Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Gedankliche Verknüpfungen zwischen Schuster, Reifenwechsel und damals Dreiundneunzig

29. 9. 2020 16 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Wie damals Dreiundneunzig | Ich kümmerte mich um einen Termin für Inspektion und Reifenwechsel, und am Ende geschah etwas Besonderes, aber dazu muss ich etwas ausholen.

Ich mache meine Auto-Termine bei der rot-weißen Autoteile-Firma. Die Menschen, die in der mir nächstgelegenen Filiane arbeiten, sind in etwa genauso unfreundlich wie mein Schuster, und das soll etwas heißen.

Wenn ich als Kundin zu meinem Schuster gehe und Schuhe auf die Theke stelle, die er besohlen möge, macht er mich erstmal nieder. Das gehört zur Atmosphäre, ein Schusterbesuch ist nur echt mit diesem Feature. Ich werde so richtig abgesaut. Er fragt, wie ich bitteschön meine Schuhe derart runterrocken könne, da sei ja nur noch ganz wenig Sohle drauf! Wo ich denn überall hinlaufe, ob ich schonmal eine Fußfehlstellung habe untersuchen lassen, „Sie laufen ja auf der Felge, sehen Sie, wo waren Sie damit denn überall? Haben Sie nur dieses eine Paar?! So geht man doch nicht mit Schuhen um!“ Es ist keinerlei Ironie dabei, die Sache ist sehr, sehr ernst. Er nimmt es als persönlichen Affront, dass seine Kunden ihre Schuhe ablaufen; wahrscheinlich liebt er einfach Schuhe und kann nicht ertragen, dass sie Arbeit verrichten müssen. Ich bin deswegen, als ich mal eine labile Zeit hatte, zu einem anderen Schuster gegangen. Ich hatte schlimmen Liebeskummer, war innerlich ein Krater, in den eine Bombe eingeschlagen war, und befürchtete, bei Infragestellung meines Laufverhaltens in Tränen auszubrechen. Der andere Schuster, dessen Laden weiter weg ist, war allerdings genauso, er machte mich ebenfalls rund wie eine Rumkugel. Also gehe ich seither wieder zum Stammmschuster – wenn ich schon abgesaut werde, dann wenigstens heimatnah.

Bei den Autoteile-Menschen ist es so, dass ich immer einen Termin habe; ich mache ihn online und gebe an, was ich brauche: Reifenwechsel zum Beispiel. Dann komme ich zu gegebener Zeit in den Laden und habe auch schon alles vorbereitet – Autoschlüssel, Fahrzeugschein, Inspektionsheftchen, Treuepunkte, einfach alles, ich weiß ja, wie es läuft, und möchte niemanden zusätzlich verärgern -, die Mitarbeiterin blickt von ihrem Rechner auf und sagt in einem Ton, mit dem man Glas schneiden kann: „JAAAAAAA!“ Ihre Brauen sind dabei tief ins Gesicht gezogen, ihre Augen sind Schlitze. Mit einem Gesicht wie diesem würgt man kleine Kätzchen. Ich werde direkt unterwürfig; ich glaube, das ist Sinn der Sache. Ich nenne meinen Namen und trage mein Anliegen vor, sie unterbricht mich und sagt in ihrer Glasschneidestimme: „Dazu brauchen Sie einen Termin!“ Ich weise darauf hin, dass ich einen solchen habe, 8 Uhr 15, also genau jetzt, und sie antwortet: „Das wollen wir aber erstmal sehen!“

Ich fände es sehr schön, wenn sie es sähe, in ihrem System. Aber das sage ich nicht; schnippische Kommentare sind fehl am Platz, das ist Nordkorea hier drinnen, nicht Dortmund; mit derartigen Bemerkungen kommt man in den Keller und muss dort fünf Tage und Nächte im Dunkeln Reifen wuchten, bei Wassersuppe und schimmeligem Brot. „Kundennummer hamse bestimmt nicht parat, wie alle!“, bellt sie mich an, und ohne eine Antwort abzuwarten: „Ihr Kennzeichen!“ Ich nenne es; sie versteht es nie beim ersten Mal. Man darf das Kennzeichen aber auch nicht sagen wie ein Klugscheißer, „Dora Otto Wilhelm Anton Eins Zwo Drei“, weil sie dann völlig in Rage gerät, das ist zu riskant. Also artikuliere ich die Buchstaben so deutlich wie möglich, schnalze die Laute und lasse meine Lippen vibrieren, als sei ich in der logopädischen Übungsstunde. „Und Sie sagen, Sie haben einen Termin?!“ In der Frage schwingt eine Unterstellung mit, die eine Betonung dadurch erfährt, wie sie mich taxiert, hoch und runter, von den Füßen bis zum Scheitel. Ihr Blick sagt, dass sie es für gänzlich unmöglich hält, dass eine Frau wie ich, in diesen Klamotten, mit dieser Frisur, jetzt und hier einen Termin hat, ausgerechnet zum Reifenwechsel. „Ja“, hauche ich etwas zu hoch, meine Stimme ist leicht angetrocknet und verrutscht mir – gerade jetzt, wo ich Haltung zeigen sollte.

So geht das eine Weile hin und her; ich kürze das jetzt mal ab. Schlussendlich findet sie mich und meinen Termin, und alles geht seiner Wege. Ich bin erleichtert und kann wieder atmen. Wenn ich den Laden verlasse, fühle ich mich wie damals Dreiundneunzig bei der Einreise nach Moskau, als Jelzins Truppen gerade das Parlament mit Granaten beschossen hatten und sich das Land kurz vor dem Bürgerkrieg befand. Zehn Minuten hockten die Grenzer über meinem Pass, während ich allein und 15-jährig in diesem winzigen Raum stand, links internationales Gebiet, rechts die Russische Föderation, hinter mir ein Spiegel und gegenüber die Fensterscheibe mit den grimmigen Militärs, die heftig debattierten und mich dabei immer wieder ansahen, mir befahlen, meinen Rucksack abzulegen und meine Jacke auszuziehen, mich taxierten und dann mit meinem Pass verschwanden, telefonierten, wiederkamen und mich schließlich durchließen.

Was ich eigentlich erzählen wollte: Gestern machte ich einen Termin für Reifenwechsel und Inspektion, und kurz danach rief ein Autoteile-Mensch an. Ich wappnete mich innerlich gegen emotionale Kälte und psychologische Kriegsführung. Doch er sprach sehr freundlich, bestätigte den Termin und sagte, dass er ins System geschaut und noch ein paar Fragen habe, Bremsflüssigkeit hier und Klimaanlage da, ob ich sonst noch einen Wunsch hätte. Das ließ mich so dermaßen perplex zurück, dass ich Schluckauf bekam.


Ausflug | Den Schluckauf hatte ich, als ich in Wuppertal-Barmen auf dem Marktplatz saß und wartete. Später hatte ich dort ein Geschäftsessen, bei dem wir uns sehr gut unterhielten.

Ich habe mich sehr gefreut, den Kunden wiederzutreffen. Ich mag meine Kunden einfach, allesamt. Das kann ich gar nicht oft genug sagen.

Kommentare

16 Antworten: Bestellung aufgeben ⇓

  1. Mit Autowerkstätten und Föderationen habe ich nicht so viel Erfahrung, aber die Sache mit den Schustern kenne ich: Zwei fachmannswürdige Paar stehen hier noch rum, weil ich mich noch nicht in der Verfassung gefühlt habe. Fahrradschrauber sind übrigens genauso. Ich fahre darum eine ausgeleierte Kette auf runtergerockten Ritzeln. Machste nix.
    Herzlich: Charlotte

    1. Vanessa sagt:

      Fahrradschrauber, oh ja! Auch jedesmal eine helle Freude.

  2. PaulineM sagt:

    Eine ganz ähnliche Behandlung, wie Sie in Russland hatten, habe ich bei der Einreise von West- nach Ostberlin 1969 erlebt. Es war damals die obligatorische Berlin Schülerreise mit dem ebenso obligatorischen Tagesbesuch in Ostberlin. Ich wurde zusammen mit einer Mitschülerin 2 Stunden lang in einem leeren Raum geparkt, unsere Pässe hatten die Herren der Volksarmee mitgenommen. In diesen 2 Stunden haben sie angeblich geklärt, wieso wir verschiedene Nachnamen hatten, obwohl wir wie Schwestern aussahen. Das „schwesterliche Aussehen“ beschränkte sich eigentlich auf etwa gleichlange Haare, ihre waren dunkelblond, meine waren dunkelbraun. Als wir schließlich durch die Grenze gelassen wurden, waren wir so geschockt (wir dachten, wir kommen da nie wieder raus), dass wir von diesem Ausflug so gut wie keine weiteren Erinnerungen haben. Möglicherweise gehört diese Art der Passkontrolle zum Standardrepertoire der Einschüchterung.

    1. Vanessa sagt:

      Das kann gut sein. Zwei Stunden sind auch nochmal ’ne Schüppe drauf. Gut, dass es das heute nicht mehr gibt. Hoffentlich kommt’s nie wieder. Grüße an alle, die Grenzen hochziehen wollen.

  3. Simone sagt:

    Wunderbare Beschreibung des Reifenwechseltermins, ich habe mich wiedererkannt und sehr gelacht :-)). Vielleicht sollte man ein Trainings-Angebot für positive Gesprächstechniken abgeben. Oder es hat Methode. Dann sollte man es vielleicht als Studienobjekt nutzen ;-). Wunderbar. Vielen Dank. Ich bin seit einiger Zeit Blogleserin und komme immer wieder sehr gerne zu Ihnen. Es macht viel Spaß, Ihre Texte zu lesen.

  4. Frau Irgendwas ist immer sagt:

    Das ließ mich so dermaßen perplex zurück, dass ich Schluckauf bekam.
    Danke für diesen Satz!
    Dank` des #serviceblog muss ich, hier im Urlaub an der Mecklenburger Seenplatte, an Käthe denken. Es gibt hier den ehemaligen Flugplatz Rechlin, entstanden 1916! Den hätte Käthe dann wohl kennen können, oder?

    1. Vanessa sagt:

      Vielleicht. Rechlin ist allerdings recht weit draußen. Ich gehe davon aus, dass sie 1910/11 in Johannisthal unterwegs gewesen ist. Der Flugplatz ist etwa fünf Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs entstanden. Sie hatte damals Flugstunden bei Paul Engelhard, der bei einem dort ansässigen Unternehmen beschäftigt war.

      1916 hatte sie alle Hände voll zu tun, die Fertigung von Fallschirmen für die deutschen Luffschiffer sicherzustellen. Es war mitten im Krieg, und sie hat im November 1915 einen Vertrag unterschrieben, der sie zur alleinigen Zulieferin machte. Jede Woche hat sie in Reinickendorf, gemeinsam mit 40 Näherinnen, 20.000 Meter Seide verarbeitet. Das wird all ihre Kräfte gebunden haben.

      Aber schön, dass Sie an sie denken!

  5. Jule sagt:

    Ich dachte, diese Spezies Schuster sei inzwischen ausgestorben.
    In Körne hatten wir auch so ein Exemplar. Den größten Rüffel habe ich gekriegt, als ich Anno 1979 meinen alten ledernen Schultornister aus der Grundschule ( so hieß das früher) reparieren lassen wollte um für’s Studium eine fancy Tasche zu haben…….“ Wat hasse denn damit gemacht- ich glaube es hackt..Bisse noch ganz knusper wat is dat denn für’n Dingen.und Wat soll ich gez damit machen?.“ usw.
    Er hat es doch gemacht und die Tonne (!) habe ich immer noch….
    Im Schwabenland reden die Schuster nix außer: Name? Donnerschtag . Ade.
    Es bleibt ein blödes Gefühl ….weiß der Meister dass die Schuhe repariert werden müssen – und wo?
    Bisher habe ich immer ein einwandfreies Paar zurückerhalten.
    Gruß in die Heimat
    Jule

    1. Vanessa sagt:

      Vielleicht verständigen sie sich auf einem Kanal, der uns verschlossen ist. Mit Spezialaufträgen wage ich mich gar nicht erst hin!

  6. SusiB sagt:

    Ja, das mit dem Autoteile-Händler mit dem rot-weißen Logo kenne ich. Ich war mal mit dem Ansinnen dort, eine Glühbirne für mein Abblendlicht auswechseln zu lassen – und die Reaktion war ungefähr die gleiche, als hätte ich in einem Fast Food-Laden gefragt, ob man mir die Pommes in Trüffelöl frittiert und auf Meißner Porzellan kredenzt.

    1. Vanessa sagt:

      Nun, das ging letztens. Ich hatte ein fortwährendes Problem mit meiner Schlüsselbatterie. Wobei ich natürlich behandelt wurde wie ein Depp, der keine Batterie wechseln kann. Aber damit hatte ich gerechnet.

  7. Ilka sagt:

    Oh ja, aus solchen Gründen bin ich beim Auto zur Markenwerkstatt gewechselt. Ich hatte echt keine Lust, mich sogar für die Automarke anranzen zu lassen (Scheiß-Lego für Erwachsene haben die zu kleines Auto gesagt) und teurer waren sie auch.
    Die Fahrradschrauber sind besser, mein Fahrrad ist ein Mädchen und das passt.
    Und zum Schuhmacher schicke ich den Ingenieur, an dem prallt das ab ;-)
    Viele Grüße
    Ilka

    1. Vanessa sagt:

      Die Markenwerkstatt hier vor Ort verhielt, als ich dort kaufen wollte, leider äußerst unprofessionel und inkompetent. Die Markenwerkstatt, bei der ich dann kaufte, ist zu weit weg für Inspektionen. Während ich das schreibe, denke ich: Es gibt viel Luft nach oben in der Automobilbranche. In vielerlei Hinsicht.

  8. Einhornpups sagt:

    Ach was, ihr geht das einfach falsch an. Diese Menschen kann man ganz einfach in die Tasche stecken, man muss nur auf derselben Seite sein.
    Mein Schuster zB: Dem hab ich erklärt, dass sich die Herstellerfirma geweigert hat, meinen Schuh zu reparieren und mich zusätzlich informiert hat, ein Schuster könne das nicht. „Das sagen se alle!“ hat er geantwortet. Und er konnte das. Da waren wir beide ganz glücklich.
    Und beim Fahrradschrauber: Da muss mehr Gefühl hinein. Ich habe erklärt, ich hätte mich in mein Fahrrad verliebt (dass so etwas überhaupt geht) und seitdem hätte es auch einen Namen bekommen. Dazu wurde genickt und komisch geguckt. Und beim Abholen fragte ich nicht „Ist alles in Ordnung?“ sondern „Wie geht es … ?“ Das hebt die Stimmung! Die kennen mich jetzt in den Laden. Alle. Und es ging ihr gut.

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