Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Erstes Augustwochenende

5. 8. 2019 16 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Marathonsitzung | Nachdem ich am Donnerstag dachte, es sei Freitag und ich könne zum Frisör gehen, war am Freitag tatsächlich Freitag, und ich ging zum Frisör.

Der Frisör machte auf Orthopäde: Ich musste erstmal zwei Stunden warten, bis ich drankam. Denn der Freitag ist der Tag ohne Termine. Da kommt man dran, wenn man drankommt.

Vielleicht möchten Sie einwenden, ich solle besser an einem Tag mit Termin gehen. Termine bietet mein Frisör allerdings nur dienstags bis donnerstags an, montags nicht, freitags nicht, und am Samstag ist der Laden geschlossen. Das macht die ganze Unternehmung stets zu einem mittleren Projekt, denn an einem Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag kann ich nur selten. Am besten kann ich an einem Samstag, aber – siehe oben.

Gleichzeitig macht mein Haar-Buddy meine Haare wirklich gut, weshalb ich davor zurückschrecke, mir einen neuen zu suchen. Ich habe schon viel Elend auf meinem Kopf erleben müssen, und auch wenn ich nicht allzu eitel bin – ich möchte nicht 90 Euro dafür ausgeben, dass ich verunglückt aussehe.

Positiv lässt sich an den viereinhalb Stunden beim Frisör verbuchen, dass ich mein Buch durchlas. Es heißt „Wenn Martha tanzt“. Ich kaufte es in Berlin, es spielt in Weimar, wo ich vor zwei Wochen Station gemacht hatte. Protagonistin ist Martha, die in Pommern aufwächst und zum Studium ans Bauhaus geht. Eine auf 260 Seiten erzählte, kleine Geschichte, deren ersten 200 Seiten auch sehr gut sind. Dann endet sie leider für meinen Geschmack zu verschwurbelt und zu schwülstig. Dennoch: kann man gut lesen. Besonders der über weite Teile sachliche, leicht technokratische Stil gefällt mir.

Außerdem vervierfachte ich während Wartezeit und Behandlung meinen Dots-Highscore. Kurz vor dem Haareschneiden spielte ich ein legendäres Game mit unzähligen Rechtecken, die ich in Rekordgeschwindigkeit verschwinden ließ.

Ich sehe jetzt auch wieder passabel aus.

***

Zum Tod von Mme ReadOn | Mme ReadOn hat sich das Leben genommen. Ende Mai hat der Spiegel Recherchen veröffentlicht, nach denen die Blogggeschichten über ihre jüdische Familie erfunden seien. Auch habe sie falsche Opferdokumente bei der Gedenkstätte Yad Vashem eingereicht. Mme ReadOn war promovierte Historikerin.

Reflexionen: Die Kaltmamsell: Elemente einer TragödieThe Irish Times: The life and tragic death of Trinity graduate and writer Sophie HingstLaura Hertreiter in der SZ: Zweifel am ZweifelCarolin Emcke in der SZ: Die ethische Last journalistischer Arbeit

Der Autor des Spiegel-Artikels, Martin Doerry, der die Täuschung Hingsts veröffentlichte, nimmt Stellung: Warum der SPIEGEL über den Fall Marie Sophie Hingst berichten musste. Lea Rosh, die Vorsitzende des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, kritisiert Doerrys Arbeit; er hätte ihre Erkrankung erwähnen sollen.

Ich kannte weder Mme ReadOn persönlich, noch ist öffentlich bekannt, unter welcher Erkrankung sie litt. Ich möchte dennoch einige Gedanken äußern – unabhängig vom konkreten Fall, nur anlässlich.

Es ist in diesem Blog nicht bekannt, aber ich habe weitreichende Erfahrungen als Angehörige psychisch kranker Menschen, unter anderem eines schizophren-psychotischen Menschen. Die aufgebaute Realität ist für diesen Menschen so sehr eigene Wirklichkeit, dass nicht nur jedes Gegenargument an ihm abperlt; jeder präsentierte Beleg, jede Prämisse überzeugt ihn noch mehr darin, der missverstandene Hüter der Wahrheit zu sein.

Beweise und Schlüsse nimmt er deshalb nicht als Entlarvung wahr, der er nachgeben und aufgrund derer er aufgeben und sich in Behandlung begeben sollte; die Argumente bestärken ihn in seiner Wahrnehmung, verkannt zu sein. Und: Sie sind Angriffe auf sein Inneres. Denn die Krankheitswirklichkeit hat nicht nur ihre eigene, in sich schlüssige Logik, die alles Äußere abwehrt. Sie ist nach schleichender Chronifzierung auch so sehr in die Identität des Kranken integriert, dass jeder Angriff auf die Logik seiner Welt ein Angriff auf sein fragiles, mit ständigen Dissonanzen kämpfendes Selbst ist.

Der erkrankte Mensch ist in der Lage, seine Wahrnehmung geschickt zu verargumentieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es für unerfahrene Dritte deshalb schwierig ist zu erkennen, dass sein Reden und Handeln einer Erkrankung entspringt. Denn wie kann jemand, der sich gewandt äußert und geistig hellwach ist, krank sein, wo doch Krankheit im Allgemeinen von Einschränkung und Unvermögen begleitet ist? Der Unerfahrene kommt nicht darauf, dass in diesem Fall gerade das Vermögen die Krankheit ist. Er hält den Kranken für ignorant und unbelehrbar – im schlechten Fall für dreist und kriminell, im besten Fall nur für wunderlich. Nicht aber für krank.

Es gehört zum Wesen solch schizophren-psychotischer Realitätskonstruktionen – man kann es sich denken -, dass keine Krankheitseinsicht besteht. Wer also sagt, man müsse dem oder der Kranken Hilfe angedeihen lassen, kennt die Mechanismen der Krankheit nicht; er setzt voraus, dass der Kranke die Hilfe auch annimmt.

„Der Gesetzgeber sieht vor, dass jeder Mensch das Recht auf seine eigene Psychose hat“, sagte einmal ein Gutachter des sozialpsychiatrischen Dienstes zu mir. Nur wer sich selbst oder Dritte gefährdet, kann zur Annahme von Hilfe gezwungen werden; doch das geht erst, wenn der Kranke bereits gefährdend gehandelt hat.

Der kranke Mensch ist in Verantwortung für seine Krankheit, obwohl die Krankheit ihn in dieser Verantwortung einschränkt. Es gibt keine Auflösung für diesen Widerspruch. Denn die Alternative wäre eine Einschränkung der Freiheitsrechte für alle, die wunderlich sind, ohne krank zu sein. Wer mag beurteilen, wo die Grenze ist?

Das macht wütend. Es macht sprach- und hilflos. Weil es keine Hilfe gibt, die man leisten kann.

Soll nun über Handlungen psychisch Kranker nicht berichtet werden, eben weil sie krank sind? Nein. Aufgabe von Journalismus ist es, Öffentlichkeit herzustellen und diejenigen sprachfähig zu machen, die sich nicht selbst äußern können – die Opfer der Täuschung, in dem Fall die Opfer des Holocausts un ihre Familie. Die Tragik liegt wohl darin, dass auch die Täuschende eine Getäuschte war.

Kommentare

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  1. Fujolan sagt:

    Danke. Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion!

  2. Ina sagt:

    Wie immer vortrefflich geschrieben und aus eigener Erfahrung im privaten Umfeld weiß ich wie wahr das alles ist.

    Ihr wurde sozusagen ihr ganzes Sein genommen, dass sie sich selbst aufgebaut hatte. Ob man das nun verurteilt oder nicht oder welche Meinung man dazu hat, es ist sehr traurig und tragisch dass sie keinen Sinn mehr im Weiterleben sehen konnte.

    Ich finde es furchtbar wie stellenweise auf ihrer Mutter herum gehackt wird. Unterstellungen sie hätte nicht genug unternommen. Dinge die keiner beurteilen kann und die Möglichkeit sind, wie von Ihnen perfekt erklärt, auch sehr begrenzt.

    Danke für diesen Beitrag.

    1. Vanessa sagt:

      Abgesehen von begrenzten Möglichkeiten halte ich es für legitim, dass Verwandte ebenso wie Freunde auch auf ihre eigene seelische Gesundheit achten, anstatt sich über Jahre und Jahrzehnte in Bemühungen zu verausgaben.

      Den konkreten Fall kann ich natürlich nicht beurteilen.

    2. Ina sagt:

      Ja, das ist absolut legitim.
      Ich kann den aktuellen Fall auch nicht beurteilen, umso verwunderlicher finde ich es dass es Menschen gibt die Schuld bei der Mutter suchen.

  3. H. dankt zum Beitrag bezüglich des Fräuleins. Er trauert. Er kannte sie.

    1. Vanessa sagt:

      Sehr gern.

      Ich habe mal eine ganz andere Frage. Warum sprechen Sie immer in der 3. Person von sich? Hat das eine Bewandnis?

    2. antagonistin sagt:

      Ich schließe mich der Frage zur 3. Person an. Ich habe in anderen Blogs anfangs bei den Kommentaren nicht realisiert, dass es faktisch nicht um eine weitere Person geht und war entsprechend irritiert.

  4. Danke! Vor allem für den letzten Satz, der den Ursprung der Verworrenheit so klar benennt.

  5. So habe ich das noch nie gesehen. Vielen Dank für diesen ausführlichen Beitrag und die Erklärungen. Jetzt verstehe ich vielleicht auch den Satz „Ich bin nicht mehr“.

    1. Vanessa sagt:

      Nun, das können wir nur vermuten. Sie kann es uns nicht mehr erklären. Vielleicht würden wie es auch nicht verstehen.

      Ich kann nur meine allgemeinen Erfahrungen schildern.

  6. lihabiboun sagt:

    Danke für diesen differenzierten und einfühlsam erklärenden Text.

  7. Nea sagt:

    Herzlichen Dank für das Teilen Ihrer besonderen, ein besonderes Licht auf diese Geschichte werfende Erfahrung.

  8. ANNA sagt:

    Ach,Vanessa.Vielen Dank für deine Ausführungen,insbesondere im letzten Teil.

  9. Lena sagt:

    Vielen Dank für diesen Text.
    Das auch andere die Hilflosigkeit gegenüber psychischen Erkrankungen kennen tut gut zu wissen.
    Ich habe tatsächlich viele Jahre gebraucht um zu bemerken, dass es in Ordnung ist, sich als Angehörige um seine eigene seelische Gesundheit zu kümmern.
    Über Rückenprobleme kann man ja fast mit jedem reden, aber wenn jemand “ einen an der Klatsche hat“ wird es schwierig. Da verzichtet man oft lieber auf Anteilnahme.

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