Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Die Fliegenfängerin

21. 9. 2010 30 Kommentare Aus der Kategorie »Sippe«

Eins muss ich zur Erklärung vorwegschicken: Wir sind viele.

Meine Großmutter hatte neun Geschwister, die sich allesamt in solider Anzahl vermehrt haben. Ich habe also eine unzählbare Menge an Basen und Vettern, Großtanten und Großcousins – und um die Unübersichtlichkeit zu vervollständigen, geht es mit den Generationen auch noch drunter und drüber. Denn als meine Großmutter zur Welt kam, war sie bereits Tante – ihre älteste Schwester hatte schon ein Kind.

Das alles müssen Sie wissen, um sich eine Beerdigung im Kreise meiner Familie vorzustellen.

Vergangene Woche sagte meine Großtante zu sich und ihren Kindern: Es sei alles erledigt, sie könne jetzt sterben. Sie wartete, bis alle weg waren, dann schlief sie ein. Zwei Tage später wäre sie 97 Jahre alt geworden.

Meine Großtante war in vielerlei Hinsicht besonders. Als sie vor einigen Monaten das erste Mal in ihrem Leben in eine Klinik musste und man sie aufforderte, das Gebiss rauszunehmen und ihren Hausarzt zu nennen, hielt man sie für verstockt und dement – in Wirklichkeit aber hatte sie gar kein Gebiss und auch einen Hausarzt besaß sie nicht. Sie war einfach immer gesund gewesen: im Mund und überall sonst auch.

Zusätzlich zu ihrer legendären Gesundheit verfügte sie über eine spektakuläre Fähigkeit: Sie konnte Stubenfliegen mit der hohlen Hand fangen, egal ob sie auf dem Tisch saßen, an der Wand hingen oder durchs Zimmer flogen. Sie hatte dafür verschiedene Techniken entwickelt, die sie ansatzlos aus dem Handgelenk verwirklichte. Hatte sie eine Fliege erwischt, lauschten wir Kinder gebannt an ihrer Faust, in der es surrte und summte. Dann ließ sie die Fliege frei, um sie erneut zu fangen. Es war fabelhaft.

Wir hatten sie außerdem lieb, weil sie sich immer bekleckerte. Ihr Sohn pflegte zu sagen, er werde bald ein Bettlaken mit sich führen, durch das sie ihren Kopf stecken müsse, damit nicht so viel Wäsche anfalle. Einmal schaffte sie es, sich einen ganzen Nachmittag lang nicht zu bekleckern – kein Kaffee tropfte auf die Bluse, kein Ärmel blieb in der Sahne hängen. Doch beim Abendessen geschah es: Ihr Enkel zerdrückte eine Kartoffel in der Soße, die Kartoffel flutschte unter der Gabel hinfort mitten auf des Großtantes Rock – was ein Spaß!

Heute also haben wir sie beerdigt. Die Familie war beisammen, die Cousins und Cousinen und Großcousins und Großcousinen und Enkel und Urenkel und noch mehr Leute, die mich zwar beim Namen nannten, deren Gesicht ich jedoch nicht erinnerte, kamen ins Dorf. Wir weinten und lachten, aßen Schnittchen und Teilchen, und der Urenkel klopfte nochmal am Sarg an, um zu hören, ob die Omama auch wirklich tot ist. Natürlich erzählten wir uns vom Kleckern und vom Fliegenfangen, von ihrem Obstgarten und ihrem Wunsch, immer draußen zu sein an der frischen Luft. So kommen wir immer nur zusammen, wenn einer stirbt.

Das nächste Mal wird allerdings anders. Meine Großtante war die letzte ihrer Generation; nun sind als nächstes unsere Eltern und Tanten dran.

Das macht ein bisschen Angst.

Kommentare

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  1. creezy sagt:

    Ein wunderschöner Nachruf! Großtante freut sich bestimmt sehr darüber auf ihrem Stern! ,-)

  2. Kann ich verstehen. Diese Schwelle hat meine Familie auch schon eine Weile überschritten. Ein wirklich beängstigendes Gefühl…

  3. AnjinSan sagt:

    Das sind sehr schöne erinnerungen, die sollten für immer im herzen sein.
    doch auch trauer sollte jetzt da sein.

    1. Nessy sagt:

      Trauern können wir/kann ich. Das läuft prima. Irgendwie entwickelt man mit der Zeit auch seinen Weg.

  4. Zaphod sagt:

    Schöner Nachruf, hat mich an meine Oma erinnert, die konnte das auch, Fliegen mit der Hand fangen. Da kommt dann auch gleich wieder ein ganzer Haufen an schönen Erinnerungen hoch.
    Schade, dass man die so schlecht an die nächsten Generationen weitergeben kann, aber dafür hinterlässt man dann ja andere, hoffentlich ebenso schöne. Nur Fliegen mit der Hand fangen, dass hab ich nie gelernt.

    1. Nessy sagt:

      Die nächste Generation interessiert sich leider immer nur bedingt für die alten Kamellen, auch wenn ich sie selbst gut leiden mag. Ich mag dieses Erzählkaffeetrinken, wo all die Geschichten von früher auf den Tisch kommen.

  5. apunkt sagt:

    Sehr schön geschrieben. Meine Oma konnte das auch, das mit dem Bekleckern und so. Letztes Jahr haben wir sie beerdigt. Irgendwie ist sie jedesmal dabei, wenn sich unsere Kleine beim Essen bekleckert.

    1. Nessy sagt:

      Die Tante ist schon immer dabei, wenn ich mich bekleckere – und das ist reichlich oft, dazu braucht’s nichtmal ein Kind.

  6. Das hast du ganz toll beschrieben.
    Gefäält mir!!
    LG sweetkoffie

  7. Birgit sagt:

    Wirklich ein wunderschöner Nachruf – und erinnert mich ganz stark an Beerdiungen in unserem Familienkreis. Auch hier immer das Erinnern im Vordergrund (natürlich auch das Trauern):

    Fliegen fangen mit der hohlen Hand konnte bei uns übrigens nur mein Großvater….

    1. Nessy sagt:

      Es scheint eine Generation zu geben, die die Fähigkeit, Fliegen mit der Hand zu fangen, systematisiert hat(@Zaphod).

  8. „Basen und Vettern“ — sagt man heutzutage noch Basen? (ausser im chemischen Sinne)?

    1. Wenn man es nicht tut, kann man ja ruhig wieder damit anfangen. :)

    2. Nessy sagt:

      Das hier ist das Blog der eingeschlafenen Wörter.

  9. Rinjah sagt:

    Mein Opa wurde vor einer Weile im Krankenhaus auch aufgefordert sein Gebiss rauszunehmen.
    „Wenn sie mir bitte ein Hämmerchen dafür bringen würden?“ war seine Reaktion.
    Inzwischen lässt er leider immer mehr nach. Ich bin froh, dass wir letztes Wochenende zusammen kamen um seinen 55. Hochzeitstag zu feiern. Ein viel schönerer Anlass, wie ich finde.

    1. Nessy sagt:

      Oh ja! Lebt denn die zugehörige Ehefrau auch noch?

    2. Rinjah sagt:

      Jap. Und die ist auchnoch Topfit und in Form.

  10. Raine sagt:

    Ja, die Angst kenn ich. Ich mag auch gar nicht weiter darüber nachdenken.

  11. Das ist so so so… ach, mir kam ein bißchen Pipi in die Augen, so war das!

    Danke für den schönen Text und herzlichen Glückwunsch, dass Sie Teil eines großartig gelebten Lebens sein durften – zumindest klingt es so.

  12. Blogolade sagt:

    Ein wunderbarer Nachruf,
    Ich mag gar nicht darüber nachdenken, dass meine Ommma ja auch nicht mehr die jüngste ist.

  13. sushey sagt:

    Eine schöne Geschichte.
    Mein Opa – gottseidank lebt er noch! – kann Fliegen zwar nicht mit der Hand fangen – aber wenn sie irgendwo sitzen, kann er seinen Zeigefinger so langsam bewegen, dass er sie zwischen Finger und jeweiligem Untergrund einklemmen kann…

  14. Wolfram sagt:

    Damit die Sippe nicht immer nur zum Leichenkaffee zusammenkommt, hatten wir seinerzeit beschlossen, zur Konfirmation alle (!) einzuladen. War ein Riesenfest – und eine riesige Idee, denn schon zwei Jahre später war meine Oma nicht mehr dabei (weil im Krankenhaus).
    Andere Anlässe sind Hochzeiten oder Taufen, die dann auch noch zumindest im Leben einiger Enkel öfter vorkommen als die Beerdigung, bei der man dann noch mal im Mittelpunkt steht… äh, liegt.

  15. Elena sagt:

    Ich bin erst vor kurzer Zeit auf Deinen Blog gestoßen; schade! Denn ich möchte Dir mitteilen, daß ich dankbar bin für die Begebenheiten und Geschichten, an denen Du uns, also die LeserInnen teilhaben läßt.
    Deine Art zu schreiben mag ich sehr; und ich freue mich auf Neues – zum Nachdenken; zum Bedachtnehmen; zum Schmunzeln, je nachdem..

    Dankeschön!

    LG E.

  16. mia sagt:

    meine oma konnte zwar keine fliegen mit der hand fangen, aber sie war schneller als lucky luke, wenn man ihr eine fliegenklatsche gab …

  17. Dompteuse sagt:

    Bei uns trifft sich die ganze Sippschaft zweimal im Jahr, eben um zu verhindern, dass man sich nur noch bei Beerdigungen sieht. Fliegen mit der Hand fangen kann mein Mann ganz klasse – keine Ahnung, wie er das macht. Dafür kann er nicht pfeifen ;-)

  18. SusiP sagt:

    Richtig schön geschrieben. *dickenKlossimHals*

  19. Lobo sagt:

    Schön ge(um)schrieben !

    Ich bin ein bisschen neidisch, denn meine Familie ist recht überschaubar und von den Wenigen, sind auch noch einige nach Kanada ausgewandert.

    Wahrscheinlich idealisiert man nur das, was man nicht hat aber immer wenn ich sowas lese, seufze ich innerlich.

  20. Nihilistin sagt:

    Dann sitzt vermutlich meine Oma auf der Wolke neben Ihrer Großtante und kann fröhlich auf Ostpreußisch vor sich hinkrähen: „Hatt se sich beklackert mit det Jallebe von det Eei, dat Ferkel dat“. Meine bei jedem Sich-Bekleckern sofort aufschiessende Oma-Erinnerung.
    Ich glaube, die beiden werden sich gut verstehen da oben.

  21. tina sagt:

    den verdacht, dass eine ganze generation von fliegenfaengern existiert, hege auch ich. meine oma kann das ebenfalls.

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