosto. Von überall hupt es, aber schlussendlich warten alle schicksalsergeben. Es dauert zwanzig Minuten, bis ich hinunter fahre – und nochmal fünfzehn Minuten, bis ich dort unten einen Parkplatz finde. Denn es darf mitnichten nur jemand reinfahren, wenn jemand rausfährt; der gelbe Mann regelt alles nach Gefühl, und wenn kein Parkplatz frei, man aber drin ist, muss man so lange durch die Etagen fahren, bis irgendwo jemand rausfährt.

Die Straßen sind voll von Menschen: Touristen, aber vor allem Italienier und Italienerinnen. Die Stadt summt und brummt. Von überallher ertönt Musik, Gesang und Klavierspiel, Gitarristen und Flötisten. Auf der Piazza Maggiore sitzen die Menschen auf der Treppe der Basilica di San Petronio, unter den Arkaden der Stadt stehen hunderte und tausende von Tischen. Alle sind besetzt.

Piazza Maggiore im Panorama

Die Arkaden – von ihnen gibt es vierzig Kilometer in der Stadt, breit und prachtvoll, schmal und gedrungen, mit namhaften Geschäften oder kleinen Kaschemmen, die meisten voll mit Tabaccherien, Bars und Imbissen, mit Läden, die ein Sammelsurium von allem verkaufen. Im Universitätsviertel reiht sich Tür an Tür. Sie führen zu Instituten, in Bibliotheken und in Dekanate.

Die Università di Bologna ist die älteste Universität Eurpoas und vielleicht sogar die älteste der Welt, gegründet im 11. Jahrhundert. Berühmte Studierende waren Nicolaus Copermicus, Albrecht Dürer, Paracelsus, Francesco Petrarca und Erasmus von Rotterdamm. Bemerkenswert: Seit der Gründung sind Frauen an der Universität zugelassen; leicht hatten sie es allerdings nicht. Heute studieren hier mehr als 81.000 Menschen. Auch ihretwegen ist die Stadt so lebendig.

Ich besuche den Palazzo Poggi. In ihm befindet sich der Sitz der Universität und das Museo di Palazzo Poggi mit seiner wissenschaftlichen Sammlung aus dem 18. Jahrhundert.

Ich höre zum ersten Mal von Ulisse Aldrovandi, einem Arzt und Biologen. Von 1571 bis 1600 bekleidete er den Lehrstuhl für Medizin, machte Exkursionen und legte ein Herbarium und ein Naturalienkabinett an. Im Palazzo Poggi ist seine Sammlung ausgestellt, darunter hunderte von Druckplatten mit Pflanzen, Vögeln und anderen Dingen. Sie sind die Grundlage seines Werkes in 17 Bänden, das in der Bibliothek der Universität aufbewahrt wird, aufwändig aquarelliert.

Ein paar Zimmer weiter: Anna Morandi Manzolini und ihr Mann Giovanni.

Wachsfiguren von Giovanni und Anna Morandi Manzolini

Anna Morandi, geboren 1714, und ihr Mann schufen anatomische Wachsmodelle und entwickelten neue Seziertechniken. Unter anderem formten sie 170 Modelle von weiblichen Fortflanzungsorganen und dem Uterus in den verschiedenen Phasen der Schwangerschaft. Sie wurden in der Ausbildung von Hebammen eingesetzt.

Schaukasten mit offenen Uteri, darin Kinder in verschiedenen Lagen

Nachdem ihr Mann an Tuberkulose gestorben war, führte Anna die Werkstatt alleine weiter. Obwohl sie selbst nicht studiert hatte, hatte sie einen exzellenten Ruf als Anatomin, verfasste theoretische Schriften und erhielt Angebote von internationalen Universitäten und Akademien. Damit sie in Bologna blieb, zahlte der Papst höchstselbst ihr schlussendlich ein jährliches Gehalt auf Lebenszeit. Dennoch erhielt sie deutlich weniger Geld als ihre männlichen Kollegen und hatte Mühe, ihren zwei Söhnen – nur zwei ihrer acht Kinder erreichten das Erwachsenenalter – Unterhalt und Ausbildung zu bezahlen.

Anatomiausstellung mit Wachsfiguren, Organen und Körperteilen

Im Palazzo Poggi gibt es neben den biologischen und anatomischen Sammlungen Bücher, Landkarten und Globen zu sehen, Schiffsmodelle und Militärarchitektur. Nautik und Kartographie waren relevante Wissenschaften: Die Welt war vor 300 Jahren noch nicht komplett erkundet.

Globus und Bücherschränke

Ebenso beeindruckend wie die Wissenschaft sind die Kirchen von Bologna.

Die Basilica San Petronio ist hoch, sehr hoch. Es sind gewaltige Dimensionen, die sich mir eröffnen, als ich durch die Pforte trete. Ich lese später nach, dass San Petronio die fünftgrößte Kirche der Welt ist, Gewölbehöhe 45 Meter, und die größte Backsteinkirche überhaupt: Die Basilica verfügt über mehr als 250.000 Kubikmeter umbauten Raum. Über Jahrhunderte wurden an ihr gebaut.

Aber auch die Kathedrale von Bolgna ist nicht übel: majestätischer Barock, dazu Orgelspiel.

Panoramaaufnahme einer Barockkirche

Bologna hat die Beinamen La Dotta, La Grassa und La Rossa: die Gelehrte, die Fette und die Rote. Rot wegen der vorherrschenden Farbe in der Stadt, gelehrt wegen der Wissenschaften und fett – der Grund ist unübersehbar, wenn man von der Piazza Maggiore in eine der Seitenstraßen einbiegt, in der sich die Geschäfte mit den Lebensmittel aneinanderreihen, nur unterbrochen von Bars, Restaurants und Haushaltswarenläden. Mit jedem Schritt riecht es anders: hier nach Fisch und dort nach Brot, links nach Fleisch und rechts nach Kaffee, weiter vorne nach Käse.

Die Schinken hängen schwer in den Schaufenstern. Das Brot stapelt sich. Gläser mit Sugo werden ausgestellt. Hände greifen in Körbe mit Pasta, um sie abzuwiegen für die Kundschaft – und überall Menschen. Sie drängen sich durch die Gassen, stehen Schlange in den Läden, probieren und kaufen ein. Das ist hier alles kein Schauspiel, keine Ausstellung für Touristen; hier wird konsumiert und degustiert, hier wird genossen und später zu Hause gekocht.

Aber erst gibt es noch einen caffè.

Espresso und Cola mit Buch und Blick auf die italienische Stadt

Eataly | In Bologna gibt es einen Freizeitpark – für Essen. Das verwundert nicht in einer Stadt, in der ganze Straßenzüge sich nur mit Essen beschäftigen – und in einem Land, in dem Quizshows produziert werden, die sich den Namen von Gerichten und Kochtechniken widmen.

Ich fahre in diesen Park, eine Mischung aus Messe, Supermarkt, Fressmeile und Phantasialand. Vor der Tür hockt ein Truthahn auf dem Zaun. Er weiß nicht, dass im Gebäude seine Kameraden auf Paninis gereicht werden. Zwei Meter weiter streicheln Kinder Kühe. Ihre Eltern stehen daneben und denken an Mozzarella und Schmortopf.

Ich trete ein. Man kann auf Bonbons wippen, eine Maccheroni-Rutsche hinunterrutschen und auf mit Pudding gefüllten Hörnchen reiten. Und man kann essen, die ganze italienische Speisekarte rauf und runter.

Karussel mit Süßwaren, auf denen man reiten kann

Die Kinder, sie sind hier gut aufgehoben, nicht nur auf dem Cornetto. Neben dem Stand mit den Arrosticini gibt es das Urlometro, das Schrei-o-Meter, in das man hineinschreit – je lauter, desto mehr Lampen leuchten. Das Urlometro entfesselt Kräfte. Kinder brüllen mit hochrotem Kopf in den Gramophontrichter, bis er sich blau färbt.

Daneben und auch sonst überall sitzen Menschen und essen. Es gibt ein reines Eintrittsticket, außerdem ein Ticket Ingresso + Degustatzioni, Eintritt und viermal Probieren, Kinder bis 90 Zentimeter gratis. Ich glaube, das haben hier alle außer mir.

Irgendwo zwischen der Mortadellawelt und dem Balsamico Village, auf dem Weg vom Pasta-Karussell zur Olivenölpresse, muss der Zustieg zum Huhn sein. Das Huhn hat vier Sitze, und man kann mit ihm Wilde-Maus-mäßig hoch oben durch die Halle fahren. Ich bin sehr in der Stimmung, dies zu tun, bin dann aber abgelenkt von einem begehbaren Parmesan. Der Parmesan erinnert an Darmkrebsaufklärung in der Innenstadt, ein gelbes Röhrensystem mit Löchern und Polypen. Familien wandern hindurch und spielen fangen.

Beim Rausgehen sehe ich, dass der Zustieg zum Huhn in der Luna Farm ist. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Ich habe Einkäufe am Arm, Pasta und Sugo, Risotto und Tomatencreme. Ich habe zehn Euro Eintritt gezahlt, um fünfzig Euro für italienische Lebensmittel auszugeben. Aber egal, ich habe die ersten Weihnachtsgeschenke und überhaupt: Es war ein Erlebnis.


Herbstsommerwehmut | Ich stelle fest, dass fast schon November ist, wenn ich nach Hause kommt. Jedenfalls wird heftig Herbst sein nördlich der Alpen. Das wird unerfreulich, auch wenn natürlich auch hier in Italien Herbst ist. Aber es ist ein anderer Herbst, ein weniger herbstiger Herbst. Es ist ein Sommerherbst mit goldenen Blättern und T-Shirt.

Dienstag | Am Morgen regnet es. Wir verbringen ihn mit Chillen und Drecksau spielen. Am Nachmittag fahren wir ans Meer und gehen schwimmen.

Das Meer ist wunderbar warm, wärmer als Freibad im Sommer. Wir genießen die Nachmittagssonne. Die Wellen sind gerade richtig, um ihnen entgegen zu springen, aber sich nicht vor ihnen zu fürchten.

Ab und zu kommt ein Spaziergänger vorbei, eingepackt in eine Steppweste, und schaut erstaunt auf die Deutschen, die dort im Wasser toben, als wären noch Ferien.


Mittwoch | Am Morgen wieder Pool, lesen, Wassertaxi und rumgammeln. Am Nachmittag fahren wir wandern in die Nähe von Serramonacesca, einer 500-Seelen-Gemeinde im Majella-Nationalpark.

Wir bekommen einen Eindruck, wie Wald aussehen kann, wenn er nicht nur aus vom Borkenkäfer zerfressenen Fichtenplantagen besteht.

Bergig-hügelige Landschaft mit Felsen und dichtem Wald

Beim näheren Hinsehen ist es erstaunlich, wie vielseitig der Wald hier ist: unzählige Laubbaumarten, Kiefern, Schlehen, Ginster, Reben, Bambus, Kraut und unzählige andere Pflanzenarten. Im Matsch der Wege sehen wir immer wieder Wildtierspuren: Abdrücke von Rehen und das von Wildschweinen zerwühlte Erdreich.

Falls Sie angesichts meiner Bilder denken: „Es ist so hübsch dort!“, dann kommen Sie her! Hier herrscht massive Landflucht, Zuziehende werden gesucht. Italien hat die Zweitälteste Bevölkerung der Welt und eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU. Es stehen Tausende von Immobilien leer. Diese hier zum Beispiel:

Potenzialimmobilie in ruhiger Lage mit kreativen Möglichkeiten. Eigene Vorstellungen können hier in hohem Maße verwirklicht werden.

Wir stapfen weiter durch Wald und Flur. Oberhalb von Serramonacesca liegt die Abbazia di San Liberatore a Maiella, eine ehemalige Klosteranlage. Sie wird als eine der schönsten mittelalterlichen Architekturensembles der Abruzzen bezeichnet.

Die Anlage stammt aus dem 11. Jahrhundert, ist also fürchterlich alt. Deshalb ist ist Regelmäßigkeit des Baus umso erstaunlicher, besonders in dieser Abgeschiedenheit. Das ist wohl eher selten, wie wir lesen.

Wir machen Pause und gehen zurück nach Serramonacesca. An der Bar ist was los. Rentner beim Kaffee, schwatzende Frauen und Rentner, die durch ein kleines Fenster gereichte Panini essen – alle treffen sich dort.

Hübsche Tür:

Tür

Donnerstag |  Es regnet Bindfäden. Am Nachmittag fahren wir nach Chieti. Das ist die nahe gelegene Kreisstadt. Dort waren wir noch nicht. Ziel: Abendessen.

Chieti ist eine der ältesten Städte Italiens. Mythische Legenden besagen, Achilles persönlich habe Chieti (damals: Teati) gegründet – im Jahr 1181 vor Christus zu Ehren seiner Mutter. Ganz sicher existierte die Stadt bereits viele Jahrhunderte vor Christus. Wegen ihrer Lage zwischen den Meer und den Bergen hatte sie eine herausragende Stellung und war ein wichtiges Wirtschaftszentrum. Entsprechend gibt es in der Stadt viele archäologische Städten, auch ein archäologisches Museum, das an einem römischen Amphitheater errichtet wurde. Wir gucken uns Steine und Vasen an; am interessantesten sind die nachgebauten römischen Zimmer und der Friedhof.

Nachdem wir genug die Stadt angeguckt hatten, gab’s Abendessen:

Pizza Biancha mit Büffelmozzarella

Freitag | Reisetag. Wir packen das Auto, räumen das Haus auf und fahren Richtung Rom. Die Strecke zwischen Pescara und Rom ist ausnehmend hübsch. Man fährt bis auf 1.000 Meter hoch, links und rechts Berge. Ganz oben ist das Fuciner Becken, einer der fruchtbarsten Gegenden Italiens – ein ehemaliger See, der im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Er war das größte Binnengewässer Mittelitaliens.

Autobahn zwischen Bergen und tief hängenden Wolken

Auf dem Weg zum Flughafen halten wir in Tivoli. Durch Stau schieben wir uns den Berg in die Stadt hinauf, wir können allerdings nirgendwo parken, alles ist überfüllt. Wir entschließen uns, statt in der Stadt ein Eis zu essen und die Hadriansvilla anzuschauen.

Die Hadriansvilla, benannt nach dem römischen Kaiser Hadrian (76-138), ist die größte und aufwendigste Palastanlage, die sich je ein römischer Kaiser erbauen ließ. Sie entstand in den Jahren 118 bis 134 nach Christus, ist also verdammt alt, noch älter als sowieso schon viele Dinge hier in Mittelitalien. Die ganze Anlage umfasst mehr als 125 Hektar, ist drei Kilometer lang und eineinhalb Kilometer breit.

Hadrian verzichtete seinerzeit auf eine weitere Ausdehnung des Römischen Reichs, sondern setzte auf einen Ausbau der Infrastruktur und des Justizwesens, auf Grenzbefestigung („Hadrianswall“) und auf Künste – er selbst sprach Latein und Griechisch und interessierte sich für Musik, Malerei, Bildhauerei und Dichtung, Geometrie und Arithmetik, Heilkunde und Astronomie. Heute kann man an der Hadriansvilla in Tivoli alte Steine gucken – beeindruckende alte Steine! Es gibt Wohn- und Repräsentationsbauten, eine Bibliothek, eine Themenanlage, einen Bankettsaal, Parks und im Zentrum das teatro maritimo.

Leider können wir nicht so lange bleiben, wie wir wollen, und müssen weiter zum Flughafen. Also nur Schnelldurchgang. Ein Eis gibt’s auch nicht. Tragisch!

Wir fahren nach Rom-Fiumicino. Der Reiseleiter und die Kinder steigen aus und fliegen heim nach Deutschland. Ich fahre weiter nach Bologna. Fünf Stunden Autobahn, bis auf die letzte halbe Stunde recht entspannt. Dann irre ich im Stockfinstern über die Landstraße bei Castenaso und suche das Agriturismo – entlang winziger, unbeleuchteter Hausnummern und langer Einfahrten.

Die neue Unterkunft:

Einzimmer-Appartment mit Bett und Küche


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