Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Die Duldsamkeit des Vinyls

25. 5. 2023 9 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Vinyl-Abende | Eine Sache vergaß ich über Belgien zu erzählen, nämlich das Vinyl. Im Landhaus stand ein Plattenspieler, neben dem Plattenspieler lag ein Stapel mit Schallplatten, und später am Abend entdeckten wir, neben dem Kamin und hinter einem schweren Polstersessel, einen Schrank voll mit weiteren Platten.

Plattenspieler, daneben eine Plattenhülle von Pinkfloyd

Das Knistern einer anlaufenden Schallplatte – ich hatte dieses Geräusch fast vergessen. Ist es nicht unglaublich heimelig? Und ist es nicht wunderbar entschleunigend, dass es nicht sofort losgeht, wenn man „Play“ drückt, wenn man den Tonabnehmer auflegt? Vielmehr ist es so, dass es losgeht, wenn die Platte meint, dass es losgehen solle, wenn wir uns dem Lied genähert haben, wenn man schon zurückgekehrt ist an den Tisch und wieder Platz genommen hat.

Es überraschte uns die Häufigkeit des Aufstehenmüssens. Obwohl die Mitglieder der Reisegruppe allesamt schallplattensozialisiert ist, sind wir seit vielen Jahren Playlisten gewohnt – Endlosschleifen, die niemals aufhören, bei denen es keine A- und keine B-Seite gibt; Playlisten, die so lang sind, dass sie für fünf Abende reichen. Bei den Schallplatten aber hebt sich nach zwanzig Minuten der Tonarm, und die Musik verstummt. Diejenigen, die auf der Bank saßen und nicht aufstehen konnten, ohne dass andere aufstehen mussten, bedeuteten mit einer Geste, dass die Musik alle sei. „DJ!“, riefen sie, und jemand stand auf und legte eine neue Platte auf.

Das regelmäßige Neuauflegen bedeutete gleichzeitig Endlichkeit. Gefiel ein Lied nicht, gefiel eine ganze Platte nicht, war das kein Grund aufzuspringen, sondern lediglich ein Grund auszuhalten. In zwanzig Minuten erreichte die Musik ohnehin ihr natürliches Ende; in zwanzig Minuten stand sowieso jemand auf, würde auf die B-Seite verzichten und eine neue Platte vom Stapel nehmen. Die Endlichkeit machte uns duldsamer. Je betrunkener wir wurden, desto mehr erschien uns das Schallplattenauflegen als eine Metapher des Lebens: Es ist, wie es ist und endet unabwendbar – und selbst von der schlimmsten A-Seite hebt sich der irgendwann der Tonarm, und das Grauen weicht neuen Möglichkeiten.


Gelesen | „Wenn er einen Bonus bekommt, überweist er mir einen Batzen Geld“ – zwei Hausfrauen und ein Hausmann erzählen, wie sie mit der Abhängigkeit vom Geld des Partners umgehen.


Letzte Generation | Das Vorgehen gegen die Letzte Generation schockiert mich und widert mich an – und ich bin sicher, dass es Teile der Aktivisten radikalisieren wird. Wie soll es das auch nicht? Während diejenigen, die den Klimawandel leugnen, die ihn verursacht haben, die um des eigenen Vorteils willen lobbyieren und lobbyiert werden, die mit dem Verfehlen der Klimaziele Rechtsbruch begehen – während diese Menschen kraft ihrer Macht und auf Kosten bereits der jetzigen, vor allem aber aller nachfolgendenen Generationen von Konsequenzen verschont bleiben, kriminalisiert der Staat mit dieser Aktion das Anliegen des Klimaschutzes. Es steht außer Frage, dass nicht alle Aktionen der Letzten Generation angemessen sind und mitunter auch einer rechtlichen Betrachtung bedürfen; es steht jedoch nicht außer Frage, dass ihr Anliegen legitim ist. Wenn wir den Klimaschutz mit der gleichen Konsequenz verfolgen würden wie wir die Klimaaktivisten verfolgen, gäbe es im Zentrum Berlins keinen Autoverkehr mehr, den sie blockieren könnten.


Gelesen | In Frankreich bereitet sich nach den klimatischen Erfahrungen der vergangenen Jahre und der weiterhin massiven Trockenheit auf einen Worst Case vor:

Minister Béchu erklärte, es gehe darum, „mit dem Leugnen aufzuhören“. Die bisherige Annahme von zwei Grad Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts sei nur realistisch, wenn die Vorgaben im Pariser Abkommen von 2015 eingehalten würden. Das werde höchstwahrscheinlich nicht der Fall sein. […] Hitzewellen könnten im Sommer zwei Monate und mehr dauern […] Da es fast nirgends mehr schneien dürfte, würde der gesamte Wasserzyklus gestört. Trockenphasen ohne jeden Regen könnten neun Monate von Frühling bis Herbst dauern. Die Waldbrandgefahr stiege in gefährdeten Regionen von 40 auf 97 Prozent. Dazwischen wäre mit sintflutartigen Niederschlägen zu rechnen. […] Das französische Umweltministerium schätzt die öffentlichen Mehrausgaben für die Vorbereitung auf das Vier-Grad-Szenario auf 45 Milliarden Euro – und zwar nicht als einmalige Ausgabe, sondern jedes Jahr. 

Vier Grad mehr – Paris bereitet sich auf schleichende Katastrophe vor

Schweine | Aktuelles Insight:

Zwei Meerschweine fressen Löwenzahnblätter. Meerschwein Eins hat ein vom Kauen zerknautsches Gesicht, Meerschwein Zwei guckt ertappt.

Und sonst | Ich habe eine Führungskräftetagung moderiert – ein harter Ritt durchs Zeitmanagement. Nachdem wir am Vormittag 45 Minuten in der Zeit hingen – es gab relevanten Informations- und Diskussionsbedarf bei den fast 50 Teilnehmer:innen -, und ich dann noch erfuhr, dass wir am Nachmittag früher fertig werden müssen, erreichte ich mit Kniffen und Kooperationen eine Punktlandung um 16:55 Uhr (und das inhaltliche Tagesziel). Ich war ein bisschen stolz auf mich – und danach auch ein bisschen erschöpft.

Kommentare

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  1. Alexandra sagt:

    100%ige Zustimmung zu deiner Ausführung zur letzten Generation und ebenso 100%ige Ratlosigkeit was man nun selber machen soll. Es ist alles so aussichtslos.

    1. Vanessa sagt:

      Spenden könnte man. Und bei der nächsten „Fridays for Future“-Demo auf die Straße gegen, um dem Anliegen beider Gruppierungen Nachdruck zu verleihen (auch wenn es getrennte Gruppierungen sind).

  2. iris sagt:

    danke für den gut formulierten absatz über die letzte generation. eigentlich macht mich das ganze wortlos. „gut formuliert“ ist ja nicht annähernd hinreichend.

    1. Vanessa sagt:

      Irgendwo las ich, dass nicht die „Letzte Generation“ sich radikalisiert, sondern vielmehr ihre konservativen Gegner. Das fand ich dann noch treffender.

  3. Nihilistin sagt:

    Eigentlich ist es beschämend zu sehen, dass eine Privatperson kurz und knapp eine Formulierung zur letzten Generation findet, die sowohl unseren Medien als auch unsere Politik gut zu Gesicht stünde. Stattdessen werden die Leute der LG getreten, geschlagen, mit Häme und mit Flüssigkeiten übergossen, werden sie verglichen mit der Mafia, Clans, Kriminellen, RAF, Terroristen. Und das eine bayerische Generalstaatsanwaltschaft die demokratische Gewaltenteilung bewusst und absichtlich ignoriert, macht mir für die Zukunft in vielerlei Hinsicht Angst.

  4. Memi sagt:

    Ich kann mich nur anschließen. Die Worte zur letzten Generation sind mit Abstand das Beste und Stimmigste, was ich bisher dazu gelesen habe. Danke dafür.

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