Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Archiv der Kategorie »«

Das Himmelfahrt-Phänomen

12. 12. 2010  •  24 Kommentare

Seit Anfang Dezember höre ich allerorten:
„Das muss noch vor Weihnachten erledigt werden.“

Es ist das Himmelfahrt-Phänomen: An einem Donnerstag mitten in der Woche kommt ein Feiertag daher. Gänzlicher überraschend, natürlich. Wer kann das ahnen. Am Vorabend sind deshalb die Läden so voll mit Hamsterkäufern, als sei ein Atomschlag zu erwarten, der die westliche Zivilgesellschaft für immer zerstört (und mit ihr das Tiefkühlfilet Bordelaise, das in seiner Aluschachtel frierend darauf wartet, in den Luftschutzkellern deutscher Nachkriegsmiets-
häuser eingelagert und für das Überleben derer verwendet zu werden, die besser der Blitz treffen sollte).

Gleichermaßen, wie die Menschen vor Christi Himmelfahrt mit Kleinbussen einkaufen, werden in Büros Termine gesetzt, Konzepte eingefordert und Besprechungen anberaumt, als habe der Gesetzgeber ab 2011 das Arbeiten verboten. Dazwischen finden Weihnachtsfeiern statt; in frohlockende Fröhlichkeit gekleidetes Teambuilding, das jeder Mitarbeiter beim Nobelitaliener an der Ecke selbst bezahlen darf  – die Firma ist schließlich nicht für das Vergnügen ihrer Mannen zuständig. Eine Anwesenheitsliste wird allerdings schon geführt, im Sekretariat. Da bleibt als Entschuldigung nur der Noro-Virus, der selbst das motivierteste Lohnempfängerdasein von jetzt auf gleich in gekachelte Gefilde verlegen kann – gerade in Zeiten seelewärmender Glühweintrinkerei aus unzureichend gespülten Motivkeramiktassen.

Wenn Sie an dieser Stelle des Textes den Eindruck gewinnen, ich sei gefrustet, mag ich Ihnen das bestätigen. Hier im Kännchencafé ist sonst immer Kirmes, quietschbunt, mit Luftschlangenpusten, da darf ich auch mal maulig sein. Ab dem 1. Januar werde ich natürlich wieder Heiterkeit verbreiten, schließlich habe ich „ein Wohlfühljahr erster Klasse“ vor mir.

Polarprozession

9. 12. 2010  •  34 Kommentare

Zwischen mir und der Arbeit liegen gerade einmal sechshundert Meter, als die dicke Busfahrerin unter ihren Sitz kriecht und die Bremskeile sucht. „Tut mir leid, woll. Dat isn Wetter, woste nix machen kannz. Da muss ich stehenbleiben tun. Anweisung vonne Leitwarte.“

Die Türkin hinter mir stupst mich an. „Wieso aussteigen?“ fragt sie.
„Zu glatt“, sage ich. „Der Bus rutscht.“
„Bus rutscht?“
„Ja“, sage ich. „Den Berg runter.“

Es schneit in kleinen Grieseln. Warnblinklichter färben den Abend orange. In der Gegenrichtung schlängeln sich Autos um zwei weitere Busse den Hügel hinauf. Niemand hupt. Niemand flucht. „Viel Glück“, wünscht jemand der Fahrerin. „Tschüss dann“, sagt ein anderer. Der Schnee deckt die Stadt mit Gleichmut zu. Ich steige aus. Es knirscht unter meinen Füßen. Die Füße der anderen knirschen auch. Alle schauen sich noch einmal um. Dann werden wir eine Prozession. Mein Zuhause und mich trennen von hier an zwölf Haltestellen oder sieben Kilometer oder Eineinviertelstunde Marsch.

Am ersten Bushäuschen nehmen wir fünf Jäuster in Fußballschuhen mit. Sie bewerfen sich den Weg über mit Schneebällen. Noch ein Häuschen weiter gabeln wir eine Frau mit Kinderwagen auf. Ein kräftiger Mann in blauer Latzhose greift sich die Vorderreifen und wird zum Sänftenträger. Hinter der vierten Haltestelle steht ein Ersatzbus an einer roten Ampel. Wir laufen hin, winken und klopfen an die Tür. Der Fahrer glotzt mit großen Augen durchs Glas. Die Ampel springt auf Grün. Der Bus fährt los. Wir stehen auf der Straße und schreien wie die Gallier.

„Arschloch, Alta!“ rufen die Jungs. „So ein Penner!“ rufe ich. „Wenn deine Heizung kalt ist, komm! ich! nicht!“ brüllt der Latzhosenmann. Die Türkin ruft etwas auf Türkisch, das sich anhört wie „Pickeliger Sohn einer Gurke.“ Das Kind schaut durch den Regenschutz seiner Sänfte den Rücklichtern hinterher. Wir marschieren weiter durch den knöchelhohen Schnee.

Die Jäuster biegen irgendwann rechts ab. Der Handwerker bringt Mutter und Kind bis an die Tür. Die Türkin verschwindet im Weiß. Ich hab’s am weitesten. Autos rollen an mir vorbei, langsam, knirschend. Alles ist leise. Wenn Schnee drauf liegt, ist das Ruhrgebiet fast nicht hässlich.

Um halb acht bin ich zu Hause. Meine Beine fühlen sich nach Stieleis an, und mein Leben schmeckt nach Polarexpedition. Ich bin seltsam glücklich.

Der schönsten Großmutter

8. 12. 2010  •  62 Kommentare

Schwarz-Weiß-Aufnahme: Meine Großmutter in einem Kleid auf einer Wiese, im Hintergrund mein Großvater.
Immer, wenn ich bei ihr schlief, lag ich in ihrem großen Bett unter einer schweren Daunendecke und zählte die Blüten, die auf der Tapete wuchsen.

Das Frottee war rau, die Matratze weich. Ihr Kissen duftete nach Waschmittel, nach ihrem Parfum und nach ihr selbst – ein Geruch, der weich wie Watte war und sanft in der Nase kitzelte. Wir beteten das Vaterunser; dann schob sie einen Polstersessel vor mein Bett und ging ins Wohnzimmer, wo sie Sportstudio schaute. Ich lauschte den gedämpften Stimmen und schlief ein.

Sie schaute niemals Volksmusik, niemals Schlagersendungen oder Schmonzetten. Wir sahen uns gemeinsam „Der große Preis“, „Einer wird gewinnen“ oder Spiele von Bayern München an. Sie war ein großer Fan. Wir teilten uns Karlsberger Oblaten und kuschelten uns aneinander.

Wir machten gemeinsam Kreuzworträtsel. Sie war eine sehr gute Kreuzworträtslerin. Jeden Dienstag ging sie zum Kiosk und kaufte sich neue Hefte. Beim Schwedenrätsel war sie unschlagbar, sie wusste alles, sogar Sachen wie „Apostel der Eskimos“. Als sie nicht mehr sehen konnte, las ich ihr vor, sie sagte die Lösung und ich trug sie ein.

Sie war sehr hübsch. Sie war groß, schlank und elegant. Ihre Haut war sehr weich. Sie hatte viele Falten, aber ihre Haut war zart, im Gesicht und auch an den Armen. Sie hatte Sommersprossen auf ihren Unterarmen, ganz viele kleine, und auf der Hand Altersflecken. Als sie nur noch im Bett lag, habe ich ihr Gesicht gecremt. Sie liebte es, wenn ich sie cremte, weil ihre Haut oft trocken war, seit sie kaum noch aß und trank. Sie liebte es auch, wenn ich ihr Haar bürstete, ruhig etwas fester, das tat ihr gut. Wie ein weißer Teppich lag es danach auf ihrem Kopfkissen und glänzte im Schein der Deckenlampe.

An Weihnachten sagte ich ihr einmal, dass sie die beste Oma sei, die es gebe. Ich sagte es, weil ich wusste, dass es unser letztes Weihnachten sein würde. Sie nickte. Sie wusste es auch. Nicht ganz ein Jahr später, heute, am 8. Dezember vor neun Jahren, starb sie. Es war nachts um vier.

Ich besuchte sie noch einmal. Ich musste mich beeilen, denn ich hatte eine weite Anreise. Sie lag da wie die Monate zuvor in ihrem Bett. Ihr weißes Haar ergoss sich auf ein Kissen, ihre Hände waren gefaltet. Sie trug ein Totenhemd und sah sehr erhaben aus.

Ich stand da und beobachtete sie. Es war seltsam, dass sie sich nicht regte, nicht atmete.

Ich wartete. Auf eine Bewegung. Auf ein Zeichen. Auf mein Begreifen.

Wenn ein Mensch im Raum ist, auch wenn es dunkel ist und wir ihn nicht sehen, spüren wir, dass er da ist. Es ist seine Wärme, seine Energie; es ist die Magie, die jeden von uns umgibt.

Ich berührte sie. Zuerst an den Händen, dann an den Wangen. Dann streichelte ich ihr Haar. Es war noch ganz weich. Aber ihre Haut war wie Kerzenwachs.

Sie lag da, aber ihre Magie war an einem anderen Ort.
Ich war allein im Raum.

Wir beerdigten sie an einem windigen Wintertag. Seitdem war ich nur wenige Male an ihrem Grab. Ich brauche nicht dorthin. Ich habe sie immer bei mir.

Das Springseil

5. 12. 2010  •  29 Kommentare

Der Trainer lässt uns neuerdings komische Sachen machen.

Purzelbäume zum Beispiel. Zwei hintereinander, Slalomsprint um ein paar Pilonen, Sprint zurück, den nächsten abschlagen, wieder von vorne, fünfmal. Danach war ich reif für die Kalabums-WM.

Jetzt die Anweisung: Alle Hühner mögen sich ein Springseil kaufen.

Also ab ins Sportkaufhaus. Damenseile in zartem Kitty-Rosa, das finde ich schnell heraus, gibt es nur in Zwergenlänge: maximal 2,65m für Menschen bis einssiebzig. Also weiter in die Männerabteilung. Aber hey – meinen Sie ernsthaft, Männer springen Seilchen?

Männer machen Speedropeskipping mit einem Jump Rope Pro, batteriebetrieben, 15 Euro pro Sportgerät.

Vor meinem ersten, einminütigen Probespringen programmie ich also erstmal zehn Minuten lang mein Springseil: Trainingszeit, Sprunganzahl, Körpergewicht – zur Berechnung des Kalorienverbrauchs. Nach 100 Hüpfern dann ein lautes Piep: Ziel erreicht, geiles Workout, weiter so, Superheld!

Ich hoffe nun, dass mir von diesem hamma-männlichen Speedropeskipping keine Haare auf der Brust wachsen.

Briefe zur Lage

2. 12. 2010  •  46 Kommentare

#1
Liebe Blogleser,
die Aktion „Silikonfreies Shampoo“ läuft und lässt sich gut an. Außerdem hat mein Finger seine Anmutung von „Forelle blau“ zu einem lebhaften Stiefmütterchenlila geändert. Bewegungsradius zufriedenstellend.

#2
Liebe Verwandtschaft, liebe Menschen,
dass ich jetzt alleine wohne, heißt nicht, dass ich vereinsamt, sozial degeneriert und selbstmordgefährdet bin. Auch nicht an Weihnachten.  Eine Frau über 30 kann durchaus alleine wohnen, ohne einer pathologischen Leidenschaft für haarende Perserkatzen anheim zu fallen oder weinend eine Strichliste über die Anzahl ihrer Eizellen zu führen, die jeden Monat ungenutzt sterben.

#3
Liebes Küchenstudio,
ich bestätige hiermit Ihr Angebot, meine Küche erst am 17. Dezember aufzubauen. Das ging ja gar nicht mal so schnell mit dem Termin, herzlichen Dank für Ihre umtriebigen Bemühungen! Ich überlege jedoch, den Aufbau sogar auf den Januar zu verschieben, denn am Freitag erhalte ich bei Herrn Nessy Hühnchen in Honig-Zitronen-Sauce, am Samstag bei der Kollegin Pasta mit Gambas und am Sonntag Kuchen und Gebäck bei der Lieblingstante. Um zusätzliche Einladungen zu provozieren, wäre ein weiterer Verzug von Vorteil. Bitte prüfen Sie Ihre Möglichkeiten im Sinne der Kundenzufriedenheit.

#4
Liebes Christkind,
ich wünsche mir, dass Mutti und Vati, Vatis Schnalle, Unsaomma und die Tante es einmal schaffen, Weihnachten gemeinsam zu feiern, damit ich nicht von Tisch zu Tisch und von Stadt zu Stadt hetzen muss.  Ich bin nur ein kleines Mädchen und kann nichts dafür, dass sie sich nicht vertragen. Außerdem wünsche ich mir Hello-Kitty-Bettwäsche (155×220) und einen dünnen Bauch.

Herzlichst,
Ihre Frau Nessy



In diesem Kaffeehaus werden anonym Daten verarbeitet. Indem Sie auf „Ja, ich bin einverstanden“ klicken, bestätigen Sie, dass Sie mit dem Datenschutz dieser Website glücklich sind. Dieser Hinweis kommt dann nicht mehr wieder. Datenschutzerklärung

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen