Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Zwischen mir und der Arbeit liegen gerade einmal sechshundert Meter, als die dicke Busfahrerin unter ihren Sitz kriecht und die Bremskeile sucht. „Tut mir leid, woll. Dat isn Wetter, woste nix machen kannz. Da muss ich stehenbleiben tun. Anweisung vonne Leitwarte.“

Die Türkin hinter mir stupst mich an. „Wieso aussteigen?“ fragt sie.
„Zu glatt“, sage ich. „Der Bus rutscht.“
„Bus rutscht?“
„Ja“, sage ich. „Den Berg runter.“

Es schneit in kleinen Grieseln. Warnblinklichter färben den Abend orange. In der Gegenrichtung schlängeln sich Autos um zwei weitere Busse den Hügel hinauf. Niemand hupt. Niemand flucht. „Viel Glück“, wünscht jemand der Fahrerin. „Tschüss dann“, sagt ein anderer. Der Schnee deckt die Stadt mit Gleichmut zu. Ich steige aus. Es knirscht unter meinen Füßen. Die Füße der anderen knirschen auch. Alle schauen sich noch einmal um. Dann werden wir eine Prozession. Mein Zuhause und mich trennen von hier an zwölf Haltestellen oder sieben Kilometer oder Eineinviertelstunde Marsch.

Am ersten Bushäuschen nehmen wir fünf Jäuster in Fußballschuhen mit. Sie bewerfen sich den Weg über mit Schneebällen. Noch ein Häuschen weiter gabeln wir eine Frau mit Kinderwagen auf. Ein kräftiger Mann in blauer Latzhose greift sich die Vorderreifen und wird zum Sänftenträger. Hinter der vierten Haltestelle steht ein Ersatzbus an einer roten Ampel. Wir laufen hin, winken und klopfen an die Tür. Der Fahrer glotzt mit großen Augen durchs Glas. Die Ampel springt auf Grün. Der Bus fährt los. Wir stehen auf der Straße und schreien wie die Gallier.

„Arschloch, Alta!“ rufen die Jungs. „So ein Penner!“ rufe ich. „Wenn deine Heizung kalt ist, komm! ich! nicht!“ brüllt der Latzhosenmann. Die Türkin ruft etwas auf Türkisch, das sich anhört wie „Pickeliger Sohn einer Gurke.“ Das Kind schaut durch den Regenschutz seiner Sänfte den Rücklichtern hinterher. Wir marschieren weiter durch den knöchelhohen Schnee.

Die Jäuster biegen irgendwann rechts ab. Der Handwerker bringt Mutter und Kind bis an die Tür. Die Türkin verschwindet im Weiß. Ich hab’s am weitesten. Autos rollen an mir vorbei, langsam, knirschend. Alles ist leise. Wenn Schnee drauf liegt, ist das Ruhrgebiet fast nicht hässlich.

Um halb acht bin ich zu Hause. Meine Beine fühlen sich nach Stieleis an, und mein Leben schmeckt nach Polarexpedition. Ich bin seltsam glücklich.

Kommentare

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  1. rebhuhn sagt:

    so’nen fußmarsch hab‘ ich heute auch hinter mir. allerdings war der nicht fahrende bus mein auto, in dem gerade [fast] alle meine schlüssel, mein föhn sowie portemonnaie und handy erfrieren. meine haare sind nach dem duschen immer noch naß – das war aber nötig, schließlich war ich reiten und bin dann in reitschuhen ohne profil 35mins nach hause gerutscht. auch schön.

    1. Nessy sagt:

      Moment … hierzu habe ich eine Frage.
      Sie waren also reiten. Und hatten Ihren Föhn dabei?

    2. energist sagt:

      Bei genügender Leistung kann man sicherlich auch auf einem Föhn reiten.

    3. Nessy sagt:

      Föhnvoltigieren: immer im Kreis um die Steckdose herum.

    4. rebhuhn sagt:

      weitere facette meines lebens: freundin i. lieh sich meinen föhn, weil sie [noch bzw. nicht mehr] [k]einen eigenen hat und gab ihn mir gestern nachmittag zurück. deswegen war er in meiner tasche. und nicht, weil ich auf ihm geturnt oder das fell der hottehühs getrocknet hätte.

  2. Mia sagt:

    Eine sehr gesunde Einstellung, viele wären nicht „seltsam glücklich“, sondern muffelig, grummelig, auf die Verkehrsbetriebe, den Räum-/Streudienst, den lieben Gott, oder wer sonst grad zur Verfügung steht schimpfend.

    1. Nessy sagt:

      Gezeter bringt mich ja auch nicht nach Hause. Was soll’s also.

  3. flyhigher sagt:

    Kenn ich! Ich gehe oft bei widrigsten Verhältnissen spazieren. Nicht weil das Spazierengehen selbst da soviel Spaß machen würde, sondern weil ich danach „seltsam glücklich“ bin.

    1. Nessy sagt:

      Meinen Sie: Wenn man der Natur nah ist, ist man auch sich selbst nah?

    2. flyhigher sagt:

      Nein,ich schieb das mal auf die Endorphine… So pathetisch mit Natur und so bin ich nicht ;-).

    3. Nessy sagt:

      //*radiert Aurapunkt aus Frau Flyhighers Karmaheftchen

  4. lejontine sagt:

    Schneespaziergänge haben diesen Effekt. Ich bin mal nachts um 3 eine Stunde den Berg hoch heimgelaufen, weil ich den Nachtbus verpasst habe. Danach hatte ich gefrohrene Haare aber glücklich war ich trotzdem. Vielleicht ist das auch einfach die Freude über eine beendete Polarexpedition. Rohes Entdeckerglück.

    1. Nessy sagt:

      //steckt kleines Entdeckerfähnchen in die Sofaritze

    2. Buecherhase sagt:

      Ich glaube das ist die Freude darüber das man es geschafft hat.
      Schneespaziergänge habe ich bisher noch nicht so oft gemacht( weder freiwillige noch unfreiwillige), aber mein Freund und ich haben ein „Talent“ dafür normale Spaziergänge bis 3h auszudehnen, weil man ja gerade erst los ist und noch nicht zurück will und plötzlich sind 3h vergangen und man ist fix und fertig^^

    3. energist sagt:

      So ähnlich geht es mir auch immer wieder (mit und ohne Partnerinnen), jedoch weniger beim WandernSpazieren – aus dem Bett will ich auch nicht aufstehen, weil ich mich ja „gerade“ erst reingelegt…

  5. Blogolade sagt:

    Ich kenne das, dieses seltsam glücklich sein.

  6. Das lässt dieses Wetter gar nicht mehr so schlimm wirken…

    Jäuster – ich bin zwar ein Pottkind (OB), aber das kenne ich nicht. Schulkinder?

    1. Nessy sagt:

      der Jaust, pl. Jäuster = Junge, Bengel (östliches Ruhrgebiet, nordwestliches Sauerland). Das Wort ist bestimmt schon vom Aussterben bedroht. Ich beatme es grad nur noch.

    2. Wolfram sagt:

      Ich stamme garantiert aus dem nordwestlichen Sauerland (da, wo es immer regnet, selbst wenn die Bahnschranken geschlossen sind) – aber den Begriff kannte ich nicht.

      Da bei uns, da hab ichs auch gelegentlich erlebt, wie sich Busse querstellten auf der Straße. Besonders eindrücklich bei Gelenkbussen, die ohne Kran auch nicht wieder flottzukriegen sind… und ebenso beeindruckend, wenn einem dieser Bus dann breitseits entgegenschliddert! (so erlebt in Rummenohl, vor etwa 8 Jahren)

  7. S.b.k.v.S. sagt:

    „Pickeliger Sohn einer Gurke“ hihihihi!!!!

    Und ja, so ein Spaziergang in widrigem Wetter hebt das Gemüt…. wenn man ihn dann überstanden hat. Einn Sänftenträger für den KiWa hätte ich neulich auch gebrauchen können, hatte aber keinen. Zu Hause angekommen habe ich mir die verbrauchten Kalorien vorgerechnet und sehr zufrieden mit meiner Leistung. :-)

    1. Nessy sagt:

      Gut, dass Sie keinen Zwillingswagen haben. Sonst könnten Sie demnächst beim nächsten „Strongman Contest“ auf DSF mitmachen.

  8. sushey sagt:

    Sehr schöner Text.
    War seltsam glücklich nach dem Lesen. :-)

  9. kvinna sagt:

    Ha! DIE Geschichte gäb‘ so ein tolles Bilderbuch ab!

  10. Lobo sagt:

    Man schaut morgens aus dem Fenster: Oha Schneefegen angesagt ! Man möchte ja nicht das die Kunden vor der Türe Salti schlagen.
    Also dicke Jacke an, nach unten gestürmt und entdeckt das meine lieben Angestellten schon alles weggefegt haben.
    Herrlich !
    Da fiel das Schneefegen bei meinen Eltern heute Mittag richtig leicht, ist ja auch nur halb soviel Fläche.

    Ja das wäre in der Tat eine schöne Bilderbuchgeschichte, schade nur das zur Zeit kaum Bilderbücher gekauft werden, wenn man von den Fernsehbilderbüchern wie Bob der Baumeister uä mal absieht.

    Irgendwie wirkt die Welt unter Schnee total entschleunigt, die Hektik muß weichen und man geht wieder zu Fuß.
    Es finden wieder Begegnungen statt, man merkt das es auch mal langsam geht. Vielleicht macht einen das seltsam glücklich.

    Vielleicht ist man aber auch nur froh nach der Sch..kälte wieder im Warmen zu sein. ;-)

  11. belljare sagt:

    Hach…wie schön! Trotz der widerigen schneebehafteten Umstände…als Ex-Ruhrpottlerin fühle ich mich jetzt ein wenig der alten Heimat näher! Gruß aus dem hohen Norden!

  12. Schöner Text, besonders der letzte Satz … diese weiße Landschaft überall hat aber auch was … übrigens … schön hamses hier, bin natürlich per Feed immer dabei seit ihrem Auszug bei Twoday

    1. Nessy sagt:

      Vielen Dank! Schön, dass Sie mitgezogen sind.

  13. Wer holt denn die korpulente Busfahrerin ab? Oder wartet sie lieber auf die Straßenbahn?

    1. Nessy sagt:

      Sie wartet auf den Abschleppwagen, der sie den Berg hinunterbremst. Bis dahin muss sie ausharren und von ihren Vorräten zehren.

  14. Frischluft bei einem Gruppenwanderevent hat irgendwie was befreiendes. Man atmet hinterher freier und fühlt sich gelöst und entspannt… Ist es nicht so? Laufen Sie jetzt jeden Tag zur Arbeit, Frau Nessy?

    1. Nessy sagt:

      Mmmh. 8 Kilometer sind ein bisschen lang. Es sei denn, ich jogge.
      Ich würde gerne Fahrrad fahren, aber bei diesem Wetter nehme ich davon Abstand.

  15. Barbara sagt:

    Ich mag kein Schnee. Höchstens zum ankucken von drinnen an Weihnachten. Aber sonst mit Sandalen ist das Scheisse.

    1. Nessy sagt:

      Sind Sie ganzjährige Sandalenträgerin?

    2. Barbara sagt:

      Ja. Weil ichs so will. Und nein, ich friere nicht.

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