Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Четыре – ноль! Vier zu null!

17. 6. 2014 16 Kommentare Aus der Kategorie »Lebenslage«

Montag, 18 Uhr. Das Büro ist leer. Alle Kollegen sind fort. Versprengte Fußballverweigerer stolpern über den Westenhellweg, Dortmunds Einkaufsstraße. In einer anderen Welt, einer Weltmeisterschaftswelt, pfeift ein Mensch das Spiel Deutschland gegen Portugal an.

Ich bin auf dem Weg zum Russischkurs. Meine Lehrerin ist Ukrainerin und mag klassische Musik. Weder spielt die Ukraine bei der WM, noch wird im Stadion klassische Musik gegeben. Also findet der Kurs statt, da kennt sie nix.

Kurskollege Kadir ist nervös, schielt minütlich auf sein Handy. Doch er braucht seinen Liveticker nicht: Kaum ballt Kadir das erste Mal siegesgewiss seine Hand zur Faust – ping-ding-ding, bimmelt das Handy der Lehrerin für eine SMS. Sie schaut aufs Display und sagt: „Adin – nol“, eins zu null. Entschuldigend fügt sie hinzu: „Meine Freundin. Völlig verrückt. Fußball, Borussia, WM. Jedesmal schreibt sie mir, wenn ein Tor fällt. Ob es mich interessiert oder nicht.“

Eine Gelegenheit, tiefer ins Thema einzusteigen.

Сегодня Германиа играет с Португалией.

Heute spielt Deutschland mit Portugal: Im Russischen, so die Lehrerin, spiele man miteinander, nicht gegeneinander, rein sprachlich gesehen – der Russe an sich sei friedliebender Natur. Das zeige sich auch am Wort мир, Welt, das gleichzeitig „Frieden“ bedeute. Die Weltmeisterschaft, чемпионат мира, sei also auch eine Meisterschaft des Friedens. Hach, so schön.

Der Satz bietet neben philosophischem Diskursstoff handfeste Möglichkeiten, den Instrumentalis zu üben. Die Lateiner kennen diesen Kasus: Es handelt sich um eine Art Ablativ, eine von zwei russischen Ergänzungen zu Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Denn der Russe an sich ist nicht nur friedliebend, sondern dekliniert auch gerne Substantive durch, wenn er in der Taiga auf seinem Permafrost sitzt, allein und frierend.

Они выигрывают.

Sie gewinnen. Wörtlich: etwas herausspielen. Einen Sieg zum Beispiel, das ist gut zu merken. Allerdings, es gibt einen Haken: gerade eben. Es heißt nur „ani wuj-i-gruij-wa-jut“, wenn man es gerade tut; hat man es getan, ändert sich das Wort hinten und in der Mitte, manch eines auch vorne (das kann man nie wirklich vorhersagen), denn es gibt im Russischen nicht nur zwei zusätzliche Fälle, sondern auch zwei Verben für eine Sache, für vollendete und unvollendete Aspekte – je nachdem, ob man mit einer Sache schon fertig ist oder noch nicht. Wenn man in der Zukunft fertig geworden sein wird, zum Beispiel mit dem Deklinieren russischer Substantive durch alle sechs unendlichen Fälle, ist es das gleiche Wort wie in der Gegenwart. Am Ende holt einen eben alles immer wieder ein.

Ping-ding-ding: „Dwa – nol“, zwei zu null. Германиа ведёт, Deutschland führt. Wieder ein neues Wort gelernt! (Gerade eben.)

So geht es munter weiter. Ping-ding-ding. ping-ding-ding.

Мюллер забил 3 мяча, Müller hat drei Tore geschossen – respektive Bälle, und er ist damit fertig, hurra! Kadir ist verzückt. Ich freue mich auch. Das Glück wird ein wenig getrübt, Sie können es sich denken, denn Müller schoss sein erstes Tor im Nominativ (гол! Tor!), sein zweites und drittes im Genitiv Singular (гола), hätte Deutschland fünf Tore geschossen, dann im Genitiv Plural (голов). Aber das muss nun wirklich nicht sein. Tschitiri – nol, vier zu null. Das reicht. Was will man mehr.

 

Kommentare

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  1. jpr sagt:

    Mehr? Eine Tonspur. Das machten Sie doch schon einmal ganz bezaubernd. Und nun fuer die korrekte Aussprache des Beitrags waere es verdammich hilfreich (denn in meiner ersten naiven Leseweise klingt wuj-i-gruij-wa-jut eher wie eine Sammelpuppe, oder asiatisches Essen).

    1. Frau Nessy sagt:

      Auf keinen Fall. Das überlasse ich den Muttersprachlern. Ich radebreche hier doch nicht herum. Nein, nein. Das wäre auch nicht gut fürs Geschäft. Ich bin schließlich ein seriöses Bildungsblog. Mein Gestammel hilft da keinem weiter.

  2. Anikó sagt:

    Ich freue mich gerade ’nen Keks, dass ich alles russische lesen und unfallfrei aussprechen konnte… Sind von den vier Jahren Unterricht in der Schule doch was hängen geblieben ;-)
    Habe ja tatsächlich mal überlegt diese Kenntnisse ein wenig aufzufrischen, Sie machen mir Mut :-)

    1. Frau Nessy sagt:

      Nur zu! Wenn Sie die Sprache schon einmal gelernt haben, reicht es vielleicht auch, ein nettes Buch auf Russisch zu lesen – vielleicht zunächst irgendwas Gefälliges. Ich mache das ab und an in Sprachen, die ich nicht verlernen möchte.

  3. bei wuj-i-gruij-wa-jut dachte ich am Ende: „jut. Das kenn ich.“
    Na jut, hamwa das. :-)

  4. C. Araxe sagt:

    Nach all den Jahren ist erstaunlicherweise doch noch relativ viel Russisch hängen geblieben – stelle ich immer wieder fest. (Kyrillisch lesen geht auf jeden Fall immer, aber das weiß man ja seit solchen Sprüchen.) Das Gute ist ja, dass man damit allgemein viele slawische Sprachen ansatzweise verstehen kann (obwohl bei mir jetzt das polnische „piłka” präsenter wieder war). Das führte dann wieder so weit, dass nach einem Gespräch auf Tschechisch (O.K. – ich antwortete eher sehr kurz), gefragt wurde, auf welche Schule denn das kleine Monster vor Ort (Prag) gehen würde – da musste ich dann doch zugeben, dass wir deutsche Touris sind.

    1. Frau Nessy sagt:

      Das entschädigt vielleicht für den Aufwand. Ein weiterer Nebeneffekt ist auch, dass man leicht das Griechische lesen lernt.

  5. asty sagt:

    Der Berliner an sich ist dem Russen ja auch nicht so unähnlich. Zumindest in der Sprache: „dit wa jut“ ;-)

    In der Schule habe ich mal 3 Jahre Russisch gelernt, weil die Alternative Mathe und andere unangenehme Fächer gewesen wären. Lesen konnte ich Ihre Sätzchen auch noch. Verstanden hätte ich sie ohne Übersetzung allerdings leider nicht.

    Liebe Grüsse
    asty

    1. Frau Nessy sagt:

      Ach, machen Sie sich nichts d’raus. Immer, wenn ich irgendwas Russisches lese, habe ich das Gefühl, ich beherrsche gerade mal zehn Wörter.

  6. Lobo sagt:

    Sehr schön ! Ich hätte allerdings auch gerne eine Hörprobe :-)

    1. Frau Nessy sagt:

      Völlig ausgeschlossen. Ich mache mich doch hier nicht zum Horst. Gerne in ferner Zukunft, nach meinem noch nicht geplanten einjährigen Russlandaufenthalt.

  7. Das erinnert mich total an meine Mutter, die in der Schule Russisch lernte. Noch heute kann sie in atemberaubendem Tempo die Falldeklination von „Lampe“ runterrattern.
    lampa
    lampui
    lampje
    lampu
    lampoi
    lampje
    lampui
    lamp
    lampam
    lampui
    lampami
    lampach
    (das www hat mir dabei geholfen)
    Wozu ihr das nützt, weiß ich nicht. Aber ich finde es immer wieder beeindruckend!! :D

    1. Frau Nessy sagt:

      Solch eine Liste muss ich mir mal machen und auswendig lernen – wie damals im Lateinunterricht („amica, amico, amicae, amici …“). Es führt kein Weg dran vorbei. Irgendwann wird dann wohl hoffentlich auch das Sprachgefühl kommen.

  8. asty sagt:

    Man lernt übrigens besser, wenn man so lernt, wie ein Kind. Hören und Nachplappern. Hören und Nachplappern. So lange, bis man es irgendwann mal richtig sagt. Ein Kind hat am Anfang auch nur 2-Wort-Sätze (Auto-haben), dann 3-Wort (Auto haben will), usw. Es plappert teilweise mit kreuzfalscher Grammatik daher, wird ja trotzdem verstanden, und wird so Schritt für Schritt immer besser.
    Als Erwachsener will man immer die Grammatik „verstehen“. Ist aber eigentlich völlig unnötig. Hauptsache man wendet es irgendwann mal richtig an und denkt nicht darüber nach, welcher Fall das jetzt ist. Machen wir in unserer Muttersprache ja alle auch nicht, oder?
    Ist übrigens einfacher, wenn man in dem Land auch lebt, dessen Sprache man lernen möchte. :-)
    Liebe Grüsse
    asty (unterrichtet Deutsch als Fremdsprache…..)

    1. Frau Nessy sagt:

      Das kann ich so bestätigen (auch wenn ich es, wegen mangelnder Möglichkeiten zu sprechen, grad nicht so durchführe). Ich kenne von meiner russischen Freundin zig Wörter, Wendungen, Situationen, die ich einfach so anwenden kann.

      Mit die ersten Phrasen, die ich überdies verinnerlicht habe, sind die Ansagen der Moskauer Metro („Vorsicht, die Türen schließen sich, nächste Station …“) – ohne sie anfangs (wörtlich) zu verstehen. Einfach, weil ich sie hundertfach gehört habe.

      https://www.youtube.com/watch?v=3Tdt4uPNTPw

      Bei mir geht es beim Sprachenlernen so: Ich gehe die Sache anfangs durch Vokabel- und Auswendiglernen an. Irgendwann (nach einigem Lesen, Hören und Sprechen) legt sich dann ein Schalter um, und es entsteht ein Sprachgefühl.

  9. wenn man im russischen also MIT- und nicht GEGENeinander Fußball spielt, was ist dann von diesem Satz zu halten:
    „Spanien liegt gegen Chile mit 0:2 zurück.“
    (aktueller Halbzeitstand)
    ?
    Spanien ist MIT Chile 0:2 zurück?

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